Mensch, Erde, All

Von Susanne von Schenck |
Der Lyriker Jochen Winter lebt seit 22 Jahren auf dem Pariser Montmartre, doch die Stadt spielt in seinen Gedichten keine Rolle. Dem Ernst-Meister-Preisträger geht es um die Verbindungslinien zwischen Mensch, Natur und Kosmos. Vom literarischen Mainstream hält er sich fern.
"Oui, c’est pittoresque,", findet Jochen Winter und schlendert von der malerischen Place des Abesses auf dem Pariser Montmartre zum Bateau Lavoir, in dem einst Picasso seine ersten kubistischen Gemälde schuf. Seit 22 Jahren lebt der Wahlpariser in diesem Viertel - ein deutscher Dichter aus Schwetzingen.

"Also Paris übt auf mich nach wie vor eine starke Faszination aus, weil Paris ist für mich, vor allem hier auf dem Montmartre, wirklich die Stadt des Lichts, des Eros, auch eines Versprechens."

Jochen Winter ist ein großer, kräftiger Mann mit vollen, braunen Haaren, die über den weißen Hemdkragen fallen. Man spürt: Der Dichter ist hier zu Hause.

"Wir sind hier in der Rue de Ravignan und steigen jetzt etwas höher, und hier rechts geht die Rue des Trois Frères ab, in der ich wohne, unter dem Dach."

Er steigt hinauf in eine kleine Zweizimmerwohnung. Hier lebt er, seine Lebensgefährtin und die 15-jährige Tochter wohnen in einem anderen Pariser Stadtviertel. Vom Küchenfenster aus fällt der Blick auf Sacre Coeur, ein Bild von Friedrich Hölderlin steht im Regal, im Arbeitszimmer stapeln sich Bücher und Papiere.

Aber dennoch hat der 56-Jährige hier kein einziges Gedicht verfasst. Die heutige Großstadt sei kein lyrisches Thema mehr, sondern ein soziales. Seine Gedichte entstehen in der Natur.

Nachthimmel
Flimmernde Deichsel des Großen Wagens, entstiegen
Unsrem scharf begrenzten Horizont:

Sterne, jenseits von Leben, Toden, der Wirrnis und
Allen Wissens – die Treue, nie brechbar.


Mit dreizehn Jahren verfasst Jochen Winter seine ersten Texte – in Berlin, wohin die Familie von Schwetzingen gezogen ist. Schon früh weiß er, dass er schreiben will.

"Es ist eine Notwendigkeit, die derjenige verspürt, der sich zu diesem Beruf hingezogen fühlt."

Nach einem kurzen Aufenthalt in England studiert Jochen Winter politische Wissenschaften, Literatur und Philosophie in München. Dort schließt er sich einer Theatergruppe an. Bei den Proben taucht immer wieder ein Mann auf, der zu den prägendsten Menschen seines Lebens gehört: der Dramatiker und Regisseur George Tabori.

"Ich habe dann zwei Jahre mit ihm gearbeitet als Schauspieler, nicht, weil ich Schauspieler werden wollte, sondern weil mich die Methode Taboris sehr interessiert hat, die Methode des Actor's Studio. Es ist die Methode, die darauf abzieht, den inneren Menschen zu meißeln, herauszuarbeiten. "

Und da unterbricht der damals 23-Jährige zwischenzeitlich sein Studium, zieht mit Taboris Truppe umher, sammelt Erfahrungen, die später in seine Gedichte einfließen.

Man hört Jochen Winter gern zu und spürt: Die Sprache ist seine Heimat, seine Sätze sind rhythmisch wie seine Gedichte.

Ein Vielschreiber ist er allerdings nicht. Gerade mal drei schmale, hochgelobte Bände hat der Einzelgänger in knapp 30 Jahren verfasst – mit so poetischen Titeln wie "Die diamantene Stunde" oder "Die Inschrift der Erde". Und "Spuren im Unermesslichen" heißt der letzte Band vom vergangenen Herbst. Er entstand auf dem Ätna. Zweimal im Jahr reist Jochen Winter dorthin und lebt dann in dem kleinen Dorf Sant' Alfio am Osthang des Berges.

"Ich lebe auf dem Magma, aus dem wir letztlich alle entstanden sind und es ist das gleiche Magma, das in den Sternen ist. Und die Verbindung, nach der die Gedichte streben, zwischen Mensch, Erde und All, ist auf dem Ätna gleichsam von selbst gegeben."

Lavastein
Träger stellarer Materie, magnetischer
Kräfte, am irdischen Feld orientiert, dem
Herz des Planeten entstiegenes Magma –

Zeugnis, dass gilt dies Gesetz, unverbrüchlich, der
Rhythmische Übergang vom Fließen, das mählich
Erstarrt, zum Zerfallen in fruchtbare Asche


Ein Gedicht ist etwas Kostbares, sagt Jochen Winter, der lange an seinen Texten arbeitet. Sein lyrisches Ich tritt dabei hinter der Natur zurück.

"Selbst ein Baum ist eigentlich ein unermesslicher Körper, wir können ihn nicht wirklich erfassen. Auch wenn wir die Vorgänge wissenschaftlich biologisch beschreiben können - aber letztlich ist jeder Gegenstand ein großes Geheimnis, er ist unermesslichen, vor diesem Unermesslichen des Universums selbst."

Vom literarischen Mainstream hält Jochen Winter sich fern, mit einer – so scheint es jedenfalls - inneren Ruhe, wissend, dass er mit seiner Suche nach den Verbindungslinien zwischen Mensch, Natur und Kosmos immer ein Stückchen weiterkommt.

Jochen Winters Gedichtbände "Die diamantene Stunde", "Die Inschrift der Erde" und "Spuren im Unermesslichen" sind im Agora Verlag, Berlin,erschienen.
Wanderer besteigen den Ätna auf Sizilien.
Der Ätna auf Sizilien - er inspiriert Jochen Winter zu Gedichten.© Barbara Wiedemann