Menschenrechte

Das verordnete Schweigen

Platz des Himmlischen Friedens 2013
Platz des Himmlischen Friedens 2013 © picture alliance / dpa / Chinafotopress
Von Ruth Kirchner |
Ein Vierteljahrhundert nach der Niederschlagung der Studentenproteste am Platz des Himmlischen Friedens verhindert die chinesische Regierung weiterhin jegliche Diskussion über das Massaker und seine Folgen. Darunter leiden vor allem die Angehörigen der Opfer.
Der Wan'an Friedhof im Westen Pekings. Hier draußen am Fuße der Duftberge ist die Nähe der Millionenmetropole nur zu ahnen. Vögel zwitschern in den hohen Bäumen, im Frühjahr blüht es weiß und violett zwischen den tausenden Grabsteinen. Wan'an – wörtlich übersetzt „der zehntausendjährige Frieden" – ist ein Ort der Ruhe und Stille. Und: der Friedhof ist der einzige öffentliche Ort in der 20-Millionen-Stadt Peking, wo der Opfer vom 3. und 4. Juni 1989 gedacht werden darf. Zumindest ein bisschen.
Es ist nicht leicht die Gräber der Opfer vom Tian'anmen zu finden. Auf den Grab-steinen darf, wenn überhaupt, nur indirekt an die Ereignisse vor 25 Jahren erinnert werden. „Er starb ganz plötzlich", heißt es auf dem Grab von Yuan Li, der in der Nacht zum vierten Juni 89 erschossen wurde. Ein schwarzweiss Foto eines ernsten jungen Mannes. Davor ein Strauß vertrockneter Margariten. Zwei Reihen dahinter ein weiteres Grab vom 4. Juni. Der Tote ebenfalls ein junger Mann. Der Grabstein ist mit roten und violetten Plastikblumen geschmückt.
Fotografieren ist nicht erlaubt
Wie aus dem Nichts tauchen vier Sicherheitsleute auf. Fotografieren sei nicht erlaubt, behaupten sie. Nur mit Sondergenehmigung dürfe man den Friedhof überhaupt be-treten. Sie verlangen Fotos der Gräber sofort zu löschen. Denn Liu Si, wie der vierte Juni auf Chinesisch heißt, ist ein absolutes Tabu-Thema. Öffentliches Gedenken ist nicht erlaubt. In den Medien und im Internet darf nicht einmal das Datum erwähnt werden. Aktivisten, die in den letzten Wochen bei privaten Treffen über die Ereig-nisse diskutieren wollten, wurden verhaftet. Seit 25 Jahren versucht die kommunis-tische Führung jede Erinnerung an die blutigen Ereignisse rund um den Tian'anmen-Platz aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Selbst der Friedhof, traditionell ein Ort des Gedenkens und der Trauer, ist vor den Abgesandten des Sicherheitsappa-rates nicht sicher.
"China ist so groß, Peking ist eine riesige Stadt. Wir wie auch die anderen Familien der Opfer sind Bürger dieses Landes. Aber bis heute gibt es keinen einzigen Ort, an dem wir für unsere Angehörigen eine Gedenkveranstaltung abhalten können, die nicht von den Gehilfen der Behörden sabotiert wird."
Ding Zilin klingt bitter und müde. Die 77-Jährige mit dem halblangen grauen Haar könnte eine typische Pekinger Großmutter sein. Doch Enkel hat sie nicht. Vor 25 Jahren gehörte auch ihr damals 17-jähriger Sohn zu den Opfern des Massakers. Jiang Jielian war einer der ersten, der starb. Auf dem breiten Boulevard, der direkt auf den Tian'anmen-Platz führt, wurde er von Soldaten der Volksbefreiungsarmee erschossen, als er in einem Blumenbeet Schutz suchte. Er verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus, und Ding Zilin, Professorin für Philosophie an der Volksuniversität Peking, verlor ihr einziges Kind.
In ihrer Wohnung erinnert ein Gemälde an den jungen Mann. Es zeigt einen Jugendlichen mit dem roten Halstuch der jungen Pioniere. Daneben steht die Urne mit seiner Asche. Nur an diesem Schrein im Wohnzimmer darf die alte Dame offen um ihren Sohn trauern. Das aber will sie nicht hinnehmen. Seit Jahren kämpft sie darum, dass die chinesische Führung das Unrecht von dam-als als solches anerkennt. Vergebens.
"Seit 25 Jahren decken sie die Wahrheit mit ihren Lügen zu. Schon vor zehn Jahren haben wir unser Anliegen mit den Worten deutlich gemacht: die Wahrheit ans Licht bringen, gegen das Vergessen ankämpfen, Gerechtigkeit einfordern. Um diese drei Punkte geht es uns. Doch die Wahrheit fürchten die Behörden am meisten."
Schikaniert, überwacht, verfolgt
Bis heute gab es von Seiten der Kommunistischen Partei für die Ereignisse vom 4. Juni 89 kein Wort des Bedauerns, keine Entschuldigung, keine öffentliche Untersuchung, nicht einmal eine genaue Zahl der Toten. Und Ding Zilin, Gründerin der Sammelbewegung Mütter des Tian'anmen, hat für ihre Suche nach Gerechtigkeit einen hohen Preis gezahlt. Als sie drei Jahre nach dem Tod ihres Sohnes ausländischen Medien erstmals ein Interview gab, wurde ihr die Lehrerlaubnis entzogen.
Seit Jahren wird die alte Dame von der Polizei schikaniert, überwacht, verfolgt. In den chinesischen Medien wird sie tot geschwiegen. Im Internet ist ihr Name blockiert. Dieses Jahr ist es besonders schlimm. Seit Wochen schon ist sie aus Peking verbannt. Sie und ihr schwer kranker Mann dürfen erst nach dem Jahrestag wieder zurück in ihre kleine Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses. Das Interview mit Ding – wie alle Interviews in dieser Sendung – hat das ARD-Hörfunkstudio bereits vor mehreren Monaten aufgezeichnet, als sich die Angehörigen der Opfer, die ehemaligen Protestler und Unterstützer noch relativ frei bewegen durften.
Darunter auch Huang Jinping. Auch sie lebt in einer kleinen Wohnung in einem schmucklosen Hochhausblock. Unter ihrem Bett hat die 51jährige einen alten Schuh-karton hervorgeholt. Sie sucht nach Kassetten. Nach Audio-Aufnahmen, die ihr erster Mann Yang Yansheng damals auf dem Platz des Himmlischen Friedens gemacht hat.
"Mein Mann arbeitete damals für eine Sport-Zeitschrift. Er war ein sehr leidenschaftlicher junger Mann und fühlte sich von den protestierenden Studenten angezogen, hat schließlich mitgemacht. Er war von ihren Ideen überzeugt, es entsprach seinen Idealen und daher hat er sich engagiert."
Die Aufnahmen von damals klingen heute wie aus einer anderen Welt. Für die Kassetten gibt es fast keine Abspielmöglichkeiten mehr. Das ARD-Studio musste die Bänder erst digitalisieren lassen. Mal sind die Studenten zu hören, Reden auf dem Platz, Forderungen nach Reformen, Freiheit und Mitbestimmung. Mal ist es Yang, Huangs Ehemann, der Gedichte rezitiert. Der Frühling werde kommen, deklamiert er voller Leidenschaft:
"Meine Hoffnungen auf die Zukunft", heißt es in dem Gedicht. Alles ist wunderschön, hell und voller Energie. Dass auch Yang den Militäreinsatz nicht überlebte, war ein tragischer Zufall. Er hatte in den frühen Morgenstunden des 4. Juni einer verletzten Frau helfen wollen, als er selbst von einer Kugel getroffen wurde. Die Erinnerungen machen Huang Jinping bis heute schwer zu schaffen:
"Für viele ist das ein Ereignis, das lange zurückliegt. Aber für Menschen wie mich ist es, als wäre das alles gestern passiert."
Die Nerven liegen blank
Ihre Geschichte hat Huang noch nie ausführlich erzählt. Während des Interviews bricht sie mehrfach weinend zusammen. Die Nerven liegen blank unter einer mühsam aufrecht erhaltenen Fassade der Normalität und des jahrelangen Schweigens. Selbst ihrem eigenen Sohn, der 89 erst anderthalb Jahre alt war, hat Huang jahre-lang verschwiegen, warum er ohne seinen leiblichen Vater aufwachsen musste. Sie wollte nicht, dass er durch die Verbindung zu den Protesten von damals Nachteile erleidet. Dabei ist das Trauma von 89 für Huang immer noch präsent. Tagelang hatte sie damals in den heißen Juni-Tagen, begleitet von sporadischem Gewehrfeuer, in den Krankenhäusern der Stadt nach ihren Mann gesucht.
"An der Leichenhalle wollte man mich nicht durchlassen. Ich habe gebettelt, nach meinem Mann suchen zu dürfen; ich habe geweint und die Wachen angefleht. Ein älterer Mann hatte schließlich Erbarmen und hat mich rein gelassen. Drinnen waren mehrere Berge von Leichen zu sehen. Der Mann sagte, sie hätten die Toten dort auf-schichten müssen, weil sie einfach keinen Platz mehr hatten."
Wie viele Menschen im Juni 89 entweder von Panzern überrollt oder von der Armee erschossen wurden, weiß bis heute nur die Regierung. Die Zahl ist ein streng gehü-tetes Staatsgeheimnis. Die Mütter vom Tian'anmen haben die Namen von über 200 Toten gesammelt. Schätzungen gehen von hunderten von Toten, vielleicht sogar von mehreren tausend aus. Darunter eben nicht nur protestierende Studenten, sondern auch viele Pekinger Bürger, die eher zufällig ins Kreuzfeuer der Soldaten geraten sind. Dass die Armee auf das eigene Volk schießen könnte, galt bis zum Juni 89 den meisten Chinesen als unvorstellbar.
"Wir waren mit dem Glauben groß geworden, dass die Soldaten der Volksbefreiungsarmee zu den besten Menschen gehören. Wie konnte es sein, dass diese Menschen auf Zivilisten, auf das eigene Volk schießen? Für uns war das unmöglich zu verstehen."
Der Platz des Himmlischen Friedens ist heute eine der großen Touristenattraktionen der Stadt. Jeden Tag kommen mehrere tausend Besucher nach Peking – vor allem aus der chinesischen Provinz. Denn der Tian'anmen mit dem Mao-Mausoleum, der Großen Halle des Volkes, dem Mao-Portrait an der Nordseite ist das politische Zentrum Chinas. Auch hier darf nichts an die Ereignisse vom Juni 89 erinnern. Der Platz wimmelt daher nicht nur von Touristen, sondern auch von Sicherheitskräften in Zivil. Sie sollen verhindern, dass vom Tian'anmen jemals wieder eine Protestbewegung ausgeht. Jeder Papierschnipsel, der auf den Boden fällt, wird geprüft, ob sich dahinter nicht doch ein Flugblatt verbirgt.
Derzeit herrscht große Angst
Mehr noch – die Partei hat den Platz in den letzten 25 Jahren mehr und mehr für sich vereinnahmt. Mit einer Flaggenzeremonie zum Sonnenaufgang, zu der die Nationalhymne gespielt wird. Und mit Kranzniederlegungen am Nationalfeiertag, zu denen die gesamte politische Führung antritt. Der Tian'anmen soll im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr ein Platz des Protests sein, sondern ein in Stein gemauertes Symbol des Patriotismus und der Macht der Kommunistischen Partei. Für Frauen wie Ding Zilin ist das schwer erträglich:
"In den letzten 25 Jahren habe ich den Platz des Himmlischen Friedens kein einziges Mal betreten. Ich mag dort weder hingehen, noch den Platz anschauen. Wenn ich zum Bahnhof muss, mache ich um den Platz einen großen Bogen. Zum einen weil mein Sohn auf der Straße des Himmlischen Friedens getötet wurde, aber auch weil bis heute das Portrait von Mao am Tian'anmen Tor hängt. Für mich als Intellektuelle ist das nicht akzeptabel. Eines Tages wird das Portrait verschwinden. Vielleicht nicht mehr zu meinen Lebzeiten. Aber wenn ich zehn Jahre jünger wäre, hätte ich noch Hoffnung."
Ding Zilin war früher selbst Mitglied der Kommunistischen Partei. Heute betrachtet sie das als großen persönlichen Makel. So wie viele, die durch die Ereignisse von 89 politisiert und der KP entfremdet wurden. Die Partei, sagen sie heute, habe damals ihr wahres Gesicht enthüllt. Es war das Ende aller Illusionen. Und nicht nur für Ding Zilin: Jiang Qisheng beispielsweise war 89 Doktorand in Philosophie und einer der Organisatoren eines Studenten-Komitees, das den Dialog mit der Parteiführung suchte. Die Forderungen von damals – nach mehr Mitbestimmung, mehr Demokratie, weniger Korruption und Vetternwirtschaft - seien heute genau so aktuell. Nur im Rückblick, sagt Jiang, seien er und seinen Mitstreiter naiv gewesen:
"Intellektuelle und Studenten waren damals überzeugt, dass die Reformen vertieft werden müssen, dass die politischen Reformen mit den wirtschaftlichen Schritt halten müssen. Das war uns ein dringendes Anliegen. Aber anders als heute glaubten wir noch an die Kommunistische Partei. Wir dachten die Reformen müssten von der Partei kommen; wir wollten von der Partei geführt werden, von der wir meinten, sie könne die Probleme lösen."
"Die Unterdrückung ist extrem"
Politisch herrscht derzeit die Angst, denn jeder weiß, wie hoch der Preis ist für Engagement oder Protest: Sei es Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der derzeit eine elfjährige Haftstrafe absitzt. Xu Zhiyong, der aus den Untertanen der Partei mündige Bürger machen wollte – und im Januar für vier Jahre im Gefängnis landete. Der ehemalige Tian'anmen-Aktivist und Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang, der vor wenigen Wochen verhaftet wurde. Oder Sacharov-Preisträger Hu Jia, der zwar vielen mit seinem Aktionismus auf die Nerven geht, und trotzdem immer weitermacht.
"Die Unterdrückung ist extrem. Jeder Bürgerrechtler weiß, dass er jederzeit verhaftet werden kann. Die Regierung erlaubt keinerlei Form der organisierten Opposition – weder für die Opfer von Landenteignungen, noch freie Gewerkschaften. Sie wissen genau, wie sie jeden Bürger wie ein Atom isolieren können, so dass sie sich nicht zusammenschließen können."
Hu Jia war 1989 gerade mal 15 Jahr alt und in der Mittelschule. Aber auch ihn haben die Ereignisse auf dem Tian'anmen geprägt und ihn zum Dissidenten erst gemacht. Er steht regelmäßig unter Hausarrest, war lange inhaftiert und ist ebenfalls zum Jahrestag am 4. Juni zum Schweigen verurteilt worden.
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