Bürgerrechtsgruppe Memorial vor Gericht
Der russische Präsident Wladimir Putin schaut auf ein Banner aus der Zeit der Sowjetunion, auf der Lenin und Stalin zu sehen sind. © picture alliance / AP / Alexei Nikolsky
Aufklärung über Massenverbrechen unerwünscht
08:53 Minuten
Über die Repressionen in der ehemaligen Sowjetunion aufzuklären, darum geht es der russischen Bürgerrechtsgruppe Memorial. Die offizielle Geschichtspolitik setzt dagegen auf Verdrängung. Nun droht der Menschenrechtsorganisation vor Gericht das Aus.
Memorial gilt als eine der wichtigsten Bürgerrechtsgruppen Russlands. Doch der Menschenrechtsorganisation droht das Aus durch den obersten Gerichtshof in Moskau. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat die Auflösung der 1987 gegründeten Gesellschaft beantragt, weil sie angeblich gegen Gesetze verstoßen habe. Memorial hat in den drei Jahrzehnten viel geleistet, um die stalinistische Vergangenheit aufzuarbeiten und die Menschenrechte zu schützen.
„Das ist kein fairer Prozess“, sagt Irina Scherbakowa, Historikerin und Gründungsmitglied von Memorial. Sie hat sich Jahrzehnte dafür eingesetzt, über die Repressionspolitik in der ehemaligen Sowjetunion aufzuklären. Die Publizistin, Übersetzerin und Historikerin und hat schon in den 70er-Jahren begonnen, Tonbandinterviews mit Opfern des Stalinismus zu sammeln und in den Archiven des KGB zu forschen.
Scherbakowa: „Die Taktik ist Verlängerung“
Sie geht nicht davon aus, dass sehr bald ein Urteil gesprochen wird. „Die Taktik ist Verlängerung“, sagt sie, um die Unterstützung, die die Organisation durch die Bevölkerung und auch im Ausland erfährt, erlahmen zu lassen. Sollte das Verbot irgendwann kommen, würde das die Arbeit Memorials jedoch enorm erschweren, auch wenn dahinter ein horizontales Netzwerk stecke. „Deshalb haben wir eigentlich bis heute existiert“, sagt Scherbakowa, „und ich hoffe sehr, dass man nicht alles liquidieren kann und wir arbeiten, solange wie wir es können.“
Politik verdrängt Erinnerung an Verbrechen Stalins
Die Erinnerungskultur in Russland beleuchtet das Heldentum, aber die Verbrechen Stalins? „Von der offiziellen Seite wurde vieles getan in diesem Jahr, um diese Erinnerung in der Geschichtspolitik zu verdrängen“, sagt Scherbakowa. Es sei ein Massenterror gewesen, den Millionen von Familien erlebt hätten. Die Erinnerung daran erwache in der neuen Generation wieder stärker. „Und je stärker der Druck und die Verbote, das weiß man auch aus den alten Zeiten, desto mehr werden vor allem junge Menschen wissen wollen.“
Zukunftsperspektive durch Aufarbeitung
Ende der 90er-Jahre oder Anfang der Nullerjahre sei diese Verdrängung noch stärker gewesen, glaubt Scherbakowa. „Wenn man versucht, aus der Geschichte und aus bestimmten Mythen der Geschichte oder sogar aus den echten Siegen eine Ideologie aufzubauen und keine wirkliche Erinnerung, kann das erstens nicht lange dauern, und zweitens hat das überhaupt keine Zukunftsperspektive für junge Menschen. Eine Aufarbeitung, eine Forschung ja, aber nicht dieses ständige Beschwören von alten Mythen.“
(cwu)