Wie das Gehirn unsere sozialen Beziehungen verarbeitet
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Das Gehirn navigiert uns durch die physische Welt, indem es sich an geografischen Punkten orientiert. Doch es verortet auch soziale Beziehungen räumlich - auf mentalen Landkarten. Entscheidend in diesem Koordinatensystem sind Achsen der Nähe und der Macht.
Während ich Straßen überquere und Fahrradfahrern ausweiche, bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Fast unbewusst gehe ich in den nahegelegenen Park spazieren, und weiß, später finde ich auch den Weg wieder zurück nach Hause. Denn diese Route hat mein Gehirn als "kognitive Landkarte" kopiert.
Mit jeder neuen räumlichen Erfahrung setzt ein gesundes Gehirn eine Art Landmarke darauf. Diese kognitive Karte entdeckte bereits der Psychologe Edward Tolman in den 60er-Jahren.
Den neurobiologischen Beweis lieferten 2014 die norwegischen Forscher Edvard und May-Britt Moser mit der Entdeckung von speziellen Nervenzellen in Ratten. Demnach entsteht über neuronale Verbindungen zwischen dem Hippocampus und den benachbarten Hirnregionen ein hirneigenes Navigationssystem. Doch nicht nur an geografischen Punkten im Raum orientiert sich das Gehirn von Säugetieren.
Gibt es eine räumlich-soziale Wahrnehmungsfähigkeit?
"Bisher haben wir den Hippocampus für seine räumliche Koordination studiert. Und wir wissen seit vielen Jahren, dass der Hippocampus der Sitz des allgemeinen Gedächtnisses ist, aber auch für das räumliche Gedächtnis - sowohl bei Menschen als auch bei Tieren", sagt Nachum Ulanovsky vom Weizmann Institute of Science in Israel.
"In unserem Experiment konnten wir beobachten, dass es im Hippocampus sogenannte Ortszellen gibt, die aktiv sind, wenn die Fledermaus sich im Raum bewegt, die die Position des Tieres im Raum repräsentieren", erklärt er.
"Seit einigen Jahren häufen sich die Hinweise, dass der Hippocampus auch mit dem sozialen Gedächtnis in Verbindung steht. Wir haben uns gefragt: Wenn es Neuronen im Hippocampus gibt, die repräsentieren, wo ich mich im Raum befinde, gibt es dann auch Neuronen, die repräsentieren, wo sich andere im Raum befinden? Also eine räumlich-soziale Wahrnehmungsfähigkeit, wenn Sie so wollen. Und in der Tat haben wir das gefunden."
Soziale Ortszellen im Hippocampus
Nachum Ulanovsky forscht seit mehreren Jahren zum räumlichen Orientierungsvermögen bei Fledermäusen. In Laborversuchen haben Ulanovsky und sein Team neben den sogenannten "place cells", also Ortszellen im Hippocampus auch "social place cells", Soziale Ortszellen gefunden. Mit diesen Neuronen erkennen die Tiere nicht nur ihre eigene Position im Raum, sondern auch die, ihres Artgenossen.
Das stellten WissenschaftlerInnen in einem Mimikry-Verfahren fest. Dabei beobachtet die eine Fledermaus, wie die Andere zur Futterstelle fliegt. Kurze Zeit später verfolgte diese den gleichen Weg zum Essen. Es zeigt: Geografische und soziale Informationen überschneiden sich im Hippocampus. Oder um bei dem Bild der Landkarte zu bleiben: Im Gehirn legen sich zwei Karten übereinander. Dieser kognitive Plan hilft uns Menschen in verschiedenen Situationen.
"Wenn wir einen Raum voller Menschen betreten, beispielsweise auf einer Party, wissen wir immer genau, wo unsere Freunde sind", sagt Nachum Ulanovsky.
"Oder im Sport: Fußballer zum Beispiel sind erstaunlich gut darin, immer und genau zu wissen, wo ihre Mitspieler und wo die Gegner sind, ohne überhaupt hinzusehen. Diese räumlich-sozialen Fähigkeiten sind für den Menschen von großem Nutzen. Bisher war unklar, wie das funktioniert. Wir im Weizmann Institute denken, dass diese Fähigkeiten mit den Sozialen Ortszellen zusammenhängen."
Der Hippocampus steuert neben Orientierung auch Emotionen
Bislang ist noch nicht erforscht, ob diese Sozialen Ortszellen auch im Menschen vorkommen. Fakt ist: Der Hippocampus ist eine wichtige Schaltzentrale unseres limbischen Systems. Nicht nur für die Orientierung, auch steuert es unsere Emotionen und unser Langzeitgedächtnis. Ein weiterer Forschungsansatz zeigt, dass neuronale Schaltkreise, die zur Orientierung in Raum und Zeit dienen, auch helfen, uns im Dickicht der zwischenmenschlichen Beziehungen zurechtzufinden.
Ähnlich wie uns das Gehirn durch die physische Welt navigiert, kann der Hippocampus unsere sozialen Beziehungen verarbeiten und diese auf einer mentalen Landkarte verorten. Die Neurowissenschaftlerin Daniela Schiller von der Mount Sinai School of Medicine ist seit mehreren Jahren auf der Suche nach dieser sozialen Landkarte im Gehirn. Sie entwickelte dafür ein interaktives Computer-Rollenspiel. Als Koordinaten dienen dabei die soziale Nähe und die hierarchische Position.
"Angenommen du fängst eine neue Arbeit an. Du lernst neue Kollegen kennen, knüpfst Freundschaften und hast es auch mit Leuten aus höheren Machtpositionen zu tun. Mit der Zeit entwickelst du zu ihnen Beziehungen von unterschiedlichem sozialem Wert - je nachdem welche Erfahrung du mit ihnen machst", sagt Daniela Schiller.
"Im virtuellen Rollenspiel bekommst du Fragen gestellt. Anhand deiner Reaktionen und Antworten bewegst du dich in deinem eigenen sozialen Koordinatensystem. Und gleichzeitig verortest du deine Mitmenschen darin - entlang der Achse Macht und der Achse Nähe. Also du navigierst tatsächlich in einem Raum anhand zwischenmenschlicher Interaktionen."
Räumliches Verständnis wichtig für weitere Denkprozesse
Gängige Metaphern veranschaulichen die räumlichen Dimensionen des Spiels: Eine Person kann versuchen, Status zu erlangen, um "die soziale Leiter hinaufzuklettern" oder auf jemanden unter ihr "herabzusehen". Wie wir über Menschen als Orte sprechen, so bildet unser Gehirn soziale Nähe oder eben Distanz als abstrakte räumliche Darstellung ab.
"Und dadurch bekommen wir etwas zum Berechnen. Wir können soziale Beziehungen quantifizieren. Mit einem Hirnscanner konnten wir nach aktiven Stellen im Gehirn suchen, die mit diesen Koordinatenpositionen im Rollenspiel korrespondieren", erklärt Schiller.
"Wenn es sich so verhält, wie es diese Zahlen berechnen, bedeutet das, dass das Gehirn diese Information erfasst. Wir konnten zeigen, dass der Hippocampus die sozialen Beziehungen und ihre Dynamiken in diesem abstrakten Raum verfolgt, als navigiere er in einem physischen Raum."
Mit diesen Karten und geometrischen Strukturen - seien sie real oder abstrakt - können neue Wege begangen, vielleicht Abkürzungen zu wichtigen klinischen Fragen der Psychiatrie genommen werden.
Wie bewegen sich Borderline-Patienten im Nähe-Distanz-Koordinatensystem wenn Ängste eine Rolle spielen? Und wie hängen Ängste mit unserem Orientierungsvermögen zusammen?
Die Forschung von Daniela Schiller und Nachum Ulanovsky zeigen: Räumliche Darstellungen und unser Verständnis unserer Umgebung scheinen eine wichtige Grundlage für weitere Denkprozesse zu sein. Der Raum und seine Dimensionen sind ein Grundriss unseres Denkens und Handelns.