Menschen in Wien - dürftig und bedürftig
Mit knapp 70 Jahren hat der Wiener Lyriker Robert Schindel seinen dritten Roman geschrieben - ein altersweises und analytisches Werk, das im Wien der 80er-Jahre spielt, und in dem es unter anderem um die späte Erkenntnis geht, dass die Österreicher nach 1938 nicht nur Opfer waren.
Schauplatz des 660 Seiten starken, mit Dutzenden von Figuren bevölkerten Romans ist Österreichs Hauptstadt Wien. Der Deutsche Claus Peymann leitet das Burgtheater und das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Waldheim wird Staatspräsident. Thomas Bernhard schreibt sein Stück "Heldenplatz" und Alfred Hrdlicka meißelt am Mahnmal gegen Krieg und Faschismus. All das sorgt - auch über die Grenzen des Landes hinaus – für gehörigen Aufruhr. Aus ist es mit der Gemütlichkeit, Opernballidylle und Fiakerfahrt weichen hitzigen politischen Auseinandersetzungen und Fäkalattentaten.
Schindel beschreibt vordergründig Wiener Alltag in der zweiten Hälfte der 1980-er Jahre. Tatsächlich aber porträtiert er ein ganzes Land, das bislang mit den Geistern der Vergangenheit ganz gut gelebt hat. Erst jetzt schickt es sich an, mit seinem Selbstverständnis als "erstem Opfer Hitlers" zu brechen, ist genötigt, historischen Wahrheiten und eigenem Antisemitismus ins Angesicht zu schauen. Das ist spannend und humorvoll erzählt, aus verschiedenen Perspektiven, in Parallelgeschichten, lebendigen Dialogen und sprachlich eindringlichen Bildern.
Titelstiftende Hauptfigur ist Edmund Fraul, ehemaliger Spanienkämpfer und politischer Häftling, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz. Ein Historiker, inzwischen professioneller Zeitzeuge und Vortragsredner über die Jahre der NS-Herrschaft. Um ihn herum gruppiert Schindel weitere Figuren: Frauls Sohn Karl, Jungstar am Burgtheater, dessen diverse Geliebten, deren Familien, den ehemaligen SS-Mann Rosinger, Vertreter der Wiener Presse, des Theaters, der Politik und Kultur. Ein buntes Panoptikum, in dem sich Zeitgeschichte und viele kleine Geschichten berühren, wodurch der Handlungsverlauf immer wieder eine neue Richtung bekommt. Schindel entwirft ein quirliges und vielfältiges Gesellschaftspanorama. "Der Kalte" ist Theaterroman ebenso wie Liebesgeschichte, Politthriller und psychologische Studie zum Verhältnis Männer und Frauen, Väter und Söhne, Täter und Opfer.
Geschrieben ist all dies scheinbar mit leichter Hand. Bei diesem Format und der Vielzahl der einzelnen Themen eine großartige Leistung. Sofort sieht man einen TV-Zehnteiler vor sich. Mag der Leser auch manchmal Gefahr laufen, den Überblick zu verlieren, so bleibt die Kohärenz des Romans doch unbeeinträchtigt. Man muss ihn eben gleich noch mal lesen. Letztlich stellt der Autor die Frage nach der Möglichkeit zu leben in einer Welt, die mal als Konzentrationslager erscheint, mal als Schmierentheater. Jede seiner Figuren kämpft – mit anderen und vor allem mit den eigenen Dämonen.
Das ist Schindels Verdienst: Menschen in ihrer Dürftig-und Bedürftigkeit zu zeigen, ohne moralischen Fingerzeig, demütig gegenüber dem, was das Leben hervorbringt.
Natürlich ist das mitunter herzzerreißend, brutal und ekelhaft, was einer dem anderen antut. Aber letztlich immer noch interessanter als der Tod, der in diesem Wiener Roman häufig und ungeheuer lakonisch auftritt.
Besprochen von Carsten Hueck
Robert Schindel: Der Kalte
Suhrkamp, Berlin 2012
660 Seiten, 24,95 Euro
Schindel beschreibt vordergründig Wiener Alltag in der zweiten Hälfte der 1980-er Jahre. Tatsächlich aber porträtiert er ein ganzes Land, das bislang mit den Geistern der Vergangenheit ganz gut gelebt hat. Erst jetzt schickt es sich an, mit seinem Selbstverständnis als "erstem Opfer Hitlers" zu brechen, ist genötigt, historischen Wahrheiten und eigenem Antisemitismus ins Angesicht zu schauen. Das ist spannend und humorvoll erzählt, aus verschiedenen Perspektiven, in Parallelgeschichten, lebendigen Dialogen und sprachlich eindringlichen Bildern.
Titelstiftende Hauptfigur ist Edmund Fraul, ehemaliger Spanienkämpfer und politischer Häftling, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz. Ein Historiker, inzwischen professioneller Zeitzeuge und Vortragsredner über die Jahre der NS-Herrschaft. Um ihn herum gruppiert Schindel weitere Figuren: Frauls Sohn Karl, Jungstar am Burgtheater, dessen diverse Geliebten, deren Familien, den ehemaligen SS-Mann Rosinger, Vertreter der Wiener Presse, des Theaters, der Politik und Kultur. Ein buntes Panoptikum, in dem sich Zeitgeschichte und viele kleine Geschichten berühren, wodurch der Handlungsverlauf immer wieder eine neue Richtung bekommt. Schindel entwirft ein quirliges und vielfältiges Gesellschaftspanorama. "Der Kalte" ist Theaterroman ebenso wie Liebesgeschichte, Politthriller und psychologische Studie zum Verhältnis Männer und Frauen, Väter und Söhne, Täter und Opfer.
Geschrieben ist all dies scheinbar mit leichter Hand. Bei diesem Format und der Vielzahl der einzelnen Themen eine großartige Leistung. Sofort sieht man einen TV-Zehnteiler vor sich. Mag der Leser auch manchmal Gefahr laufen, den Überblick zu verlieren, so bleibt die Kohärenz des Romans doch unbeeinträchtigt. Man muss ihn eben gleich noch mal lesen. Letztlich stellt der Autor die Frage nach der Möglichkeit zu leben in einer Welt, die mal als Konzentrationslager erscheint, mal als Schmierentheater. Jede seiner Figuren kämpft – mit anderen und vor allem mit den eigenen Dämonen.
Das ist Schindels Verdienst: Menschen in ihrer Dürftig-und Bedürftigkeit zu zeigen, ohne moralischen Fingerzeig, demütig gegenüber dem, was das Leben hervorbringt.
Natürlich ist das mitunter herzzerreißend, brutal und ekelhaft, was einer dem anderen antut. Aber letztlich immer noch interessanter als der Tod, der in diesem Wiener Roman häufig und ungeheuer lakonisch auftritt.
Besprochen von Carsten Hueck
Robert Schindel: Der Kalte
Suhrkamp, Berlin 2012
660 Seiten, 24,95 Euro