Menschen vor dem Kaufrausch retten

Von Susanne Schrammar |
"Neue Musik rettet die Welt" heißt die Initiative des Schauspiels Hannover. Die Musiker treten überall dort auf, wo Menschen sich fragen: Was passiert hier eigentlich? Konzertiert wird zum Beispiel im Shopping-Center oder auf dem Geflügelschlachthof.
Die Ernst-August-Galerie in Hannover zur besten Einkaufszeit, einer der größten Shoppingtempel in Niedersachsen. Während Kaufwillige durch die gläsernen Türen ins Innere strömen, halten zwei blaue Einsatzwagen des Technischen Hilfswerks vor dem Eingang. Nahezu geräuschlos steigen neun schwarz gekleidete Musiker aus, bringen Notenständer, Kontrabass und Posaunen in Position, während die Einsatzkräfte den Platz drum herum mit Warnhütchen absichern. Auf Kommando des Dirigenten – im Frack mit stylisch-roter Sonnenbrille - fangen sie an zu spielen.

Ein sogenanntes Notfallkonzert des hannoverschen "Orchesters im Treppenhaus", initiiert vom Schauspiel Hannover. Bereits das dritte in dieser Woche im Rahmen des Festivals "Neue Musik rettet die Welt". Dramaturg Volker Bürger:

"Das ist ein Notfalleinsatz für die Menschen hier in der Ernst-August-Galerie, um sie vor dem Kaufrausch zu retten. Das kennt ja jeder, da sind ja die Reize sehr groß, die Befriedigung, die man findet, ist aber oft nur begrenzt, und das ist so ne kleine musikalische künstlerische Intervention, um die Frage zu stellen, ob denn Konsum alles ist."

Seit Lars-Ole Walburg 2009 die Intendanz am Schauspiel in Hannover übernommen hat, geht es hier deutlich politischer zu als früher. Ob er nun das legendäre Hüttendorf der Gorlebengegner "Republik Freies Wendland" vor dem Theater wieder aufbauen lässt, den selbst gewählten Tod eines Hartz IV-Empfängers auf einem Hochsitz mitten in der Stadt zelebriert oder das Thema Abschiebung auf den Spielplan setzt – Walburg legt den Finger gern in die Wunde.

Und das gefällt nicht jedem: Hannovers CDU und FDP fragten öffentlich, was das noch mit Theater zu tun habe, Zuschauer blieben weg. Die Auslastung sank unter Wahlburg von zuletzt 85 auf 65 Prozent. Man habe Anfangsfehler gemacht, zu wenig mit dem Publikum kommuniziert, gestand die Theaterleitung ein und bemühte sich zu verkünden, dass das Politische kein Kalkül sei.

Jetzt in der dritten Spielzeit gehen die Zuschauerzahlen langsam wieder nach oben und das, obwohl das Schauspiel Hannover von den heißen Eisen nicht lassen will, wie jetzt mit den Notfallkonzerten. Allein nur eine politische Haltung zu haben, dafür ist Theater nicht der richtige Ort, sagt Dramaturg Bürger, doch wir fragen uns bei jedem Stück: Wo ist die gesellschaftliche Relevanz?

Bürger: "Als diejenigen, die wir uns das ausdenken und auf die Bühne bringen, wollen wir das Publikum unterhalten, aber wir wollen es auch fordern. Weil ich glaube, dass der Auftrag, den man hat bei so einem großen Theater, das subventioniert wird, muss es auch immer sein, dass man sich mit unbequemen, mit neuen Fragen auseinandersetzt. Dort sind die Erlebnisse am größten."

Ortswechsel. Vor dem Geflügelschlachthof in Wietze nordöstlich von Hannover. Anwohner und Tierschützer haben jahrelang gegen die Großanlage gekämpft, doch seit zwei Monaten werden hier im Sekundentakt Hähnchen geschlachtet: Bis zu 2,6 Millionen in der Woche. Noch immer trifft sich die Bürgerinitiative regelmäßig zu einer Mahnwache. Ein Notfall für das "Orchester im Treppenhaus". Ein Musiker liest vor:

"Stellvertretend für alle Leidenden wollen wir in den nächsten drei Minuten ein paar von ihnen gedenken. Um sie von ihrer Anonymität und ihrem Status als Ware zu befreien, soll jedes Huhn, an das wir denken, einen Namen erhalten."

Fünf junge Komponisten hat das Schauspiel Hannover mit den Notfallkonzerten beauftragt. Für sein Hühner-Stück hat der 24-jährige Benjamin Scheuer, Absolvent der Hamburger Musikhochschule, authentische Hühnernamen aus dem Internet gesammelt.

Scheuer: "Der zweite Teil ist, dass jedes Huhn einen ganz kleinen musikalischen Moment bekommt, der sozusagen ein bisschen Lebensqualität geben soll. Nun versuchen die Musiker aber, sich dem Tempo anzunähern, in dem hier die Hühner geschlachtet werden und immer noch den Hühnern einen Namen zu geben und diesen kurzen schönen Moment, und das scheitert dann natürlich, weil es ist nicht möglich, mit vier Musikern so viele Namen zu nennen, wie Hühner in der Minute geschlachtet werden."

Bürger: "Dieser Schlachthof, der bewegt ganz viele Menschen, also, da geht man dorthin, wo auch die Menschen sich Fragen stellen: Was passiert hier eigentlich? Widersprüche aufzeigen und neue Reize, andere Reize schaffen zusätzlich zu einer Bürgerinitiative, aber wir schreiben dann keine Texte und drucken sie auf Plakate, sondern wir treten auf, wir machen ´ne Performance und das hat ne andere Wirkung."

Die Bürgerinitiative gegen den Geflügelschlachthof in Wietze hat sich über die Unterstützung der Künstler gefreut. Als in Hannover vor dem Shopping-Center der Schlussakkord erklingt, die Musiker wieder in die Einsatzwagen steigen und kommentarlos wegfahren, schauen sich die neugierig Verharrenden eine Sekunde lang ratlos an. Dann eilen sie weiter. Nur zwei Frauen bleiben interessiert stehen.

Frau 1: "Ich finde es großartig - erstmal dieser Überraschungseffekt ist genial und dann dieses ganz Prägnante, ganz kurz konzentriert hier Musik machen, finde ich einfach super!"

Frau 2: "Toll! Sehr charmant! Ich fand das ne ganz super Idee, bin extra aus dem Büro hierher gekommen schnell, sehr schön!"

Auf den gesellschaftskritischen Aspekt angesprochen, sagt die eine Zuhörerin dann jedoch leise:

"Brauch ich nicht. Mir reicht die Musik auch ohne das große Motto."


Link zum Thema:

Orchester im Treppenhaus: Neue Musik rettet die Welt!