Menschen und Monster
Die Welt kann einem manchmal schon wie ein einziges Pandämonium vorkommen. Zumindest dann, wenn man, gebannt vom Bösen, Ferdinand von Schirachs neue Geschichten liest. 15 sind es in seinem Kurzgeschichtenband "Schuld".
Und sei es in der Doppelhaushälfte oder in einem Internat - überall können aus Menschen Monstren werden. Zum Beispiel auf einem Volksfest irgendwo in der deutschen Provinz: Eine Blaskapelle spielt auf, die Musiker sind lauter Männer, die sich kräftig betrinken. In einer Pause fallen sie alle unvermittelt hinter dem Vorhang über eine junge Kellnerin her, die ihnen Bier bringt. Sie vergewaltigen sie, ohne dass die lärmende Menge vor der Bühne etwas davon mitbekommt, urinieren am Ende noch gemeinschaftlich auf sie, die bewusstlos am Boden liegt. Die Frau überlebt nur knapp.
Ein Exzess der Brutalität wie aus dem Nichts, für den nie jemand verurteilt wird, weil die Meute kostümiert, also nicht identifizierbar war, und bei der Notoperation der Schwerverletzten im Krankenhaus alle für die Gerichtsmedizin relevanten Spuren vernichtet wurden. Mangels Beweisen erfolgt kein Schuldspruch. Das ist die Auftaktgeschichte dieses Buches und die Initiationsgeschichte des jungen Ferdinand von Schirach in die Berufspraxis. Die Vertretung eines der Männer ist einer seiner ersten Fälle überhaupt. Der Strafverteidiger hat seinen Job gut gemacht, aber er weiß auch: Er hat dabei als Jurist seine Unschuld verloren.
Dieser Autor verwandelt, was er als Anwalt erlebt, in Literatur. Natürlich so, dass die realen Begebenheiten und Figuren, die seinen Stories zugrunde liegen, als solche unkenntlich sind, schließlich unterliegt er der Schweigepflicht. Von Schirach, der im Buch stets als Erzähler auftritt, hat eine Klientel, die vom Drogenkurier der Berliner Unterwelt bis zum Millionär mit Villa am See reicht. Dieser Schriftsteller mag einen großen Vorteil gegenüber anderen haben: Er bekommt seine Geschichten frei Haus geliefert. Wenigstens die Ideen zu solchen Geschichten. Warten sie doch in Gestalt von oft Verzweifelten im Untersuchungsgefängnis von Berlin-Moabit oder auf den Stufen, die zu seiner Kanzlei in der Nähe des Berliner Kurfürstendamms führen. Er muss ihnen nur zuhören. Und dann, als Künstler ein Schöpfer eigenen Rechts, das Vernommene in etwas umformen, wovon die Gerichtsaktenprosa nichts ahnt.
Schon in seinem brillanten Debüt "Verbrechen" zeigte sich von Schirach als ein Meister des konzisen, schlackenlosen Stils. In "Schuld" hat er ihn weiter verfeinern können. In kurzen Sätzen, auf jeweils nur wenigen Seiten schildert von Schirach uns einen Kosmos, in dem Unheil an jeder Ecke lauert. Da ist der nur scheinbar normale Autoverkäufer, der auf alle Nachbarn immer so nett und freundlich wirkt, sich dann aber als ein widerlicher Sadist erweist, der nachts seine Frau krankenhausreif schlägt, sie zwingt, auf dem Boden kniend aus einem Napf zu essen und sich dann auch noch an der zehnjährigen Tochter vergreifen will - was nur der Zufall verhindert. Oder der Kleinbürger, der zum Opfer einer Mädchenwette wird und einer Falschaussage wegen jahrelang zu Unrecht wegen Kindesmissbrauchs einsitzt.
Von all dem erzählt von Schirach mit verhaltener Empathie und der tiefen Überzeugung, dass es keinen klügeren Text als den des Strafgesetzbuches gibt, so unzureichend dies in einzelnen Fällen auch erscheinen mag. Mit seinem neuen Geschichtenband belegt der Autor auf glanzvolle Weise, warum er zu Recht der Kleist-Preisträger 2010 ist. Er verehrt die deutsche Klassik (und welcher deutsche Autor hat je so viele Rechtsfälle in Anekdoten, Novellen und Dramen verhandelt wie Heinrich von Kleist), aber er schreibt in der Tradition der großen Amerikaner des 20. Jahrhunderts: Raymond Carver und Ernest Hemingway.
Ein großer Anwalt, er hieß Marcus Tullius Cicero, hat es, einen Satz von Terenz aufgreifend, so formuliert: "Der Mensch glaubt, nichts Menschliches sei ihm fremd." Wozu der Mensch in der Lage ist, erfährt, wer Ferdinand von Schirach liest. Warum der Mensch jedoch tut, was er tut, bleibt ein schauriges Rätsel. Ein Geheimnis.
Besprochen von Knut Cordsen
Ferdinand von Schirach: Schuld. Stories
Piper Verlag, München 2010
208 Seiten, 17,95 Euro
Ein Exzess der Brutalität wie aus dem Nichts, für den nie jemand verurteilt wird, weil die Meute kostümiert, also nicht identifizierbar war, und bei der Notoperation der Schwerverletzten im Krankenhaus alle für die Gerichtsmedizin relevanten Spuren vernichtet wurden. Mangels Beweisen erfolgt kein Schuldspruch. Das ist die Auftaktgeschichte dieses Buches und die Initiationsgeschichte des jungen Ferdinand von Schirach in die Berufspraxis. Die Vertretung eines der Männer ist einer seiner ersten Fälle überhaupt. Der Strafverteidiger hat seinen Job gut gemacht, aber er weiß auch: Er hat dabei als Jurist seine Unschuld verloren.
Dieser Autor verwandelt, was er als Anwalt erlebt, in Literatur. Natürlich so, dass die realen Begebenheiten und Figuren, die seinen Stories zugrunde liegen, als solche unkenntlich sind, schließlich unterliegt er der Schweigepflicht. Von Schirach, der im Buch stets als Erzähler auftritt, hat eine Klientel, die vom Drogenkurier der Berliner Unterwelt bis zum Millionär mit Villa am See reicht. Dieser Schriftsteller mag einen großen Vorteil gegenüber anderen haben: Er bekommt seine Geschichten frei Haus geliefert. Wenigstens die Ideen zu solchen Geschichten. Warten sie doch in Gestalt von oft Verzweifelten im Untersuchungsgefängnis von Berlin-Moabit oder auf den Stufen, die zu seiner Kanzlei in der Nähe des Berliner Kurfürstendamms führen. Er muss ihnen nur zuhören. Und dann, als Künstler ein Schöpfer eigenen Rechts, das Vernommene in etwas umformen, wovon die Gerichtsaktenprosa nichts ahnt.
Schon in seinem brillanten Debüt "Verbrechen" zeigte sich von Schirach als ein Meister des konzisen, schlackenlosen Stils. In "Schuld" hat er ihn weiter verfeinern können. In kurzen Sätzen, auf jeweils nur wenigen Seiten schildert von Schirach uns einen Kosmos, in dem Unheil an jeder Ecke lauert. Da ist der nur scheinbar normale Autoverkäufer, der auf alle Nachbarn immer so nett und freundlich wirkt, sich dann aber als ein widerlicher Sadist erweist, der nachts seine Frau krankenhausreif schlägt, sie zwingt, auf dem Boden kniend aus einem Napf zu essen und sich dann auch noch an der zehnjährigen Tochter vergreifen will - was nur der Zufall verhindert. Oder der Kleinbürger, der zum Opfer einer Mädchenwette wird und einer Falschaussage wegen jahrelang zu Unrecht wegen Kindesmissbrauchs einsitzt.
Von all dem erzählt von Schirach mit verhaltener Empathie und der tiefen Überzeugung, dass es keinen klügeren Text als den des Strafgesetzbuches gibt, so unzureichend dies in einzelnen Fällen auch erscheinen mag. Mit seinem neuen Geschichtenband belegt der Autor auf glanzvolle Weise, warum er zu Recht der Kleist-Preisträger 2010 ist. Er verehrt die deutsche Klassik (und welcher deutsche Autor hat je so viele Rechtsfälle in Anekdoten, Novellen und Dramen verhandelt wie Heinrich von Kleist), aber er schreibt in der Tradition der großen Amerikaner des 20. Jahrhunderts: Raymond Carver und Ernest Hemingway.
Ein großer Anwalt, er hieß Marcus Tullius Cicero, hat es, einen Satz von Terenz aufgreifend, so formuliert: "Der Mensch glaubt, nichts Menschliches sei ihm fremd." Wozu der Mensch in der Lage ist, erfährt, wer Ferdinand von Schirach liest. Warum der Mensch jedoch tut, was er tut, bleibt ein schauriges Rätsel. Ein Geheimnis.
Besprochen von Knut Cordsen
Ferdinand von Schirach: Schuld. Stories
Piper Verlag, München 2010
208 Seiten, 17,95 Euro