Menschendarstellung versus gemalte Mathematik

Die Kunst der Renaissance ist voll von menschlichen Darstellungen, Engeln, Teufeln und Königen. Islamische Kunst hingegen verzichtet auf Menschenbilder, spielt mit geometrischen Formen, um den Menschen auszurichten auf die ewigen Ordnungen Gottes. Der Kunstwissenschaftler Hans Belting zeigt, warum sich christliche und islamische Kunst so unterschiedlich entwickelt haben.
"Florenz" meint in diesem Buch die Stadt der Medici, Hauptstadt der Renaissance. Ihr Name steht für westliche Malerei und Bildhauerkunst schlechthin. In Florenz wurde die perspektivische Malerei geboren, sprich die Kunst, einen dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Fläche abzubilden. Die Urväter aller realistischen Kunst des Westens - Giotto, da Vinci, Michelangelo, Raffael - haben in Florenz gewirkt.

Der Name "Bagdad" steht für die mittelalterliche Hauptstadt des islamischen Reiches, Zentrum der Künste und der Wissenschaften. – Hans Belting überrascht uns mit folgender These: Es war ein Gelehrter aus Bagdad mit Namen Ibn al-Haitham (lateinisch: Alhazen), der den Florentiner Malern das naturwissenschaftliche Rüstzeug geliefert hat für ihre legendären Bilder. Deren räumliche Tiefe, die Spiele von Licht und Schatten bis hin zur lebensechten Wiedergabe eines Blütenstängels in einem Wasserglas – vieles, was wir an den Meistern der Renaissance so sehr bewundern, gründet auf einer "Theorie des Sehens", die Alhazen um das Jahr 1000 in Bagdad entwickelt hat. Der Gelehrte hat ein Buch verfasst, das unter dem Titel "Perspektiva" ins Lateinische übersetzt worden ist. Das kursierte in florentinischen Künstlerkreisen.

Warum eigentlich gibt es keinen "Michelangelo von Bagdad"? Warum ist die arabische Kunst ganz andere Wege gegangen als die westliche? Dies sind Beltings zentrale Themen. Er meint, das hat in erster Linie religiöse Gründe, hängt mit der Bilder-Freudigkeit des Christentums und dem Bilder-Verbot des Islam zusammen.

Der Islam hat sich in Sachen "Bilder" streng am Judentum orientiert, auch dort sind bildliche Darstellungen Gottes bekanntlich verboten. Gott hat kein Menschengesicht, davon ist man in beide Religionen überzeugt. Und davon, dass Menschen zu malen den Betrachter in Versuchung führt, diese Menschen anzubeten, Menschenanbetung aber ist Götzendienst. – In der traditionell- islamischen Kultur gibt es keine Bilder von Menschen. Auch keine von Tieren. Alles, was Lebensatem hat, unterliegt dem Bilderverbot, um die Gefahr der Vergottung zu bannen.

Wer die Alhambra in Granada betritt oder den Felsendom von Jerusalem, bestaunt die Fülle der Ornamente und Schriftzeichen. Ihre Bedeutung allerdings bleibt einem westlichen Betrachter doch eher rätselhaft. – Belting liefert eine lapidare Erklärung: Islamische Kunst ist "gemalte Mathematik". Sie spielt mit geometrischen Formen, um das Auge des Betrachters von irdischen Eindrücken zu reinigen und den Menschen auszurichten auf die ewigen Ordnungen Gottes. In der Kunst des Islam geht es um Schönheit als Regelmäßigkeit der Formen und des Rhythmus.

Die traditionell islamische Kunst will göttliche Verhältnisse abbilden, die traditionell westliche dagegen menschliche Verhältnisse. Auch letzteres hat religiöse Gründe, denn nach christlichem Verständnis hat Gott sich in Christus ein Menschengesicht gegeben. Das Göttliche offenbart sich im Alltag der Menschen, so sieht und so malt es die christlich inspirierte Kunst.

Gibt es einen typisch westlichen und einen typisch östlichen Blick? In der Kunst auf alle Fälle, meint der Autor. Die Bilder der Renaissance sind allesamt für einen Betrachter gemalt, quasi aus dessen Blick- Winkel, wenn man die Mona Lisa anschaut, lächelt die Dame zurück. – In der islamischen Kunst ist das anders. Sie kennt den perspektivischen Blick des Betrachters nicht. Ihr bevorzugter Standpunkt ist der perspektivlose, göttliche "Über-Blick" auf die Welt.

In diesem Buch wird anhand vieler Gemälde demonstriert, wie sich die perspektivische Malerei in Florenz entwickelt hat, wie die flächigen Bilder des späten Mittelalters sukzessive um eine Tiefendimension bereichert wurden. Giotto war der erste, der auf seinen Malflächen Räume hervorgezaubert hat. Seine "Scheinkapellen" in Padua, kunstvolle optische Täuschungen, kann man heute noch besichtigen. Auch die islamische Kunst ist in diesem Band reichlich vertreten. Ein Fotograf präsentiert uns das Interieur der Alhambra in Granada samt ihren Schauspielen des Lichts.

Obwohl in gefälligem Stil verfasst, ist dies kein Buch zum Überfliegen, sondern ein tiefsinniges und ungewöhnlich faktenreiches Werk der Kulturwissenschaften, das studiert werden will. Kunst-, Wissenschafts-, und Religionsgeschichte, die gewöhnlich getrennt voneinander behandelt werden, stellt Belting in lebendigen Zusammenhängen dar. So gelingen ihm facettenreiche Zeitgemälde - sowohl des islamischen Mittelalters als auch der europäischen Renaissance.

Rezensiert von Susanne Mack

Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks
C.H. Beck Verlag 2008
319 Seiten. 29,90 Euro