Geschichtsbücher provozieren in Moskau
Die Menschenrechtsorganisation "Memorial" zeigt in einer Ausstellung in Moskau Geschichtsbücher zum Zweiten Weltkrieg. So stehen sich Sichtweisen aus Russland, Polen, Litauen, Deutschland, Italien und Tschechien gegenüber. Ein heikles Projekt, obwohl die Macher sich bei der Vorbereitung schon selbst zensiert haben.
Noch kurz vor der Ausstellungseröffnung hatten die Macher diskutiert, ob man die Hakenkreuze auf den historischen Fotos lassen dürfe. In Russland ist es verboten, extremistische Symbole in der Öffentlichkeit zu zeigen. Sie haben sich entschieden, an den historischen Fotos nichts zu ändern. Anders beim Massaker von Katyn. In Katyn haben im Frühjahr 1940 Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes etwa 4400 polnische Soldaten ermordet, befohlen von Stalin. So deutlich könne er das in Russland nicht zeigen, sagt der 30-jährige Historiker Nikita Lomakin, der auf russischer Seite an der Ausstellung mitgewirkt hat:
"Es gibt bei uns ein sehr komisches Geschichtsbuch. Da kannst du lesen, wie sie die Tötung polnischer Offiziere in Katyn damit rechtfertigen, dass Polen Anfang der 20er Jahre im polnisch-sowjetischen Krieg sowjetische Soldaten ermordet haben."
Der Historiker hat die Darstellung des Massakers von Katyn daher abgemildert. Und er gibt zu: "Ja, das ist Selbstzensur."
Die Sowjetunion als Täter - das wird lieber verschwiegen
Lomakin koordiniert sonst die Digitalisierung des Archivs von Memorial und dessen Präsentation im Internet. Auch Kristina Smolijaninovaite, Historikerin aus Litauen und Mitarbeiterin des zivilgesellschaftlichen EU-Russland Forums, hat sich für die Ausstellung zurückgenommen und ihren Begleittext abgemildert:
"Ich muss auf meine russischen Kollegen Rücksicht nehmen. Es gibt bei uns in Litauen Bücher, in denen wird gesagt, dass die Sowjetunion und Stalin auch Täter waren. Das sind starke Worte. Ich würde das nicht Selbstzensur nennen, es ist eher vorsichtig, denn in Russland ist das Hauptnarrativ immer noch der "Grosse Vaterländische Krieg". Und darauf baut die kollektive Erinnerung in Russland auf. Für Russland ist das immer noch ein heiliger Krieg, über den man keine "schmutzigen" Bemerkungen machen kann."
Trotzdem: Dem russischen Staatsfernsehen ist die Ausstellung auch in der abgemilderten Version noch zu viel. Es präsentierte die Schau als einen "weiteren Versuch" die "Geschichte umzuschreiben". Ausführlich verwies der Fernsehmoderator darauf, dass Memorial auf der Liste feindlicher Agenten stehe und viel Geld aus dem Ausland erhalte. Besonders schlimm fand er aber, dass Europa nun schon in Moskau - Zitat - "nackte Propaganda" betreibe, und das so kurz vor dem neunten Mai, dem Tag des großen Sieges im Zweiten Weltkrieg.
Doch nicht nur Organisationen wie Memorial müssen den Sturm der öffentlichen Entrüstung über sich ergehen lassen, selbst Staatshistoriker können in Russland nicht mehr die Wahrheit sagen.
Angst vor Tumulten in der russischen Provinz
In russischen Geschichtsbüchern findet sich die Legende der 28 Panfilow-Infanteristen. Angeblich haben sie im November 1941 die deutschen Panzer vor Moskau gestoppt. Vor kurzem enttarnte der Direktor des russischen Staatsarchivs, Sergej Mironenko, das Ganze als eine Fiktion. Umgehend wurde er von Kulturminister Medinski degradiert. Dabei hatte bereits 1948 der sowjetische Militärstaatsanwalt die Propagandalegende von den 28 Soldaten widerlegt, und da lebte Stalin noch und die Diktatur war lupenrein. Die Schulbuch-Ausstellung wird durch Russland reisen, nach Jekaterinburg, Kostroma, Perm, Sankt Petersburg und Jaroslawl. In der Provinz ängstigen sich die Aussteller jetzt schon, erzählt Nikita Lomakin:
"Hier in Moskau ist das Klima viel besser als in Kostrama oder Perm. Dort haben sie Angst vor komischen Aktivisten von Proregierungsorganisationen. Nicht Proregierungsorganisationen. Aber am Ende dann doch Proregierungsorganisationen."
In Russland ist es in den vergangenen Jahren üblich geworden, Ausstellungen zu sprengen, Filme nieder zu brüllen und damit Volkszorn zu suggerieren. Von deutscher Seite hat Gudrun Wolff an der Ausstellung mitgearbeitet. Sie hätte gern auch einen Historiker aus der Ukraine dabei gehabt. Dass ukrainische Sichtweisen zurzeit für den russischen Staatsapparat unerträglich sind, versteht sich fast von selbst. Wolff ist Geschichtslehrerin in Münster und engagiert sich bei der Gesellschaft zur Förderung deutsch-russischer Beziehungen:
"Wenn man ein gemeinsames Europa haben möchte, eine gemeinsame europäische Identität entwickeln möchte, dann muss man auch die Geschichte und die historischen Perspektiven der Nachbarländer kennen."
Nur genau das möchte die russische Regierung auf gar keinen Fall.