Menschen in Not

Von Richard Herzinger |
Wochenlang wurde von Politikern und Medien massiv Seelenmassage betrieben, um die Deutschen zu größerer Spendenbereitschaft für Pakistan zu stimulieren. Dazu gehörte auch, angeblichen Vorurteilen des deutschen Publikums gegenüber einem islamischen Land entgegenzuwirken.
Auf keinen Fall, betonten etwa Peter Scholl-Latour, ständiger TV-Experte für fremde kulturelle Mentalitäten, und der CDU-Politiker Volker Rühe in einer Talk-Show übereinstimmend, dürfe Hilfe an die Erwartung geknüpft werden, man könne einer islamisch geprägten Gesellschaft dadurch "westliche Werte aufzwingen". Wenn jedoch Hilfsorganisationen wie die "Ärzte ohne Grenzen" versichern, sie würden sich in ihrem Einsatz streng an die Sitten des jeweiligen Landes halten, auch wenn das bedeuten könnte, dass Frauen nicht medizinisch behandelt werden dürfen, weil ihre Männer das verbieten, stellen sich grundsätzliche Fragen nach der Vereinbarkeit dieser kulturrelativistischen Haltung mit unserem Verständnis von Menschlichkeit.

Menschen in Not uneigennützig zu Hilfe zu eilen, einzig weil sie Menschenantlitz tragen, ist nämlich bereits an sich ein "westlicher Wert". Er entspringt dem universalen Humanismus, der in seinem Bekenntnis zu elementarer Menschenwürde keinen Unterschied zwischen Geschlecht, Rasse, Religion, Herkunft oder politischer Einstellung macht – und auch gerade in einer elementaren Notsituation eine solche Unterscheidung nicht duldet. Wo vom Westen mit dem Geld seiner freien Bürger humanitär geholfen wird, muss gewährleistet sein, dass diesem Wert vor Ort uneingeschränkt Geltung verschafft wird.

Wo sich humanitäre Hilfe hingegen womöglich politischen, religiösen oder "kulturellen" Unterdrückungssystemen unterordnen muss, die den universalen humanitären Werten feindselig gegenüberstehen, wo gar Gefahr besteht, dass Gelder und Hilfsgüter in Kanäle fließen, die solche Verhältnisse stärken – spätestens da verliert die humanitäre Hilfe ihre in Spenden-Galas gerne zur Schau gestellte voraussetzungslose Unschuld.

In einem Land wie Pakistan bestehen massive Zweifel, ob diese Kriterien für effektive Hilfe erfüllt werden können. Diese Zweifel lassen sich nicht durch volkspädagogische Schönfärberei der dortigen Verhältnisse zerstreuen. Etwa, indem ein ums andere mal beteuert wird, Taliban und islamistische Extremisten, die zu Anschlägen gegen westliche Hilfsorganisationen aufrufen, seien dort nur eine bedeutungslose Minderheit von Fanatikern, die mit dem Islam rein gar nichts zu tun hätten. Zumal diese Behauptung in auffälligem Kontrast zu dem Hinweis steht, wir müssten mit unseren Spenden verhindern, dass diese Extremisten die Not- und Wiederaufbauhilfe selbst in die Hand nehmen und dadurch Pakistan noch weiter destabilisieren könnten.

Die hiesige Spenden-Skepsis hat aber auch mit der durchaus legitimen Frage zu tun, warum eigentlich automatisch immer der Westen als Erster in die moralische Pflicht zur uneigennützigen Hilfe genommen wird, auch wenn es um Gesellschaften geht, in denen seine Werte von einflussreichen und militanten Gruppen zutiefst verachtet und bekämpft werden. Nicht nur, dass das komplette Versagen der pakistanischen Regierung und der reichen pakistanischen Oberschicht offensichtlich ist. Wäre es nicht zuvörderst die Pflicht der so genannten "islamischen Welt", ihre – man denke allein an Saudi-Arabien – gewaltigen Mittel zu mobilisieren, um einem so tief von "islamischen Werten" geprägten Land wie Pakistan zu Hilfe zu eilen? Wie immer blieb die Reaktion von jener Seite jedoch zögerlich und vergleichsweise spärlich. Die Nation, die wieder einmal das mit weitem Abstand größte humanitäre Engagement unter Beweis stellt, sind die USA.

Ohne Zweifel: Helfen muss der Westen, und helfen sollten wir alle ungeachtet aller berechtigten Skepsis. Doch Fragen nach den politisch-moralischen Voraussetzungen dafür, dass unsere Hilfe wirklich uneingeschränkt den Ärmsten und Schwächsten zugute kommt, dürfen deshalb nicht einfach vom Tisch gewischt werden.


Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als politischer Korrespondent der "Welt" und der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und arbeitete als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT". Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns – ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".
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