Menschenkünstlerin

Von Christiane Kreiner |
Susan Hiller übertritt die Grenzen der Konzeptkunst, sie hat sie um den Faktor "Mensch" erweitert. Die Amerikanerin beeinflusste mit ihren Installationen und Objekten eine ganze Generation von Künstlern. Auf der Documenta ist die 72-Jährige mit begehbaren Musikboxen vertreten.
Eine Bahnhofsgaststätte in Kassel. Die Juke-Box leuchtet und blinkt. Ein älterer Herr drückt Tasten und Zahlen. "Waltzing Mathilda" hat er ausgesucht - Er lächelt seiner Frau zu. Sie lächelt zurück.

Die Juke Box samt Inhalt - 100 Songs für 100 Tage ist ein Kunstwerk. Susan Hillers Arbeit für die documenta 13. Die Musik Box ist an fünf verschiedenen Orten aufgestellt - in der Gaststätte am Bahnhof, im Cafe der Orangerie, im Auepark und in der Neuen Galerie.

Susan Hiller: "Ich habe Leute beobachtet, die nach Songs schauen, die sie kennen, manchmal finden sie einen, manchmal nicht. Und dann habe ich beobachtet - im Cafe der Orangerie- , dass Leute angefangen haben zu tanzen. Das war sehr interessant für mich, weil viele Leute die Musik getrennt vom Text erleben. Sie kennen die Bedeutung der Worte nicht - sie hören eher die Musik. Deshalb hab ich in der Neuen Galerie alle Texte an die Wand geschrieben - um den Worten mehr Bedeutung zu geben."

"Venceremos", "Bella Ciao", "Fight the Power" - und Lovesongs. Susan Hiller hat Revolutionslieder ausgesucht, Protestsongs, und Liebeslieder. Susan Hiller, geboren 1940 in Talahasse Florida, hat selbst Anfang der 60er-Jahre als Studentin die Bürgerrechtsbewegung miterlebt, die Studentenrevolte in Amerika, die Anti-Vietnam-Bewegung, und die Frauenbewegung. Sie hat zu dieser Zeit Anthropologie und Soziologie in New England und New Orleans studiert. "Die Gedanken sind frei" ist auf einer kleinen Plakette auf Susan Hillers Juke-Box zu lesen. Das alte deutsche Volkslied hat Susan Hiller zu ihrer Arbeit inspiriert:

"Die Gedanken sind frei - Das heißt ja die Gedanken sind frei - und das Denken ist frei. Das ist ja ein sehr wichtiges Lied in der deutschen Geschichte. Und diesen Gedanken behielt ich immer im Kopf, auch bei der Auswahl der anderen Songs. Manchmal hat Musik die Möglichkeit Ideen lebendig zu halten, und Leute für Ideen zu begeistern, die unpopulär oder sogar verboten sind. Die Musik bleibt - und solche Songs habe ich versucht auszusuchen."

Zwei junge Frauen stehen vor der Juke Box - sie zögern noch. Sie wippen solange im Takt zu dem 60er Jahre Song: "War". Ein Besucher, der ihr Vater sein könnte, hat das Stück ausgewählt:

"Dieses Lied hat mich in meiner Schülerzeit sehr fasziniert. Es war damals die Zeit, wo man etwas gegen den Vietnam-Krieg war. Dieses Lied hat einem einfach nach oben gerissen und durch diesen harten Rhythmus war man einfach gezwungen, sich gegen diese Kriegshandlung zu richten. Es hat mich unglaublich gefesselt."

Hiller: "Die Gefühle dieser Jahre sind für mich sehr prägend nicht nur im politischen Sinne, oder was ich wähle , oder wie ich mein Leben lebe - sondern im Bezug auf den Idealismus und die Hoffnungen, die wir für die Zukunft unserer Staaten und der Welt hatten und jetzt sind wir sehr weit von diesen Idealen entfernt. Aber für meine Generation wird sie bewahren, aber wahrscheinlich ist es der Optimismus der verschwunden ist. Aber unsere Wünsche und Begehren sind dieselben."

Ender 60er Jahre verlässt Susan Hiller Amerika. Die junge Anthropologin zieht um nach London. London ist Hip. Eine Künstlerstadt. Die Mieten sind günstig. Die Kunstszene vibriert:

"Swinging London? In meiner Erinnerung ist eine Zeit und ein Ort, in der ein ganz nützlicher Optimismus das Leben geprägt hat. Und zusätzlich zur Anti-Kriegsbewegung passierten viele positive Dinge in der Kunst, der Musik, in der Literatur und der bildenden Kunst. Und die kamen alle zusammen, die Grenzen waren fließend."

Susan Hiller bleibt auch in der Kunst Anthropologin. Sie arbeitet sich quer durch alle Richtungen: Minimalismus, Konzeptkunst. Arbeitet mit Methoden der Surrealisten und der Sozialforschung. In ihren Installationen sprechen Menschen über Begegnungen mit Außerirdischen, ihre Fotografien machen Unsichtbares sichtbar. Ihre Objekte berühren.

Die Jukebox in der Bahnhofsgaststätte blinkt, und leuchtet. Der ältere Herr hat seine Frau in den Arm genommen und wagt ein paar Tanzschritte. Susan Hillers Kunst ist grenzüberschreitend, bewegt, ergreift. Ganz leise und persönlich, wo das Kollektive mit dem ganz Privaten verschmilzt. Es scheint ihr zu gelingen.
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