Menschenwürde und Menschenrechte
Ob Abschiebung oder Sterbehilfe – bei vielen schwierigen Debatten wird die Menschenwürde als Maßstab herangezogen. Ist der Gedanke der gleichen Würde für alle Menschen urchristlich oder haben die Philosophen der Aufklärung ihn geschaffen?
Gohlis, ein Stadtteil im Leipziger Norden. Hier wohnt man gern, schon wegen der vielen Häuser im Jugendstil. Wie das in der Eisenacher Straße 53. Die Fassade frisch renoviert, an der Klingel im Erdgeschoss steht: "BLICKWECHSEL - Eine Einrichtung des Diakonischen Werkes Leipzig e.V."
"BLICKWECHSEL" kümmert sich um Menschen mit sozialen und psychischen Schwierigkeiten: Menschen, die dauerhaft Hilfe brauchen.
Im Büro von BLICKWECHSEL. Wohlfühlatmosphäre: Schlichte Möbel. Viele Blumen, reichlich Bücher, eine Gitarre an der Wand. Ich treffe Johannes Wonneberger, den Leiter der Einrichtung. Der kann viele Geschichten erzählen:
"Was mir jetzt einfällt, ist ein junger Mann - also, was heißt jung: ich glaube, der ist jetzt Mitte 40 - der kam das erste Mal vor vielleicht 18 Jahren hierher. Der hat in der DDR die sogenannte Hilfsschule besucht, kann schlecht lesen und schreiben, also kann er schon, aber …
Und der wohnte bis vor zwei Jahren bei seinen Eltern. Der kam eben nicht zurecht mit seinem Leben. Zu Hause hat er sich oft gestritten, war häufig außer Haus, weil er seinen Eltern aus dem Weg gehen wollte, und kam aber auch sonst nicht so mit den Leuten in Kontakt."
Der Mann erweist sich als geschickter Handwerker und Gärtner, er fängt an, sich um den Hof, den Rasen, die Blumenbeete zu kümmern, rund um die Bürgerwerkstatt und das Sozialcafé des Vereins.
Schon vor 16 Jahren, sagt Johannes Wonneberger, haben wir dem Mann geraten, bei seinen Eltern auszuziehen.
"Ja, er hatte gesetzliche Betreuer, oder verschiedene Betreuer, mit denen er manchmal recht und schlecht bloß ausgekommen ist. Und es hat einfach so lange gedauert, bis er mal den Mut auch hatte und mit einer Mitarbeiterin in sehr engem Kontakt war, die dann mit eine Wohnung gesucht hat. Und ich habe ihn neulich gefragt, ob er das bereut oder so. Nee. Er hat eigentlich gestrahlt."
"Mit 'Menschenwürde' meinen wir, dass Menschen einen Status haben, der Respekt gebietet. Dass wir mit Menschen nicht wie mit Dingen umgehen. Und dass wir zwischen Menschen in Bezug auf die Frage, ob wir sie moralisch achten sollen, dass wir zwischen Menschen nicht differenzieren."
Rainer Forst, Professor für politische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Die Achtung vor der Würde jedes Menschen - in der Bundesrepublik Deutschland Gebot Nr.1 der Staatsverfassung.
Johannes Wonneberger: "Der Staat hat ’ne gewisse Fürsorgepflicht für seine Bürger. Was in Deutschland so geregelt ist, dass das über diese Wohlfahrtsverbände gemacht wird."
Die beiden größten in Deutschland, der Caritasverband und das Diakonische Werk, sind Organisationen der christlichen Kirchen – und oftmals die erste Anlaufstelle für Menschen in sozialer Not.
"Kann man so schon sagen. Dass viele Leute zu uns kommen, die in irgendeiner Krisensituation stecken und nicht weiter wissen in ihrem Leben. Und die das erste Mal bei uns dann anfangen, sich zu entlasten. Oder eine gewisse Distanz zu ihren Problemen dann durch das Gespräch aufzubauen. Und dann erstmal zu sortieren, wie kann’s weitergehen."
Woher stammt die Idee der Menschenwürde? Und (davon abgeleitet) der Gedanke, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand, Geldbeutel und Sozialprestige, Bildungsabschluss, nationaler Herkunft, sprich: unabhängig von jedem Unterscheidungsmerkmal - gleiche Rechte haben und einander mit Respekt begegnen sollen?
Johannes Wonneberger sieht diesen Gedanken im Geist des Christentums begründet:
"Es steht ja bei uns auch im Grundgesetz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Da steht aber nicht, warum! Also für mich, ich lebe mit der Vorstellung, dass die Menschen Gottes Kinder sind und alle Brüder und Schwestern."
Die Idee der Menschenwürde ist allerdings älter als das Christentum,
wurde schon vor Christi Geburt von Philosophen diskutiert.
In der römischen Republik zum Beispiel von Marcus Tullius Cicero, Schriftsteller, Politiker und wohl der berühmteste Redner der römischen Republik. Cicero meinte: "dignitas" sei die spezielle Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen. Das lateinische "dignitas" bedeutet soviel wie "Ansehen, Stellung" oder auch "Würde". In Ciceros Werk "De officiis", zu deutsch: "Von den Pflichten", heißt es:
Wodurch erhält ein Mensch seine Würde? Dadurch, dass wir alle an der Vernunft teilhaben! Durch diese Vorzüglichkeit übertreffen wir die Tiere.
"Was wichtig ist, dass schon in der damaligen Bedeutung der Mensch mit Würde der freie Bürger in der freien Stadt war. Derjenige, der weder im Haus noch in der Stadt beziehungsweise der Republik der Willkür anderer unterworfen war. Aber das bezog sich natürlich nur auf die Gruppe der männlichen, freien Bürger."
Rainer Forst.
Cicero war nämlich der Ansicht, es gäbe "verschiedene Grade" von Würde: je größer die Verdienste eines römischen Bürgers um seine Republik, desto mehr Würde komme ihm zu.
Die Mehrzahl der Bewohner Roms - Frauen, Fremde, Handwerker, Sklave - hatten nach ciceronischem Maßstab keine Möglichkeit, sich Verdienste um Rom zu erwerben, ergo ließ sich deren Würde auch nicht mit der eines freien Römers vergleichen. "Manche sind eben würdiger als andere", davon war Cicero überzeugt.
Ganz anders die erste Christengemeinde in Rom. Die Anhänger des gekreuzigten Jesus von Nazareth hat man im Jahr 49 zum ersten Mal aus dieser Stadt verbannt, weil sie eben nicht einsehen wollten, dass einem römischen Bürger mehr Würde zukommt als einem römischen Sklaven. Und dass man dem römischen Kaiser als oberstem Würdenträger gar zu verehren habe wie einen Gott.
Jesus von Nazareth hatte mit "Zöllnern und Sündern" am Tisch gesessen, sich blinden Bettlern zugewandt, Lahme und Aussätzige geheilt, beflügelt von der Überzeugung: vor Gott sind alle Menschen gleich.
Ihr seid teuer erkauft. Werdet nicht der Menschen Knechte!
mahnt (mit Blick auf Jesu Kreuzestod) Paulus, der Apostel, die Christengemeinde in Rom. Sie möge sich vielmehr besinnen auf "die herrliche Freiheit der Kinder Gottes!" In den Idealen des Urchristentums liegt zweifellos eine kulturkritische Kraft.
Rainer Forst: "Darin, dass jedes Kind Gottes als moralisch achtenswert angesehen wurde. Allerdings wurde das damals weniger mit dem Begriff der Würde verknüpft, sondern eher mit Begriffen wie 'Barmherzigkeit' und anderen Worten moralischer Rücksichtnahme."
Die christliche Ethik wurzelt bekanntlich in der jüdischen. Aus dem Buch Genesis der hebräischen Bibel:
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Und schuf sie als Mann und Weib. (Gen 1.27)
Der Mensch ist das Ebenbild Gottes. Jeder Mensch. Daher seine Würde und seine Freiheit. Allerdings: In der jüdisch-christlichen Ethik geht es ursprünglich nicht um die irdische, die politische Freiheit, sondern um die Freiheit des Geistes und die Erlösung der Seele.
Laut Johannes-Evangelium hat Jesus beim Verhör durch Pontius Pilatus ausdrücklich betont:
Mein Reich ist nicht von dieser Welt! Wäre es von dieser Welt, so würden meine Leute darum kämpfen, dass ich nicht der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert werde. (Joh. 18. 21)
Rainer Forst: "Das Christentum ging davon aus, dass dem Heil der Seele, und zwar als gar nicht in der Zeit befindliches Heil, dass dem die größte Sorge gelten muss. Und insofern war die Idee, dass Menschen als Individuen während ihres irdischen Daseins eine Freiheit haben, sich selbst zu bestimmen, eine Idee, die sich erst sehr langsam durchsetzen musste."
Würde ist ein Wert, der jedem Menschen zukommt. Dieses urchristliche Ideal "vom Himmel auf die Erde" zu holen, sprich: die Forderung "Gleiche Würde und gleiches Recht für alle!" in der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen, war (und ist!) ein langer politischer Weg. Rainer Forst:
"Ernst Bloch hat mal ein schönes Buch geschrieben: 'Über Naturrecht und menschliche Würde', in dem er schreibt: 'Die Menschenwürde ist nicht angeboren, sondern erkämpft!' Das ist schön ausgedrückt. Dialektisch gesprochen müsste man sagen: 'Auch wenn sie angeboren wäre, müsste sie dennoch erkämpft werden.'"
Ernst Bloch, der Philosoph, hat auch auf die politische Sprengkraft des Christentums hingewiesen: auf das revolutionäre Potenzial der Überzeugung, Gott habe jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen.
Ernst Bloch, "Der Atheismus im Christentum": "Wie unangenehm für alle Tyrannen! Ein Subjekt, das sich in Personalunion mit dem höchsten HERRN dachte, gab, wenn es damit Ernst machte, einen äußerst schlechten Leibeigenen ab."
Da Adam grub und Eva spann,
Wo war denn da der Edelmann?
sangen die Thüringer Bauern im Mai 1525, als sie bei Frankenhausen gegen ein Fürstenheer zu Felde zogen. Ihr Anführer: Thomas Münzer, Theologe der Revolution.
Rainer Forst: "Diese Idee von gottgegebenen, natürlichen Rechten der Individuen war eine polemische Idee! Gegen ebenso mit dem Christentum verbundene Legitimationen von Gottesgnadentum. Oder einer Feudalherrschaft, die als Gottes Wille angesehen wurde."
Nicht nur die Bauern, sondern auch ihre Feinde mit Fürstentitel stritten in der Überzeugung, sie hätten ihre Ämter und Würden "von Gottes Gnaden" empfangen. Im späten 17. Jahrhundert kam unter Philosophen die Überzeugung auf, man müsse Fragen der Menschenwürde und der Menschenrechte unabhängig von der Gottesfrage betrachten.
"Ganz wichtig war wohl die Erfahrung dieser konfessionellen Bürgerkriege. Ganz schrecklich natürlich im Dreißigjährigen Krieg, wo sich die Menschen der Ideologie zufolge die Schädel eingeschlagen haben, weil der eine evangelisch und der andere katholisch war. Und irgendwie hat sich dann doch die praktische Vernunft durchgesetzt.
Und man hat gesagt: 'Wenn wir überhaupt Frieden haben wollen, dann müssen wir auf konfessionelle Streitigkeiten verzichten und müssen uns so einigen!' Das hat dann dazu geführt, dass letztlich, natürlich auf eine längere Zeit hin, die Legitimation der politischen Herrschaft von der Religion unabhängig wurde","
Herbert Schnädelbach, Professor für Philosophie, über das beginnende Zeitalter der Aufklärung.
Die zentrale Figur einer aufgeklärten Begründung der Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde besitzen und darum gleiche Rechte beanspruchen können, ist zweifellos Immanuel Kant. Kant bringt das Thema Menschenwürde, ähnlich wie schon Cicero, in Zusammenhang mit der Begabung des Menschen zur Vernunft. Rainer Forst:
""Mit Würde behandelt zu werden, aber auch mit Würde zu handeln, bedeutet, seiner Eigenschaft als Vernunftwesen gerecht zu werden. Und 'Vernunftwesen' heißt, nach allgemeinen Normen zu handeln. In diesem Sinne ist die Person mit Würde die vernünftige Person, die sich als Mitglied eines Reichs autonomer Wesen versteht. Sodass sie ihr Handeln an Gesetzen ausrichtet, die alle vernünftigen Wesen akzeptieren können."
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
schreibt Kant in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten." Mit anderen Worten: Bei allem, was Du tust - überlege, ob Du wollen kannst, dass alle Menschen so handeln, wie Du in diesem Augenblick. Und wo immer Du mit Menschen Umgang pflegst, frage Dich: Würdest Du es tolerieren, von dem oder der Anderen so behandelt zu werden, wie Du ihn oder sie gerade behandelst? Wenn nicht, dann ändere Dein Verhalten.
Rainer Forst: "Für Kant ist die Vernunft ein praktisches, moralisches Vermögen. Wer vernunftbegabt ist und seine Vernunft richtig verwendet, wird, wenn er bestimmte Ziele verfolgt, innehalten können und sich fragen können: 'Habe ich gute Gründe, diese Ziele zu verfolgen? Oder setzte ich meine Zwecke ohne ausreichende Rechtfertigung vor die Zwecke anderer? Instrumentalisiere ich sie, übervorteile ich sie?'"
Kant kommt aus der Tradition christlich-protestantischer Religiosität, er persönlich betrachtet unser moralisches Gewissen als "den inwendigen Richterstuhl Gottes". Aber, und das ist wesentlich, die Kantsche Ethik kommt ohne jede religiöse Begründung aus. Sie ist für Gläubige aller Religionen wie für Atheisten gleichermaßen akzeptabel, weil sie auf keine anderen Voraussetzungen gründet als auf die menschliche Fähigkeit zur Vernunft.
Rainer Forst: "Würden wir wirklich davon ausgehen, dass zur Begründung der Moral ein bestimmter Glaube, eine bestimmte Form des Glaubens an einen Gott gehörte, müssten wir natürlich die Konsequenz ziehen, dass diejenigen, die an diesen Gott nicht glauben, sozusagen moralische Analphabeten wären. Das ist ein relativ hoher Preis, und in unserer Alltagspraxis gehen wir so nicht vor. Wir treffen ständig auf Leute, die entweder gar nicht an Gott glauben oder ganz anders, als es die Christen sich vorstellen. Und selbstverständlich nehmen wir an, dass Menschen die Fähigkeit zur moralischen Reflexion haben. Wir gehen davon aus, dass die Quellen dieser moralischen Reflexionsfähigkeit nicht solche des Glaubens sind. Sondern bestimmter Erfahrungen mit sich selbst und anderen, dass man gelernt hat, was es heißt, auf andere einzugehen, auf sie Rücksicht zu nehmen und sie mit Achtung zu behandeln."
"Ich denke nicht, dass Menschen, die sagen, sie sind nicht gläubig, dass man denen einreden müsste, dass sie insgeheim doch irgendwie gläubig sind. Weil: Das gehört für mich auch zur Würde des Menschen, dass man akzeptiert, was einer von sich preisgibt oder zeigt. Und dass man nicht von hinten durch die Brust ins Auge doch noch einen Überzeugungsversuch startet."
Johannes Wonneberger. Wer Hilfe sucht beim Diakonischen Werk Leipzig e.V., wird nicht nach seiner religiösen Überzeugung befragt.
"Wir sind ja verpflichtet, weltanschaulich neutral zu arbeiten. Weil wir natürlich zu 80 bis 90 Prozent von Steuermitteln finanziert sind. Da können wir nicht sagen: 'Wir betreuen nur die frommen Menschen!'"
Auch unter den Mitarbeitern des Vereins gibt es nicht nur bekennende Christen.
"Nee. Es ist wohl so, dass alle, die Leitungsverantwortung haben, dass die in einer der christlichen Kirchen sein sollten. Aber bei uns im Team gibt’s Mitarbeiter, die nicht in der Kirche sind. Also, ich seh’ das auch nicht als vordringlich. Vordringlich ist, anzubieten, irgendwie wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Und ob das jetzt ein religiöses Vorzeichen hat oder nicht, dass ist mir eigentlich völlig egal."
Bei BLICKWECHSEL, einem Projekt der Leipziger Diakonie, gibt es rund 50 ehrenamtliche Mitarbeiter. Auch hier, sagt Johannes Wonneberger, sind die bekennenden Christen eher in der Minderzahl. Was die Helferinnen und Helfer aber gemeinsam haben, ist ihre Freude an Geselligkeit und ihre Hilfsbereitschaft. Außerdem wissen die meisten von ihnen aus eigener Erfahrung, wie sich Lebenskrisen anfühlen.
"Man muss bestimmte Dinge mitbringen. Man muss kontaktfreudig sein. Man muss auch wiederum sich abgrenzen können von Menschen, man muss sich einfühlen können. Und ich merke auch in unserer Arbeit jeden Tag, wie schwer das ist, auch wirklich durchzuhalten. Wenn Leute zu uns kommen und im Café sind, wo jeder sagt: 'Die sind unausstehlich!' Das gehört dazu, dass man sich auch auseinandersetzt mit denen. Dass man dem standhält und sagt: 'Ja, das sind ernstzunehmende Menschen, auch wenn es anstrengend ist!'"
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Hier wird ein politisches Ideal formuliert, das heißt, ein Maßstab für die politische Wirklichkeit.
Rainer Forst: "Jede Gesellschaft muss sich immer wieder fragen, ob sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht immer noch in Privilegien widerspiegeln. Ob soziale Unterschiede, wer welche Bildungschancen hat oder eben nicht hat, ob kulturelle, ethnische Hintergründe nicht immer noch relativ stark zu Diskriminierungen oder Bevorteilung führen."
Johannes Wonneberger: "Also, das ist ein sehr herbes Thema, finde ich. Auf diesem Gebiet lässt sich keine Gerechtigkeit herstellen. Weil: jedes Elternhaus ist anders, und es gibt Leute, die müssen in elenden Verhältnissen aufwachsen, weil sie kein Geld haben, und andere Leute haben vielleicht genug Geld, die gehören zu den Besserverdienenden, und sind auch in elenden Verhältnissen, weil es keine Liebe gibt, sag’ ich mal. Weil die Eltern zu viel von ihren Kindern verlangen zum Beispiel, da kann man ja auch das Gegenteil erreichen, von dem, was man gerne möchte."
Rainer Forst: "Wir verletzten die Würde von Menschen, wenn wir ihnen respektlos entgegentreten. Wenn wir sie beleidigen. Wenn sie die Rechte, die ihnen zustehen, nicht gewährt bekommen. Oder wenn sie im Extrem als unsichtbar betrachtet werden."
Johannes Wonneberger: "Da sind sehr viele von unseren Klienten so. Dass sie sich einfach nicht gut präsentieren können, das 'Präsentieren-Können' gehört ja dazu, um nicht unsichtbar zu sein. Man macht es ja den Ignoranten sehr leicht, wenn man sich nicht zeigt, selber. Deswegen gibt’s auch diesen Begriff 'sozialanwaltliche Tätigkeit', was so toll klingt. Aber das ist tatsächlich ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit.
Zum Beispiel, ganz praktisch die Erfahrung ist: Wenn unsere Klienten alleine zu Behörden gehen, da haben sie schlechtere Karten. Total schlechtere Karten, als wenn da ein Sozialarbeiter mitgeht. Und da mit am Tresen steht. Da werden die plötzlich ernst genommen!"
Rainer Forst: "Und wenn wir an die Verhältnisse an unseren Grenzen denken. Und die Ungleichheiten an Lebenschancen im transnationalen Kontext betrachten, sehen wir natürlich, dass der Anspruch, dass Menschen gleiche Würde haben und diese auch einklagen könnten, dass da noch erhebliche Arbeit vor uns liegt."
"BLICKWECHSEL" kümmert sich um Menschen mit sozialen und psychischen Schwierigkeiten: Menschen, die dauerhaft Hilfe brauchen.
Im Büro von BLICKWECHSEL. Wohlfühlatmosphäre: Schlichte Möbel. Viele Blumen, reichlich Bücher, eine Gitarre an der Wand. Ich treffe Johannes Wonneberger, den Leiter der Einrichtung. Der kann viele Geschichten erzählen:
"Was mir jetzt einfällt, ist ein junger Mann - also, was heißt jung: ich glaube, der ist jetzt Mitte 40 - der kam das erste Mal vor vielleicht 18 Jahren hierher. Der hat in der DDR die sogenannte Hilfsschule besucht, kann schlecht lesen und schreiben, also kann er schon, aber …
Und der wohnte bis vor zwei Jahren bei seinen Eltern. Der kam eben nicht zurecht mit seinem Leben. Zu Hause hat er sich oft gestritten, war häufig außer Haus, weil er seinen Eltern aus dem Weg gehen wollte, und kam aber auch sonst nicht so mit den Leuten in Kontakt."
Der Mann erweist sich als geschickter Handwerker und Gärtner, er fängt an, sich um den Hof, den Rasen, die Blumenbeete zu kümmern, rund um die Bürgerwerkstatt und das Sozialcafé des Vereins.
Schon vor 16 Jahren, sagt Johannes Wonneberger, haben wir dem Mann geraten, bei seinen Eltern auszuziehen.
"Ja, er hatte gesetzliche Betreuer, oder verschiedene Betreuer, mit denen er manchmal recht und schlecht bloß ausgekommen ist. Und es hat einfach so lange gedauert, bis er mal den Mut auch hatte und mit einer Mitarbeiterin in sehr engem Kontakt war, die dann mit eine Wohnung gesucht hat. Und ich habe ihn neulich gefragt, ob er das bereut oder so. Nee. Er hat eigentlich gestrahlt."
"Mit 'Menschenwürde' meinen wir, dass Menschen einen Status haben, der Respekt gebietet. Dass wir mit Menschen nicht wie mit Dingen umgehen. Und dass wir zwischen Menschen in Bezug auf die Frage, ob wir sie moralisch achten sollen, dass wir zwischen Menschen nicht differenzieren."
Rainer Forst, Professor für politische Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Die Achtung vor der Würde jedes Menschen - in der Bundesrepublik Deutschland Gebot Nr.1 der Staatsverfassung.
Johannes Wonneberger: "Der Staat hat ’ne gewisse Fürsorgepflicht für seine Bürger. Was in Deutschland so geregelt ist, dass das über diese Wohlfahrtsverbände gemacht wird."
Die beiden größten in Deutschland, der Caritasverband und das Diakonische Werk, sind Organisationen der christlichen Kirchen – und oftmals die erste Anlaufstelle für Menschen in sozialer Not.
"Kann man so schon sagen. Dass viele Leute zu uns kommen, die in irgendeiner Krisensituation stecken und nicht weiter wissen in ihrem Leben. Und die das erste Mal bei uns dann anfangen, sich zu entlasten. Oder eine gewisse Distanz zu ihren Problemen dann durch das Gespräch aufzubauen. Und dann erstmal zu sortieren, wie kann’s weitergehen."
Woher stammt die Idee der Menschenwürde? Und (davon abgeleitet) der Gedanke, dass alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Alter, Gesundheitszustand, Geldbeutel und Sozialprestige, Bildungsabschluss, nationaler Herkunft, sprich: unabhängig von jedem Unterscheidungsmerkmal - gleiche Rechte haben und einander mit Respekt begegnen sollen?
Johannes Wonneberger sieht diesen Gedanken im Geist des Christentums begründet:
"Es steht ja bei uns auch im Grundgesetz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Da steht aber nicht, warum! Also für mich, ich lebe mit der Vorstellung, dass die Menschen Gottes Kinder sind und alle Brüder und Schwestern."
Die Idee der Menschenwürde ist allerdings älter als das Christentum,
wurde schon vor Christi Geburt von Philosophen diskutiert.
In der römischen Republik zum Beispiel von Marcus Tullius Cicero, Schriftsteller, Politiker und wohl der berühmteste Redner der römischen Republik. Cicero meinte: "dignitas" sei die spezielle Auszeichnung des Menschen vor allen anderen Lebewesen. Das lateinische "dignitas" bedeutet soviel wie "Ansehen, Stellung" oder auch "Würde". In Ciceros Werk "De officiis", zu deutsch: "Von den Pflichten", heißt es:
Wodurch erhält ein Mensch seine Würde? Dadurch, dass wir alle an der Vernunft teilhaben! Durch diese Vorzüglichkeit übertreffen wir die Tiere.
"Was wichtig ist, dass schon in der damaligen Bedeutung der Mensch mit Würde der freie Bürger in der freien Stadt war. Derjenige, der weder im Haus noch in der Stadt beziehungsweise der Republik der Willkür anderer unterworfen war. Aber das bezog sich natürlich nur auf die Gruppe der männlichen, freien Bürger."
Rainer Forst.
Cicero war nämlich der Ansicht, es gäbe "verschiedene Grade" von Würde: je größer die Verdienste eines römischen Bürgers um seine Republik, desto mehr Würde komme ihm zu.
Die Mehrzahl der Bewohner Roms - Frauen, Fremde, Handwerker, Sklave - hatten nach ciceronischem Maßstab keine Möglichkeit, sich Verdienste um Rom zu erwerben, ergo ließ sich deren Würde auch nicht mit der eines freien Römers vergleichen. "Manche sind eben würdiger als andere", davon war Cicero überzeugt.
Ganz anders die erste Christengemeinde in Rom. Die Anhänger des gekreuzigten Jesus von Nazareth hat man im Jahr 49 zum ersten Mal aus dieser Stadt verbannt, weil sie eben nicht einsehen wollten, dass einem römischen Bürger mehr Würde zukommt als einem römischen Sklaven. Und dass man dem römischen Kaiser als oberstem Würdenträger gar zu verehren habe wie einen Gott.
Jesus von Nazareth hatte mit "Zöllnern und Sündern" am Tisch gesessen, sich blinden Bettlern zugewandt, Lahme und Aussätzige geheilt, beflügelt von der Überzeugung: vor Gott sind alle Menschen gleich.
Ihr seid teuer erkauft. Werdet nicht der Menschen Knechte!
mahnt (mit Blick auf Jesu Kreuzestod) Paulus, der Apostel, die Christengemeinde in Rom. Sie möge sich vielmehr besinnen auf "die herrliche Freiheit der Kinder Gottes!" In den Idealen des Urchristentums liegt zweifellos eine kulturkritische Kraft.
Rainer Forst: "Darin, dass jedes Kind Gottes als moralisch achtenswert angesehen wurde. Allerdings wurde das damals weniger mit dem Begriff der Würde verknüpft, sondern eher mit Begriffen wie 'Barmherzigkeit' und anderen Worten moralischer Rücksichtnahme."
Die christliche Ethik wurzelt bekanntlich in der jüdischen. Aus dem Buch Genesis der hebräischen Bibel:
Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. Und schuf sie als Mann und Weib. (Gen 1.27)
Der Mensch ist das Ebenbild Gottes. Jeder Mensch. Daher seine Würde und seine Freiheit. Allerdings: In der jüdisch-christlichen Ethik geht es ursprünglich nicht um die irdische, die politische Freiheit, sondern um die Freiheit des Geistes und die Erlösung der Seele.
Laut Johannes-Evangelium hat Jesus beim Verhör durch Pontius Pilatus ausdrücklich betont:
Mein Reich ist nicht von dieser Welt! Wäre es von dieser Welt, so würden meine Leute darum kämpfen, dass ich nicht der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert werde. (Joh. 18. 21)
Rainer Forst: "Das Christentum ging davon aus, dass dem Heil der Seele, und zwar als gar nicht in der Zeit befindliches Heil, dass dem die größte Sorge gelten muss. Und insofern war die Idee, dass Menschen als Individuen während ihres irdischen Daseins eine Freiheit haben, sich selbst zu bestimmen, eine Idee, die sich erst sehr langsam durchsetzen musste."
Würde ist ein Wert, der jedem Menschen zukommt. Dieses urchristliche Ideal "vom Himmel auf die Erde" zu holen, sprich: die Forderung "Gleiche Würde und gleiches Recht für alle!" in der menschlichen Gesellschaft zu verwirklichen, war (und ist!) ein langer politischer Weg. Rainer Forst:
"Ernst Bloch hat mal ein schönes Buch geschrieben: 'Über Naturrecht und menschliche Würde', in dem er schreibt: 'Die Menschenwürde ist nicht angeboren, sondern erkämpft!' Das ist schön ausgedrückt. Dialektisch gesprochen müsste man sagen: 'Auch wenn sie angeboren wäre, müsste sie dennoch erkämpft werden.'"
Ernst Bloch, der Philosoph, hat auch auf die politische Sprengkraft des Christentums hingewiesen: auf das revolutionäre Potenzial der Überzeugung, Gott habe jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen.
Ernst Bloch, "Der Atheismus im Christentum": "Wie unangenehm für alle Tyrannen! Ein Subjekt, das sich in Personalunion mit dem höchsten HERRN dachte, gab, wenn es damit Ernst machte, einen äußerst schlechten Leibeigenen ab."
Da Adam grub und Eva spann,
Wo war denn da der Edelmann?
sangen die Thüringer Bauern im Mai 1525, als sie bei Frankenhausen gegen ein Fürstenheer zu Felde zogen. Ihr Anführer: Thomas Münzer, Theologe der Revolution.
Rainer Forst: "Diese Idee von gottgegebenen, natürlichen Rechten der Individuen war eine polemische Idee! Gegen ebenso mit dem Christentum verbundene Legitimationen von Gottesgnadentum. Oder einer Feudalherrschaft, die als Gottes Wille angesehen wurde."
Nicht nur die Bauern, sondern auch ihre Feinde mit Fürstentitel stritten in der Überzeugung, sie hätten ihre Ämter und Würden "von Gottes Gnaden" empfangen. Im späten 17. Jahrhundert kam unter Philosophen die Überzeugung auf, man müsse Fragen der Menschenwürde und der Menschenrechte unabhängig von der Gottesfrage betrachten.
"Ganz wichtig war wohl die Erfahrung dieser konfessionellen Bürgerkriege. Ganz schrecklich natürlich im Dreißigjährigen Krieg, wo sich die Menschen der Ideologie zufolge die Schädel eingeschlagen haben, weil der eine evangelisch und der andere katholisch war. Und irgendwie hat sich dann doch die praktische Vernunft durchgesetzt.
Und man hat gesagt: 'Wenn wir überhaupt Frieden haben wollen, dann müssen wir auf konfessionelle Streitigkeiten verzichten und müssen uns so einigen!' Das hat dann dazu geführt, dass letztlich, natürlich auf eine längere Zeit hin, die Legitimation der politischen Herrschaft von der Religion unabhängig wurde","
Herbert Schnädelbach, Professor für Philosophie, über das beginnende Zeitalter der Aufklärung.
Die zentrale Figur einer aufgeklärten Begründung der Idee, dass alle Menschen die gleiche Würde besitzen und darum gleiche Rechte beanspruchen können, ist zweifellos Immanuel Kant. Kant bringt das Thema Menschenwürde, ähnlich wie schon Cicero, in Zusammenhang mit der Begabung des Menschen zur Vernunft. Rainer Forst:
""Mit Würde behandelt zu werden, aber auch mit Würde zu handeln, bedeutet, seiner Eigenschaft als Vernunftwesen gerecht zu werden. Und 'Vernunftwesen' heißt, nach allgemeinen Normen zu handeln. In diesem Sinne ist die Person mit Würde die vernünftige Person, die sich als Mitglied eines Reichs autonomer Wesen versteht. Sodass sie ihr Handeln an Gesetzen ausrichtet, die alle vernünftigen Wesen akzeptieren können."
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
schreibt Kant in seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten." Mit anderen Worten: Bei allem, was Du tust - überlege, ob Du wollen kannst, dass alle Menschen so handeln, wie Du in diesem Augenblick. Und wo immer Du mit Menschen Umgang pflegst, frage Dich: Würdest Du es tolerieren, von dem oder der Anderen so behandelt zu werden, wie Du ihn oder sie gerade behandelst? Wenn nicht, dann ändere Dein Verhalten.
Rainer Forst: "Für Kant ist die Vernunft ein praktisches, moralisches Vermögen. Wer vernunftbegabt ist und seine Vernunft richtig verwendet, wird, wenn er bestimmte Ziele verfolgt, innehalten können und sich fragen können: 'Habe ich gute Gründe, diese Ziele zu verfolgen? Oder setzte ich meine Zwecke ohne ausreichende Rechtfertigung vor die Zwecke anderer? Instrumentalisiere ich sie, übervorteile ich sie?'"
Kant kommt aus der Tradition christlich-protestantischer Religiosität, er persönlich betrachtet unser moralisches Gewissen als "den inwendigen Richterstuhl Gottes". Aber, und das ist wesentlich, die Kantsche Ethik kommt ohne jede religiöse Begründung aus. Sie ist für Gläubige aller Religionen wie für Atheisten gleichermaßen akzeptabel, weil sie auf keine anderen Voraussetzungen gründet als auf die menschliche Fähigkeit zur Vernunft.
Rainer Forst: "Würden wir wirklich davon ausgehen, dass zur Begründung der Moral ein bestimmter Glaube, eine bestimmte Form des Glaubens an einen Gott gehörte, müssten wir natürlich die Konsequenz ziehen, dass diejenigen, die an diesen Gott nicht glauben, sozusagen moralische Analphabeten wären. Das ist ein relativ hoher Preis, und in unserer Alltagspraxis gehen wir so nicht vor. Wir treffen ständig auf Leute, die entweder gar nicht an Gott glauben oder ganz anders, als es die Christen sich vorstellen. Und selbstverständlich nehmen wir an, dass Menschen die Fähigkeit zur moralischen Reflexion haben. Wir gehen davon aus, dass die Quellen dieser moralischen Reflexionsfähigkeit nicht solche des Glaubens sind. Sondern bestimmter Erfahrungen mit sich selbst und anderen, dass man gelernt hat, was es heißt, auf andere einzugehen, auf sie Rücksicht zu nehmen und sie mit Achtung zu behandeln."
"Ich denke nicht, dass Menschen, die sagen, sie sind nicht gläubig, dass man denen einreden müsste, dass sie insgeheim doch irgendwie gläubig sind. Weil: Das gehört für mich auch zur Würde des Menschen, dass man akzeptiert, was einer von sich preisgibt oder zeigt. Und dass man nicht von hinten durch die Brust ins Auge doch noch einen Überzeugungsversuch startet."
Johannes Wonneberger. Wer Hilfe sucht beim Diakonischen Werk Leipzig e.V., wird nicht nach seiner religiösen Überzeugung befragt.
"Wir sind ja verpflichtet, weltanschaulich neutral zu arbeiten. Weil wir natürlich zu 80 bis 90 Prozent von Steuermitteln finanziert sind. Da können wir nicht sagen: 'Wir betreuen nur die frommen Menschen!'"
Auch unter den Mitarbeitern des Vereins gibt es nicht nur bekennende Christen.
"Nee. Es ist wohl so, dass alle, die Leitungsverantwortung haben, dass die in einer der christlichen Kirchen sein sollten. Aber bei uns im Team gibt’s Mitarbeiter, die nicht in der Kirche sind. Also, ich seh’ das auch nicht als vordringlich. Vordringlich ist, anzubieten, irgendwie wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Und ob das jetzt ein religiöses Vorzeichen hat oder nicht, dass ist mir eigentlich völlig egal."
Bei BLICKWECHSEL, einem Projekt der Leipziger Diakonie, gibt es rund 50 ehrenamtliche Mitarbeiter. Auch hier, sagt Johannes Wonneberger, sind die bekennenden Christen eher in der Minderzahl. Was die Helferinnen und Helfer aber gemeinsam haben, ist ihre Freude an Geselligkeit und ihre Hilfsbereitschaft. Außerdem wissen die meisten von ihnen aus eigener Erfahrung, wie sich Lebenskrisen anfühlen.
"Man muss bestimmte Dinge mitbringen. Man muss kontaktfreudig sein. Man muss auch wiederum sich abgrenzen können von Menschen, man muss sich einfühlen können. Und ich merke auch in unserer Arbeit jeden Tag, wie schwer das ist, auch wirklich durchzuhalten. Wenn Leute zu uns kommen und im Café sind, wo jeder sagt: 'Die sind unausstehlich!' Das gehört dazu, dass man sich auch auseinandersetzt mit denen. Dass man dem standhält und sagt: 'Ja, das sind ernstzunehmende Menschen, auch wenn es anstrengend ist!'"
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Hier wird ein politisches Ideal formuliert, das heißt, ein Maßstab für die politische Wirklichkeit.
Rainer Forst: "Jede Gesellschaft muss sich immer wieder fragen, ob sich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nicht immer noch in Privilegien widerspiegeln. Ob soziale Unterschiede, wer welche Bildungschancen hat oder eben nicht hat, ob kulturelle, ethnische Hintergründe nicht immer noch relativ stark zu Diskriminierungen oder Bevorteilung führen."
Johannes Wonneberger: "Also, das ist ein sehr herbes Thema, finde ich. Auf diesem Gebiet lässt sich keine Gerechtigkeit herstellen. Weil: jedes Elternhaus ist anders, und es gibt Leute, die müssen in elenden Verhältnissen aufwachsen, weil sie kein Geld haben, und andere Leute haben vielleicht genug Geld, die gehören zu den Besserverdienenden, und sind auch in elenden Verhältnissen, weil es keine Liebe gibt, sag’ ich mal. Weil die Eltern zu viel von ihren Kindern verlangen zum Beispiel, da kann man ja auch das Gegenteil erreichen, von dem, was man gerne möchte."
Rainer Forst: "Wir verletzten die Würde von Menschen, wenn wir ihnen respektlos entgegentreten. Wenn wir sie beleidigen. Wenn sie die Rechte, die ihnen zustehen, nicht gewährt bekommen. Oder wenn sie im Extrem als unsichtbar betrachtet werden."
Johannes Wonneberger: "Da sind sehr viele von unseren Klienten so. Dass sie sich einfach nicht gut präsentieren können, das 'Präsentieren-Können' gehört ja dazu, um nicht unsichtbar zu sein. Man macht es ja den Ignoranten sehr leicht, wenn man sich nicht zeigt, selber. Deswegen gibt’s auch diesen Begriff 'sozialanwaltliche Tätigkeit', was so toll klingt. Aber das ist tatsächlich ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit.
Zum Beispiel, ganz praktisch die Erfahrung ist: Wenn unsere Klienten alleine zu Behörden gehen, da haben sie schlechtere Karten. Total schlechtere Karten, als wenn da ein Sozialarbeiter mitgeht. Und da mit am Tresen steht. Da werden die plötzlich ernst genommen!"
Rainer Forst: "Und wenn wir an die Verhältnisse an unseren Grenzen denken. Und die Ungleichheiten an Lebenschancen im transnationalen Kontext betrachten, sehen wir natürlich, dass der Anspruch, dass Menschen gleiche Würde haben und diese auch einklagen könnten, dass da noch erhebliche Arbeit vor uns liegt."