Vera Lourié: Briefe an dich – Erinnerungen an das russische Berlin
herausgegeben von Doris Liebermann
Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2014
261 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, gebunden, 22,95 EUR
Splitter eines zweifach dramatischen Lebens
Vera Lourié kam 1921 mit 20 Jahren aus dem russischen Petrograd nach Berlin - und wurde Teil der Szene von Künstlern wie Chagall, Nabokov und Pasternak. Ihre Memoiren spiegeln das kollektive historische Drama der Nazizeit und das individuelle Drama der Liebe.
Mit dem Mauerfall ist, nur leicht emphatisch übertrieben, auch das "russische Berlin" wieder auferstanden. Rote Armee und Sowjetmacht sind seit 20 Jahren weg, seit 25 Jahren zieht es andere Bürger der Ex-UdSSR in die Stadt – jüdische wie nicht-jüdische Exilanten, Geschäftsleute, Künstler haben "Bock auf Berlin". Jedenfalls mehr als auf eine mafiös gelenkte Demokratie. Ob es wieder so viele sind wie nach der Oktoberrevolution – wer weiß das? Auch die gern zitierten damaligen 300.000 Russen entstammen keiner Volkszählung.
Vera Lourié war eine von ihnen. 1921 kommt sie zwanzigjährig aus Petrograd – wie St. Petersburg inzwischen heißt – mit Eltern und Geschwistern nach Berlin. Die wohlbehütete Kindheit – der Vater Ossip Lur'e ist Arzt, wohlhabend, evangelisch getauft, man hat eine Theaterloge, Kindermädchen, Gouvernante und Privatlehrer, man spricht Französisch und reist zur Kur nach Deutschland – hat sie da längst hinter sich, auch die Pubertät zwischen Weltkrieg und Revolution. "Wir heranwachsenden Mädchen standen wie auf der Schnittstelle zweier Epochen, der untergehenden und der aufkommenden. In uns war eine Mischung aus Romantik und sehr kühnem Realismus", schreibt sie später. Sie hält sich an eine Gedichtzeile: "Ich möchte frech, ich möchte tapfer sein…", und wird Teil der urbanen Bohème um Gumiljow, Achmatowa, Mandelstam. Der jedoch dreht die Leninsche "Kultur"-Politik rasch die Luft zum Atmen ab.
Mit Chuzpe und viel Talent zum Flunkern
In Berlin tummeln sich bald berühmte und berühmt-werdende Künstler wie Chagall, Lissitzky, Nabokov, Pasternak, Zwetajewa, Ehrenburg, Belyj. Man trifft sich in Cafés und bei Künstlerfeten, schreibt für Exilzeitungen. Blühendes Leben zwischen Geldmangel, Zänkereien und unbändiger Kreativität, nicht nur in "Charlottograd". Mittendrin Vera Lourié, die sich als Dichterin sieht und Journalistin wird. Dann kommt die Nazizeit. Der Vater stirbt 1936, Bruder und Schwester können fliehen, Vera bleibt bei der Mutter, die als Jüdin nicht mehr rauskommt. Sie selbst gilt als Mischling, nennt sich "hugenottisch" um in Lourié und – überlebt alles: ständige Bedrohung samt "Schutzhaft", Krieg und Nachkrieg unter der Roten Armee. Mit halsbrecherischer Chuzpe und viel Talent zum Flunkern.
Gut 140 Druckseiten umfassen ihre Erinnerungen. Doris Liebermann hat sie liebevoll und kenntnisreich eingeleitet und ergänzt und um Stories und Gedichte sowie ein ordnendes Personenregister erweitert. Denn Vera Lourié – ganz freie Dichterin – schreibt nicht chronologisch oder sonstwie "aufgeräumt". Sie schreibt: Liebesbriefe! Aus schmerzhaft unerfüllter Liebe zu einer jüngeren Frau.
So sind ihre Memoiren funkelnde Splitter eines zweifach dramatischen Lebens. Sie spiegeln nicht nur das kollektive historische Drama, sie setzen ein individuelles Drama dagegen: Liebe. Welches die tieferen Wunden reißt – wer weiß das? Für die 80-jährige Vera Lourié scheint die Antwort klar. Künstlerischer Trost dafür bleibt ihr verwehrt. Sie stirbt 1998, ihr letztes Werk kommt erst sechzehn Jahre später ans Licht der Welt.