Zwischen Hass und Versöhnung
Ist die Religion ein Anheizer für Konflikte oder Partner bei der Suche nach Lösungen? Christoph Strässer, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, antwortet darauf mit dem Verweis auf die Ereignisse in Nigeria und Afghanistan.
Kirsten Dietrich: Am Beispiel Syrien haben wir gerade gehört, wie schwierig es ist, Fragen der Religion in Konflikten den angemessenen Raum zu geben. Das gilt natürlich nicht nur für Syrien. Überall in der Welt gibt es Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen, die vor allem als religiöse Streitigkeiten erscheinen. Beispiele könnten sein Nigeria, die Zentralafrikanische Republik, Myanmar. Religion erscheint vor allem als Kriegsgrund, als gefährlicher Absolutismus, der Menschen zu blindem Fanatismus anzustacheln scheint. Und doch gibt es natürlich auch das Gegenteil, Trauerarbeit zum Beispiel und die Suche nach Versöhnung, die vor allem von religiösen Gruppen getragen werden.
Wie lässt sich da die richtige Balance finden, wenn man sich zum Beispiel im Namen der Bundesregierung für Menschenrechte einsetzen soll? Genau das macht Christoph Strässer, Bundestagsabgeordneter der SPD und seit Anfang dieses Jahres Beauftragter für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Ich habe mit Christoph Strässer am Rand einer Tagung gesprochen, in der das Friedensgutachten 2014 in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt diskutiert wurde. Und ich wollte wissen, wie er Religionen in seiner Arbeit als Menschenrechtsbeauftragter erlebt, eher als Partner oder eher als Verhinderer?
Christoph Strässer: Ich nehme beides wahr, es gibt viele Kräfte in den Religionsgemeinschaften, die sehr stark auf Versöhnung, die sehr stark auf Dialog setzen, und mit denen kann man wirklich gut zusammenarbeiten. Und da gibt es auch Entwicklungen, die auch zur Lösung von Konflikten beitragen. Es gibt aber auch die anderen und das sind nun sehr stark Gruppen, die evangelikal geprägt sind, die auch dazu dienen, zum Beispiel Hass zu produzieren gegen andere Gruppen, auch gegen anders Denkende. Und die bremsen natürlich Versöhnungsprozesse sehr intensiv und die gibt es in allen Religionsgemeinschaften.
Vielschichtiges Konflikt in Nigeria
Dietrich: In dieser Woche haben fünf deutsche Friedensforschungsinstitute ihr jährliches Friedensgutachten hergestellt und darin diskutieren sie Religion im Konflikt an verschiedenen Beispielen. Ein Beispiel davon ist Nigeria, da ist hier vor allem der Terror der islamistischen Gruppe Boko Haram präsent. Aber der Konflikt ist noch viel vielschichtiger, es geht um den Kampf zwischen dem reichen Süden und dem armen Norden, zwischen dem christlich geprägten Süden, dem eher muslimisch geprägten Norden. Wie geht man da als Menschenrechtsbeauftragter um, mit einem solchen Konflikt? Kümmert man sich dann um die religiösen Aspekte oder sagt man, das ist eigentlich nur die Oberfläche, uns interessieren oder mich interessieren die politischen, die wirtschaftlichen Dimensionen dieses Konflikts und die gehe ich dann an?
Strässer: Also, ich denke, beides muss passieren. Die Konflikte sind nicht in erster Linie Konflikte zwischen Konfessionen, zwischen Religionsgemeinschaften, aber sie laufen unter dieser Überschrift. Und deshalb ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass Politik mit den Religionsgemeinschaften, mit denen, die auch sich gegen diese Konflikte aussprechen, in Kontakt bleibt, darüber redet, damit auch die deeskalierend wirken können auf die Konfliktparteien zum Beispiel in Nigeria. Aber es ist auch die Wahrheit, dass diese, wie das so schön heißt, religiös konnotierten Konflikte Probleme verdecken, die in den Gesellschaften existieren, und zwar unabhängig von den Religionsgemeinschaften.
Da geht es um Ressourcenverteilung, da geht es um Macht, da geht es um Einfluss und auch um ganz, ganz viel Geld. Und die wird eben unter der Überschrift "Das ist ein religiöser Konflikt" betrieben. Und das macht die Sache so schwierig und so vielschichtig, weil es da Solidaritäten gibt, die aus meiner Sicht gar nichts mit dem eigentlichen Konflikt zu tun haben. Das heißt, wenn soziale Konflikte gelöst werden in den jeweiligen Ländern, auch in Nigeria, dann werden diese religiösen Fanatiker, die die Menschen benutzen, um ihre Interessen durchzusetzen, dann werden die letztendlich weniger Potenzial finden. Und diese Konflikte müssen anders gelöst werden als auf dieser religiösen Schiene.
Falsche Reduzierung auf die Verfolgung von Christen
Dietrich: Das heißt, das Wahrnehmen des religiösen Potenzials in solchen Konflikten erschwert eher die Suche nach einer Lösung?
Strässer: Ich glaube das schon, weil da versucht wird, so was wie Identitäten zu organisieren der jeweiligen Betroffenen von Religionsgemeinschaften. Wer da nicht genau hinsieht, wird natürlich in diese Falle laufen. Wir haben das auch in Diskussionen, zum Beispiel in einer Aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag vor zwei Wochen, festgestellt, dass zum Beispiel die Entführung dieser Schülerinnen in Nigeria durch Boko Haram reduziert wurde auf Christenverfolgung. Und ich glaube, dass dies der falsche Weg ist. Das sind Machtkonflikte, die sich in verschiedenen Strukturen der Gesellschaft abspielen. Und sie zu reduzieren auf Christenverfolgung, auf Religionsauseinandersetzungen, wäre für mich der falsche Ansatz. Und da wird man auf Sicht keine Lösung für finden, wenn man so argumentiert.
Dietrich: Hat denn dann die klassische Diplomatie, über die Sie als Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung verfügen, die richtigen Mittel, die richtigen Instrumente, um in solchen Konflikten, in denen Religion auch eine Rolle spielt, einzugreifen?
Strässer: Es ist ausgesprochen schwierig in dem jetzigen Stadium des Konfliktes. Die Gewalt ist eskaliert und die Auseinandersetzungen werden sich – das ist leider Gottes ein Teil der Wahrheit, so wie ich sie wahrnehme – durch die herkömmlichen Instrumente der Politik, durch Prävention, durch Deeskalierung nicht mehr lösen lassen. Und deshalb ist es in dieser Situation eine Besonderheit, die Fragen, wie man das verhindert, die sollten jetzt im Vordergrund stehen.
Und da hat die Politik Mittel, da hat sie im Bereich der Prävention, es gibt viele Instrumente, Mediation zu betreiben, die Menschen an einen Tisch zu bringen, Deeskalationsstrategien anzufangen. Die gibt es überall, weltweit, und da sind wir auch gerade aus Europa und auch aus Deutschland dabei, das zu entwickeln und in vielen Regionen auch durchzusetzen. Aber es gibt natürlich auch Konfliktstadien, wo solche Instrumente nicht mehr wirken. Und ich fürchte, der Konflikt in Nordnigeria ist in einem solchen Stadium angekommen.
"Dialogfaden mit den offiziellen Kirchen nicht abreißen lassen"
Dietrich: Wenn wir den Blick mal von Nordnigeria ein bisschen weiten generell auf Konfliktvermeidung, auf Konfliktbearbeitung, welche Rolle spielen da religiös geprägte Träger? Ganz viele Gruppen in der Zivilgesellschaft, die sich um Konfliktbearbeitung kümmern, die zum Beispiel Friedensdienste organisieren oder so was, sind religiös geprägt. Spielen die eine besondere Rolle?
Strässer: Sie könnten es. Es gibt ja viele auch internationale Treffen auf der religiösen Ebene unterhalb dieser offiziellen Institutionen, wo sich gerade junge Menschen ja zusammen treffen und denen es, ich sage es mal etwas platt, völlig egal ist, ob der eine katholisch, der andere evangelisch, der Dritte Muslim, der Vierte Buddhist, der Fünfte Hindu ist. Die treffen sich miteinander, versuchen, diese kulturellen Barrieren, die aufgebaut worden sind von anderen, zu überwinden. Und ich glaube, dass in diesen Bewegungen auch ein ganz, ganz großes Friedenspotenzial steckt.
Wir reden jetzt ganz oft über Konflikte, die betrieben werden unter der Überschrift "Religiös", aber es gibt sicherlich auch bei den Mitgliedern von Kirchengemeinden, von anderen religiösen Gemeinschaften als den christlichen, ein ganz hohes Potenzial. Und ich finde, das muss auch gefördert werden durch Politik, aber eben auch durch die Kirchen selber. Denn ich glaube, auch dort, wo die Konflikte entstehen, wo man sieht, es entstehen Konflikte, darf man den Kontakt und den Dialogfaden mit den offiziellen Kirchen nicht abreißen lassen, weil sie letztendlich auch Verantwortung übernehmen müssen bei der Deeskalation solcher Konflikte.
Dietrich: Inwieweit ist da die Außenpolitik eines christlich geprägten Landes, wie es Deutschland ja doch so in seiner großen Gesamtheit wahrscheinlich immer noch ist, ein neutraler Vermittler? Es gibt ja immer wieder den Vorwurf zum Beispiel, die Menschenrechte seien in Wirklichkeit gar kein neutrales Konzept, sondern die seien eines, das nur im christlichen Zusammenhang überhaupt Sinn ergibt.
Strässer: Ja, diese Diskussion ist in der Tat im Gange und sie verstärkt sich. Deshalb sage ich auch immer wieder, dass Außenpolitik auch eines Landes wie Deutschland, aber auch der EU nicht nur immer wieder auf die Konflikte hinweisen und Lösungsmöglichkeiten anbieten muss, sondern dass das auch mit Fingerspitzengefühl passiert. Es darf nicht sein – und ich erlebe das relativ häufig auch gerade bei Delegationen, bei Reisen in verschiedene Länder –, dass uns genau das vorgehalten wird: Die Werte, die ihr vertretet, sind nicht die unseren, wir haben andere Traditionen, wir haben andere Kulturen, und deshalb lasst uns mit euren westlichen Werten ein Stück weit in Ruhe!
Und ich finde, diesen Eindruck darf man in den Dialogen mit anderen Religionen, mit anderen Kulturen nicht aufkommen lassen. Wir brauchen klare Ansprachen, wir brauchen ein klares Bekenntnis zu den Menschenrechten, die keine westliche Erfindung sind, sondern alle diese Staaten, die uns das vorhalten, haben die großen menschenrechtlichen Konventionen freiwillig unterschrieben und sie haben damit Verpflichtungen übernommen. Und sie daran zu erinnern und das aber nicht so zu tun, als seien wir diejenigen, die ihnen das aufoktroyieren, ich glaube, das ist der schmale Grad, auf dem man sich bewegt. Aber ich finde, anders geht es nicht. Das, was uns vorgeworfen wird, so was wie ein Werteimperialismus, diesen Eindruck dürfen wir auf keinen Fall in diesen Diskussionen verbreiten.
Bewegung von unten soll höheren Stellenwert bekommen
Dietrich: Friedenspotenzial, das ist immer der Selbstanspruch von Religionen, dass sie Friedenspotenzial haben. Trotzdem wird meist das Konfliktpotenzial wahrgenommen. Wenn es dieses Friedenspotenzial gibt, wie kann das vielleicht für den Einsatz für die Menschenrechte eingesetzt werden?
Strässer: Ich glaube, es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass es große Begegnungen gibt, interreligiöse Begegnungen, in denen dieser Dialog geführt wird. Und ich würde mir wünschen, dass diese Bewegung von unten – die gibt es ja auch in Deutschland sehr zahlreich –, dass die einen größeren Stellenwert auch in der offiziellen Politik der Kirchen bekäme. Wir haben ja immer noch – ich rede jetzt von den beiden christlichen Kirchen – sehr starke Hierarchien, sehr starke Entscheidungsgewalt von denjenigen, die in der Hierarchie ganz oben stehen. Aber ich glaube, dass das eben auch eine Möglichkeit ist, für mehr Demokratie in den eigenen Strukturen zu sorgen. Also Mitspracherechte größer zu gewähren und den Leuten, die sich für diese Friedensidee starkmachen, die ja eine christliche Idee ist, mehr Spielraum zu geben, mehr Freiheit zu geben und ihnen eben auch die Möglichkeit zu geben, mit anderen in diesen Kontakt zu treten. Ich glaube, dass diese Potenzial da ist und dass es noch deutlicher geweckt werden muss, als das bisher der Fall ist.
Dietrich: Müsste dann auch der Islam noch viel mehr eingebunden werden, auch in Deutschland?
Strässer: Ja, das ist natürlich eine ganz wichtige Ebene. Wenn man über den Islam redet, ich habe jetzt sehr viel übers Christentum geredet, natürlich gibt es solche Strukturen auch im Islam. Es gibt auch da die offiziellen Verlautbarungen in vielen Staaten, es gibt die Organisation islamischer Konferenzen, die immer wieder darauf pochen, dass der Islam die eigentliche Religion ist, die weltweit existieren muss, aber auch dort gibt es natürlich Bewegungen, die sich von dieser Diskussion nicht beeinflussen lassen. Und ich finde, wir sind gerade hier in dieser Gesellschaft, die sich ja immer weiter entwickelt, in der immer mehr Kulturen zusammenkommen, gut beraten, wenn wir die miteinbeziehen würden und ihnen einen gleichberechtigten Platz in diesen ganzen Diskussionsstrukturen in unserer Gesellschaft geben.
Zu wenig von den Hilfsgeldern ist bei den Menschen angekommen
Dietrich: In der Diskussion über das Friedensgutachten fand ich eine Formulierung ganz interessant, die des Peace from Ikea, also den Vorwurf, dass der Westen immer nur die gleichen Module vorgibt, immer nur die gleichen Ideen hat dafür, wie eine befriedete Gesellschaft, wie ein gelingender Staat aussehen kann. Woher kann die Fantasie kommen, da auch mal in anderen Bahnen zu denken?
Strässer: Man wird natürlich sehr genau darauf hören müssen, wie sich in den Ländern, um die es geht, mit denen wir da diese Kontakte haben und wo wir ja auch nichts weiter machen können als Angebote, wie sich da die Gesellschaften selber aufstellen. Wir haben aus meiner Sicht in den letzten Jahren immer wieder auf dieselben Strukturen gesetzt, auf dieselben Personen gesetzt, und da ist dann für die Menschen in den Ländern relativ wenig übergeblieben. Und deshalb ist mein Ansatz – ich weiß, dass der vielleicht auch nicht kurzfristig zum Erfolg wird –, viel stärker zu hören auf Zivilgesellschaft. Es gibt in allen Ländern, in allen Gesellschaften eine breite Bewegung, die das Land von innen heraus verändern will. Und da ist es natürlich nicht angemessen zu sagen, wir geben den Regierungen jetzt Geld und die bauen dafür Schulen, Brunnen, ich weiß nicht was. Vieles kommt von dem nicht an und die Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften, mit den Strukturen, die es da gibt, die, finde ich, ist eigentlich die Zukunft. Und da gibt es wirklich überall, von Afghanistan bis in den tiefsten Winkel in afrikanischen Ländern, gute Ansatzpunkte, die wir auch weiter betreiben müssen.
Dietrich: Religion – Anheizer für Konflikte oder Partner bei der Suche nach Lösungen und Versöhnung? Ich sprach mit Christoph Strässer, dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung.
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