Als "Sozialheld" unterwegs für Teilhabe und Inklusion
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Jeder zehnte Mensch in Deutschland ist behindert. Im Alltag zu sehen sind sie kaum. Das will Raul Krauthausen ändern. Der Inklusionsaktivist und Gründer der "Sozialhelden" kämpft für mehr Selbstbestimmung.
Vor seiner Anfahrt zu uns ins Funkhaus hat sich Raul Krauthausen erstmal erkundigt, ob die Aufzüge der U-Bahnhöfe funktionieren, bei denen er ein- und aussteigen muss. Ein für ihn als Rollstuhlfahrer geeignetes Taxi hätte schon circa drei Wochen vorher bestellt werden müssen. "Wir leben im 21. Jahrhundert. Wie kann es eigentlich sein, dass es in Berlin noch immer nahezu unmöglich ist, ein Rollstuhl-gerechtes Taxi zu bekommen?"
Das sind Fragen, mit denen sich Menschen mit Behinderung täglich auseinandersetzen müssen. Als eine Antwortmöglichkeit hat Krauthausen die Wheelmap entwickelt. Auf dieser Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte kann inzwischen weltweit nachgeschaut und bewertet werden, wie zugänglich Orte, Gebäude, Bahnhöfe etc. sind. "Wir sind in über 25 Sprachen online, haben inzwischen eine Million Einträge und sind damit das größte Projekt der Welt zu dem Thema."
Die Wheelmap ist nur eins der vielen Projekte, die der 39-jährige Raul Krauthausen mit seinem Verein "Sozialhelden" initiiert hat. "Das ist ein gemeinnütziger Verein mit der Idee, soziale Innovationen für Menschen mit Behinderungen voranzutreiben."
"Menschen im Rollstuhl haben Probleme in Deutschland"
Über den Grund dafür, dass er im Rollstuhl sitzt, bzw. über die genaue Diagnose – Glasknochen, also Knochen, die deutlich schneller brechen als bei anderen Leuten – redet Krauthausen nicht besonders gerne: "Nicht, weil ich damit ein Problem habe, sondern weil ich einfach denke, dass es irrelevant ist, ob ich Glasknochen, Muskelschwund oder eine Querschnittlähmung habe. Fakt ist, ich sitze im Rollstuhl, und Fakt ist, Menschen im Rollstuhl haben Probleme in Deutschland." Wichtig ist ihm, herauszufinden, was die Gesellschaft tun kann, um Teilhabe und Teilgabe, also produktive oder künstlerische Beiträge behinderter Menschen, zu ermöglichen.
Krauthausen hatte das Glück, dass er schon von klein auf inklusive Einrichtungen besuchte. "Meine Eltern hatten keine Ahnung von Inklusion oder Integration, sondern sie sind einfach den Fußstapfen einer anderen Familie gefolgt, die auch ein behindertes Kind hatte. Ich hätte auch genauso gut in einer Behindertenwerkstatt landen können. Erst zum Beginn des Studiums habe ich realisiert, dass die Schullaufbahn, die ich durchlebt habe, total untypisch ist für Menschen mit Behinderungen in Deutschland." Auch Dank einer klaren Haltung seiner Mutter hat Krauthausen frühzeitig gelernt, "auf eigenen Beinen oder Rädern" zu stehen, wie er sagt.
Teilhabe durch Inklusion
Man solle nicht zu viel Angst haben, dass Kinder mit Behinderungen in inklusiven Schulen untergehen oder gemobbt werden. Natürlich seien bestimmte Regeln wichtig. "Bei uns hieß die soziale Regel: Bei Raul wird nicht getobt." Auch im Sinne der Teilhabe empfehle es sich nicht, Menschen mit Behinderungen in Sonderschulen oder speziellen Werkstätten mit Hungerlöhnen zu isolieren oder auszusondern.
Nach seinem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studierte Krauthausen noch ein Jahr Design-Thinking. In diesem interdisziplinären Studiengang befasst man sich mit Innovationen, Kreativitätstechniken und Ideenfindung. "Man erarbeitet in interdisziplinären Teams Lösungen für komplexe Problemstellungen", erklärt er. Dieses Training im Problemelösen kommt ihm bei seiner täglichen Arbeit als Inklusionsaktivist mit Sicherheit zugute.
Lösungen finden und Ungerechtigkeiten abbauen
Wenn naheliegenden Lösungen staatlicherseits Hürden in den Weg gestellt werden, hilft allerdings auch die beste Ausbildung nichts. So laufen pflegerische Hilfeleistungen für Menschen mit Behinderungen beispielsweise über das Sozialamt.
"Das bedeutet, dass ich ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten darf. Das heißt, Karriereaufstiegsmöglichkeiten mit mehr Gehalt sind mir grundsätzlich verwehrt. Alles, was ich mehr verdienen würde, würde das Sozialamt sofort wieder einkassieren und ich dürfte nicht mehr sparen als 25.000 Euro. Ich darf nicht erben. Altersvorsorge, Bausparvertrag, Ausbildungskonto für die eigenen Kinder sind nicht drin. Und auch ein Auto werde ich mir so nicht leisten können."
Dazu kommt, dass das Sozialamt nicht nur alle drei Monate die Kontoauszüge anfordert, sondern auch den halbjährlichen Nachweis, dass die Behinderung noch immer Bestand habe. Nein, Glasknochen verwandeln sich nicht über Nacht in normale Knochen.
Menschen mit Behinderungen seien doppelt bestraft als nur von Barrieren behindert, für deren Beseitigung sie auch noch selbst zahlen müssen. Daran, dass solche teilweise demütigenden Ungerechtigkeiten irgendwann der Vergangenheit angehören, arbeitet Raul Krauthausen unermüdlich - in Zukunft vielleicht weniger brav als bisher. "Ich resigniere nicht und habe Hoffnung auf die kommende Generation, dass sie auch mehr will, erwartet und verlangt."
(mah)