Menschliche Natur

Die Tücken des Sozialen

Zwei Menschen sind von hinten zu sehen. Ihr rotes und schwarzes Haar ist miteinander zu einem Zopf geflochten.
Menschen sind hypersoziale Wesen, meint die Philosophin Gesine Palmer. Das hat unsere Spezies weit gebracht, aber es birgt auch Gefahren. © Getty Images / Delmaine Donson
Ein Einwurf von Gesine Palmer |
Menschen sind hypersoziale Wesen, sagen Forscher. Fairplay, Hilfsbereitschaft und Teamfähigkeit - alles genetisch angelegt. Doch zu viel Harmonie schafft auch Probleme, meint die Philosophin Gesine Palmer. Denn ein Kollektiv kann sich auch verrennen.
Eigentlich ist alles super: Hatte man über Jahrhunderte mit Thomas Hobbes und anderen angenommen, dass die Menschen sich zueinander wie Fressfeinde betragen, weil das nun einmal ihre Natur sei, stellt die moderne Wissenschaft klar: Das Gegenteil ist der Fall. Menschen sind, wie Michael Tomasello und mit ihm weitere Forscher behaupten, ultra- oder hypersozial.
Gerade in ihren sozialen Kompetenzen sind sie noch ihren nächsten Verwandten, den größeren Affen, weit überlegen. Sie kommunizieren von früh an sehr viel intensiver als diese, sie machen sich ein Bild von dem, was die anderen wollen, sie arbeiten mit verteilten Rollen an gemeinsamen Projekten, deren Abschluss ihnen regelmäßig wichtiger ist als der je eigene Vorteil. Fairplay, vertrauensvolle Zusammenarbeit und gerechte Verteilung der Belohnungen, alles genetisch angelegt.

Erfolgreich durch hypersoziales Verhalten

Mich wundert das tatsächlich nicht besonders. Sieht man nicht immer wieder unglaubliche Hilfsbereitschaft in Notlagen? Menschen, die in Flutkatastrophen anderen selbstlos helfen, in Zeiten der Pandemie schnell Impf- und Versorgungsstrukturen hochfahren, und für Geflüchtete zusammenrücken? Dies alles tun viele nach meinem Eindruck nicht aus Zwang. Vielmehr macht es sie offensichtlich auf nahezu körperlich greifbare Weise glücklich.
Und ist es nicht richtig, was diese neue Richtung der Anthropologie beobachtet, dass die Menschen es gerade durch ihr hypersoziales Verhalten zur weltweit erfolgreichsten Tierart gebracht hat? Dieser Erfolg ist tatsächlich nicht zu übersehen. Die Masse der in großartiger menschlicher Kollaboration hergestellten Bauwerke und Strukturen auf der Erde übersteigt seit 2020 die Biomasse. Davon kann der beste Termitenstaat nur träumen.

Mit Sozialerziehung gegen Egoismus

Freilich – genau diese letzte Tatsache, unsere grandiose Fähigkeit, den Planeten mit uns und unseren Produkten zu überlasten – stellt zurzeit die größte kollektive Lernaufgabe in Sachen Fairplay dar. Und vielleicht ist es gerade unsere ausgezeichnete Hypersozialität, die uns hier behindert? Das wäre mal eine (kontraintuitive) neue Erkenntnis.
Gewohnheitsmäßig nehmen wir ja an, dass Menschen alles, was sie so an Schlechtem tun, deswegen tun, weil es sie individuell glücklich mache, ihnen einen Vorteil gegenüber anderen verschaffe etc., weil sie, mit anderen Worten, nicht sozial sind. Wo Egoismus das Problem ist, erscheint Sozialerziehung als die Lösung.
Wir denken dann, die Menschen müssten weniger an sich und mehr an das Wohl der Gemeinschaft denken. Dann würden sie geschlossen und konstruktiv am Weltfrieden und an der Rettung des Planeten arbeiten. Sie würden dann immer so zusammenhalten wie jetzt nur in Notlagen.

Belehrungen, sich fair zu verhalten

Tatsächlich gibt es die ganze Menschheitsgeschichte hindurch immer wieder mahnende Stimmen, die den verlotterten jeweiligen Zeitgenossen eine ernste Katastrophe an den Hals wünschen, damit sie sich endlich darauf besinnen, was wirklich nottut: Zusammenhalt statt Spaltung usw.
Denn auch das gehört zur genetisch angelegten menschlichen Hypersozialität: Wir belehren einander gern, mahnen Verhaltensänderungen an, wo jemand aus der Gemeinschaft ausschert und die Regeln des Fairplay offenkundig verletzt. Auf diese Weise korrigieren wir einander und uns selbst beständig, was auch ganz wesentlich zu unserem beträchtlichen Gattungserfolg beigetragen haben soll.

Andersdenkende als Stachel

Es hat aber immer auch diejenigen gegeben, die – mit Immanuel Kant – gerade in der ungeselligen Geselligkeit der Menschen die eigentliche List der Natur entdeckt haben. Zu viel und zu harmonische Geselligkeit, gar etwas wie der Gemeinschaftsrausch in Notlagen, lässt die zweite Naturkraft, die Kant den „Antagonism“ nennt, verarmen. Und dann verrennt sich das Kollektiv, gerade weil niemand mehr gegen den Stachel löckt. Es löst ein Problem gemeinschaftlich – und erschafft zwei neue.
Gut, wenn dann noch Andersdenkende da sind, die sich durch keine „Spaltungspanik“ und keine Strafisolation davon abhalten ließen, zum Beispiel vor der Überlastung des Planeten durch menschliche Bauwerke oder vor der Verödung menschlicher Kultur durch allzu einheitliche Gesinnungspolitik zu warnen. Erst durch ihr notfalls gegen alle anderen durchgehaltenes Gewissen wird die hypersoziale Menschengemeinschaft wieder in die erfolgversprechende Balance gebracht: hoffentlich auch in den gegenwärtigen Problemlagen.

Gesine Palmer, geboren 1960, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das „Büro für besondere Texte“ und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihre Themen sind Religion, Psychologie und Ethik.

Porträtaufnahme der Religionsphilosophin Gesine Palmer
© Gaëlle de Radiguès
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