Menschen auf Demos

So werden die Teilnehmerzahlen erhoben

09:34 Minuten
Teilnehmer der Demonstration gegen die Corona-Auflagen am 1.08.2020 in Berlin in der Nähe des U-Bahnhofs Friedrichstraße.
emonstration gegen die Corona-Auflagen am 1. August 2020 in Berlin. Die Zahl der Teilnehmer wurde mal mit 20.000, mal mit 1,3 Millionen angegeben. © Stefan Zeitz / imago-images
Stephan Poppe im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 05.08.2020
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Wie viele Menschen befinden sich bei einer Demonstration in der Menge? Die Antwort werde auf Basis von Stichproben geschätzt, sagt der Statistiker Stephan Poppe. Die Fehlerquote liege bei bis zu 30 Prozent.
Liane von Billerbeck: Waren es nun 20.000 oder 1,3 Millionen Menschen, die am Samstag in Berlin demonstriert haben? Oder wie viele Menschen waren bei Donald Trumps Amtseinführung? Oder wie viele standen am 4. November ’89 auf dem Berliner Alexanderplatz – 400.000 oder eine Million gegen die DDR-Führung? Zahlen sind politisch. Was steckt hinter dem Kampf um die große Zahl? Und wie misst man eigentlich so viele Menschen auf so engem Raum?
Stephan Poppe ist wissenschaftlicher Leiter der Forschungsgruppe "Durchgezählt" und Fachmann für Statistik am Institut für Soziologie der Uni Leipzig. 20.000 Demonstranten seien es am Samstag, sagte die Berliner Polizei, 1,3 Millionen schallte es aus den Demonstrations-Tweets. Herr Poppe, haben Sie solch gravierenden Unterschiede schon mal auf dem Tisch gehabt?
Stephan Poppe: Diese Spanne tatsächlich noch gar nicht. Da reden wir ja wirklich über zwei Größenordnungen. Aber dass wir einen Unterschied haben – die einen sagen 50.000 und die anderen 300.000 – ist schon durchaus normal.
von Billerbeck: Wie viel waren es denn nun am Samstag?
Poppe: Ja, das wüsste jeder gerne. Ich kann’s nicht sagen, ich habe kein eigenes Material erhoben. Ich habe nur Videos von Demo-Aufzügen und auch ein paar Überblicksbilder gesehen. Aber für mich ist die Datenlage zu schwach. Ich denke auch, dass es mehr als 20.000 waren, aber es waren definitiv keine 1,3 Millionen. Das kann man ausschließen.
von Billerbeck: Sehr salomonische Antwort. Wie zählen Sie denn normalerweise so viele Menschen auf so engem Raum? Wie macht man das? Die Polizei hat gesagt, dass sie ist mit Hubschraubern geflogen ist und an der Strecke gezählt hat. Wie machen Sie das?

Behörden arbeiten mit der Reihenzählmethode

Poppe: Zählen kann man natürlich nicht jeden. Aber das wäre natürlich die allerbeste Methode. Man kann natürlich solche Gatter aufstellen, wo jeder durchläuft, aber das würde die Demo ja behindern.
Bei so einer großen Demo gibt es zwei Möglichkeiten: Wenn sich die Leute auf einem großen Platz versammeln und da eine Abschluss- oder Anfangskundgebung haben, dann kann zum Beispiel die Fläche ausmessen. Sagen wir mal, 100.000 Quadratmeter bedeckt die Menschenmenge. Und wenn wir das dann mit einer Dichte multiplizieren, die wir auch schätzen müssen, sagen wir 1,5, dann wissen wir, dass es 150.000 sind. Das geht dann, wenn die Menschen wirklich stehen.
In aller Regel gibt es aber noch einen Demo-Zug. Das ist auch sehr gut. Dann kann man sich an den Rand stellen und den Demo-Zug an sich vorbeiziehen lassen. Da gibt es dann verschiedene Möglichkeiten zu schätzen. Eine Möglichkeit ist die Reihenzählmethode: Man zählt halt, wie viele Reihen an Menschen vorbeiziehen und multipliziert das dann wieder mit einer Schätzung, wie viele Menschen pro Reihe laufen. Das machen die Behörden oft so.
Diese Methode ist nicht ganz zuverlässig, deswegen versuchen wir dann eher, wirklich direkt zu zählen. Das machen wir dann mit solchen Klickern und versuchen dann durch eine Art Stichprobe hochzurechnen, wie viele Menschen es dann tatsächlich waren, die an einem vorbeigezogen sind.
von Billerbeck: Abschätzung und Stichproben, da weiß man, da ist immer eine gewisse Karenz drin. Wie hoch ist denn der Messfehler?
Poppe: Die Messfehler liegen in der Größenordnung von 20 bis 30 Prozent.
von Billerbeck: Das ist eine Menge.
Poppe: Eine Menge, ja. Aber man muss dazu auch sagen: Vorher war auch gar nicht bekannt, wie groß der Messfehler ist. Wir hatten auch anfänglich gedacht, dass er kleiner sein könnte, wenn man noch genauer, noch präziser arbeitet. Aber er lässt sich tatsächlich nicht so stark reduzieren. 20 bis 30 Prozent bedeutet, dass wir in der Regel eigentlich nur die Größenordnung benennen können. Zum Beispiel 17.000 bis 23.000, das können wir dann sagen, einen Intervall angeben. Das ist dann auch seriöser, finde ich, weil das dann klarmacht, dass man es nicht genau wissen kann.

Fehlerquote von 20 bis 30 Prozent

von Billerbeck: Nun unterrichten Sie als Statistiker ja auch junge Journalisten und Journalistinnen, ist es denn so einfach: Je mehr teilnehmen, desto ernster wird das Anliegen genommen?
Poppe: Ja, retrospektiv natürlich schon. Wenn man natürlich eine hohe Zahl erreicht hat, dann wird die Aufmerksamkeit schon proportional steigen, weil dann klar wird: Hier formiert sich ein außerparlamentarischer Wille oder eine Opposition – da sollten wir schon mal genauer hinschauen.
Das ist schon eine Maßzahl dafür, wie relevant etwas ist. Oder wie viele Menschen es auch gibt, denen ein bestimmtes Thema unter den Fingernägeln brennt, was sie nicht durch Politiker oder andere Vertreter repräsentiert sehen.
von Billerbeck: Welche Rolle spielt denn die Dynamik? Man erlebt es ja oft, dass es anfangs eine kleine Zahl ist. Und dann werden die Folgeveranstaltungen immer größer – tatsächlich oder auch in der Wahrnehmung der Teilnehmer. Welche Rolle spielt das?

Zahlen zeigen, ob eine Idee verfängt

Poppe: Das ist der Beweis der sozialen Ansteckung. Wir leben ja gerade in Zeiten einer Pandemie, da gibt es ja auch einen Ansteckungsprozess.
So ähnlich funktioniert das auch mit sozialen Ideen: Die Idee wird erst einmal in die Welt gesetzt ist und ein paar wenige sagen 'Mensch, das müssten wir doch mal ein bisschen anders organisieren in unserer Gesellschaft'. Und dann sehen die Leute die Bilder im Fernsehen und sagen 'Mensch, das stimmt, da mach ich mit'.
Dass dann jede Woche die Anzahl der Demonstranten weiter steigt, ist schon ein Beweis, dass die soziale Idee verfängt. Es ist für Veranstalter immer wichtig, wenn sie solche periodisch wiederholten Demonstrationen veranstalten, dass dann auch tatsächlich jede Woche die Zahlen steigen.
von Billerbeck: Man erlebt aber auch den gegenteiligen Effekt. Wenn wir erinnern, dass die Pegida-Demonstrationen – oder Legida, Sie sind ja in Leipzig –, anfangs groß waren, dann wuchsen und jetzt hat sich's eher verläppert, jetzt geht das in eine andere Richtung. Was sagt das dann darüber?
Poppe: Das kann zwei Gründe haben: Entweder sind die Ideen repräsentiert. Das heißt, Volksvertreter haben das dann aufgenommen – was ja offensichtlich auch so ist. Wenn Sie an Pegida denken, die wurden im Wesentlichen, würde ich sagen, aufgefangen davon, dass jetzt eben die AfD sehr viele Parlamentssitze bekommen hat, sodass dann der Druck nachlässt auf der Straße, für die Idee zu demonstrieren.
Das heißt also nicht notwendigerweise, wenn die Zahlen runtergehen, dass die Idee an sich tot ist, sondern sie wird eben woanders, institutionalisiert sozusagen, weitergeführt. Es kann aber natürlich auch sein – und das ist auch häufig so –, dass irgendwann die Leute sagen 'Jetzt haben wir halt genug demonstriert, es hat nichts gebracht, wir lassen es'.

"Eine Menge, die eindrucksvolle Bilder liefert"

von Billerbeck: Nun ist ja die Macht der großen Zahl trotzdem eine, der man sich kaum entziehen kann. Was meinen Sie denn, wird dieser Kampf um die Zahlen bleiben, oder wird dieses ja fast Archaische 'Ich gehe mit meinem Körper auf eine Demo ...' irgendwann dann doch in Internet-Demos enden?
Poppe: Das ist ein interessanter Gedanke. Ich glaube, dass die Menschen genau diese Bühne suchen und die Nähe zur Macht suchen. Ich glaube nicht, dass das so schnell tot sein wird. Die Idee hat schon immer funktioniert, dass man eine große Menschenmenge bildet, die erst mal eindrucksvolle Bilder liefert.
Man darf ja auch nicht vergessen: So eine Demonstration dient einer Bewegung, die sich neu gegründet hat, oft auch erst mal der Selbstvergewisserung: Wir sind gar nicht wenige, es gibt auch andere, die so denken wie ich.
Dieses physische Treffen und dieses physische Zeigen von Präsenz, ich glaube nicht, dass diese Idee so schnell tot sein wird. Ich glaube, das Internet kann viele Dinge verändern, aber hier trägt es eher dazu bei, dass die Leute sich besser und schneller organisieren, um dann halt so eine große Demonstration auf die Beine zu stellen.
von Billerbeck: Wird es irgendwann eine Möglichkeit geben, ganz genau festzustellen, wie viele Menschen da unterwegs sind, also beispielsweise mit künstlicher Intelligenz? Und Sie können uns dann sagen, soundso viele Millionen sind zur Hadsch in Mekka?
Poppe: Ich denke ja. Es gibt halt ganz viele Ansätze. Erstens, über Bilderkennung passiert sehr viel, dann kann man auch Metadaten nutzen, wie viele Menschen haben irgendwelche Verkehrsmittel genutzt – diese Daten werden ja auch immer mehr bereitgestellt …
von Billerbeck: Oder Smartphones.
Poppe: Oder Smartphones. Man könnte gucken, wie viele Leute haben ihr Bluetooth an. Dazu gibt es auch Forschungen, dass man das dann hochrechnet und ausrechnet. Jeder Dritte hat sein Bluetooth an – dann brauche ich nur noch abzugreifen, wie die Bluetooth-Signale in der gewissen Gegend sind.
Ja, ich denke, die technischen Möglichkeiten werden immer besser. Aber sie sind natürlich auch mit Aufwand verbunden und müssen erst erprobt werden. Ich bin da Optimist, dass wir da Fortschritte sehen werden, dass wir da genauer drankommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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