Mentoring-Programm "Singa"

Wie hochqualifizierte Geflüchtete zum Job kommen

Ein Transparent mit der Aufschrift "Sondersprechstunde für Flüchtlinge" hängt an der Humboldt Universität in Berlin
Ein Transparent mit der Aufschrift "Sondersprechstunde für Flüchtlinge" hängt an der Humboldt Universität in Berlin © dpa / picture alliance / Michael Kappeler
Von Susanne Arlt |
Geflüchtete Akademiker sollen so schnell wie möglich in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden. Beim Mentoring-Programm "Singa" werden Flüchtlinge und Einheimische mit der gleichen Qualifikation zusammengebracht.
Ein Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. 30 Personen, überwiegend Frauen, sitzen auf Stühlen in einem Kreis. Die meisten sind zwischen Anfang 30 und 60 Jahre alt. Sie kennen sich nicht, haben aber ein gemeinsames Ziel. Sie wollen Geflüchteten helfen, schneller einen Job zu finden. Nicht als Kellner oder Putzkraft, sondern als Chemiker, Übersetzer oder Ingenieur. In Berufen, die sie selber ausüben, so wie die Flüchtlinge vor ihrer Flucht. Sie sind die Mentoren, die Flüchtlinge ihre Mentees.
Bernd Iffert nimmt an diesem Samstag im September an dem Vorbereitungskurs teil. Er habe dafür gute Voraussetzungen als Mentor, sagt der hochgewachsene, schlanke Mann Ende 50 selbstbewusst. Iffert ist Pharmazeut, leitet eine Abteilung in einem großen Konzern.
Bernd Iffert: "Also ich glaube, dass ich genug Kontakte habe, um jetzt innerhalb der Firma und auch außerhalb, wo ich tätig bin, zu gucken, ob derjenige Fortbildungsmaßnahmen machen kann. Am Ende des Tages hoffe ich, dass er die Möglichkeit hat, sich an zwei, drei Stellen auch mal zu bewerben und auch Erfolg zu haben."
Viel Freizeit hat er eigentlich nicht. Trotzdem will er bei dem Mentoring-Programm mitmachen.
Bernd Iffert: "Ich habe das 'Wir' in 'Wir schaffen das' anders verstanden als die meisten. Ich habe nicht verstanden, dass Frau Merkel von der politischen Klasse gesprochen hat, sondern von 'wir' als Deutschland. Und ich habe keine Lust da irgendwie zurückzustehen, na jetzt wollen wir doch mal gucken, ob ihr das machen könnt. Sondern ich denke, es ist besser, wenn wir das wirklich auch so verstehen und wir das machen."

Umgangssprache im Seminar ist Englisch

Weil nicht alle Geflüchteten gut deutsch sprechen, läuft das Seminar auch für Mentoren auf Englisch. Zum Warmreden sozusagen.
Zu Beginn die Pflicht: Jeder Teilnehmer hält ein mehrseitiges Heft in der Hand. Darin haben die Veranstalter detailliert aufgelistet, worauf es in solch einer Beziehung ankommt. Und mit welchen Problemen sie konfrontiert werden könnte. Am Vormittag geht es um das Thema Asyl: Wer erhält einen subsidiären Schutz. Wann tritt das so genannte Dublin-Verfahren in Kraft? Themen, die für die Geflüchteten von immenser Bedeutung sind. Jetzt nach der Mittagspause steht die Beziehung zwischen Mentor und Mentee im Mittelpunkt. Die Kür sozusagen.

Am wichtigsten zuerst: sich kennenlernen

Wichtig für einen reibungslosen Start: gleich gemeinsam Ziele vereinbaren - wie regelmäßig sich die Paare treffen, wie weit die Hilfe bei der Jobsuche gehen kann. Am allerwichtigsten: sich erst einmal persönlich kennenlernen. Und das bitte mit Feingefühl, sagt Vinzenz Himmighofen, der das Mentoring-Programm mit seinen beiden Kolleginnen Luisa Seiler und Sima Gatea für Deutschland entwickelt hat.
Vinzenz Himmighofen: "Oft ist es keine gute Idee, gleich mit der Frage nach den Beweggründen für die Flucht in ein Gespräch einzusteigen. Auch ist es in der Regel nicht empfehlenswert, sofort sich auf die Berufsschiene zu konzentrieren und zu sagen, so jetzt zeig mir mal deine Zeugnisse und ist das hier überhaupt echt und was war das überhaupt für eine Hochschule, gibt es so ein Fach überhaupt bei euch. Solche Sachen sind häufig nicht ideal."
Manch Teilnehmerin der Runde schaut pikiert. Viele haben schon Kontakt zu Geflüchteten. Helfen ehrenamtlich in Unterkünften aus oder engagieren sich in den zahlreichen Berliner Flüchtlingsinitiativen. Luisa Seiler fragt in die Runde, welchen Vorteil man denn selber davon hat, Mentor zu sein. Bernd Iffert zögert kurz und sagt dann:
Bernd Ruffert: "Also mir fällt es schwer, einen anderen Grund zu finden als mein uneigennütziges Bestreben, zu helfen. Oder gibt es darauf möglicherweise noch eine andere Antwort?"

Die Dame war Dozentin in Japan

Eine ältere Dame meldet sich zu Wort. Jahrelang hat sie in Japan an der Uni doziert. Dort ist es üblich, dass jeder Lehrende zugleich Mentor für seine Studierende ist.
"Sie haben mir so viel Neues vermittelt, nicht nur über ihr Land, sondern über ihre Sicht der Dinge, die so völlig anders ist als meine eigene. Sie bringen dir so viel bei über dich selbst und über deine Heimat. Du bekommst sehr viel in solch einer Beziehung zurück. Manchmal Schönes, manchmal Schreckliches."
Luisa Seiler schaut zufrieden, Bernd Iffert nachdenklich. Erste und vielleicht wichtigste Lektion: Keine Beziehung ist eine Einbahnstraße. Auch nicht die, zwischen Geflüchteten und Einheimischen.
Einen Tag später in Berlin-Mitte. 30 Geflüchtete, überwiegend Männer zwischen Mitte 20 und Anfang 40, sitzen im Halbkreis. So wie ihre Mentoren werden auch sie auf das erste gemeinsame Treffen vorbereitet. Vinzenz Himmighofen erläutert ihnen die Chancen des Projekts. Zeigt aber auch die Grenzen auf. Warnt vor zu hohen Erwartungen. Macht ihnen trotzdem immer wieder Mut, an sich und seine beruflichen Fähigkeiten zu glauben.
Vinzenz Himmighofen: "Es geht wirklich darum, ein paar Schritte nach vorne zu kommen und nach diesem Programm einen Weg vor Augen zu haben. Zu wissen, wie es weitergeht und das Selbstvertrauen dafür zu haben."

Der Mentor macht ihm Mut

Anas Rukbi hört Vinzenz aufmerksam zu. Vor acht Monaten ist der 28 Jahre alte Syrer in Berlin angekommen. Seine Familie lebt noch immer in Aleppo. Er habe oft große Angst um sie, vor allem dann, wenn er nicht tagtäglich Nachrichten von ihnen bekommt. Trotzdem versucht der studierte Chemiker sich auf sein neues Leben in Deutschland zu konzentrieren. Hilft mit einem Ein-Euro-Job in einem Jugendzentrum aus, büffelt jeden Tag Deutsch. Dass er bald einen beruflichen Mentor an seiner Seite hat, macht ihm Mut.
Anas Rukbi: "Ich hoffe, dass er mir helfen kann. Ich möchte gerne viele Sachen machen, zum Beispiel weiter studieren, weiter arbeiten. Aber ich kenne noch nicht, was ist die Möglichkeiten, was brauche ich, wie kann ich mit die Firma Kontakte bleiben, mit wem, das ist sehr wichtig. Die erste Fragen in unserem Kopf, die Antworten sind in diesem Projekt."
In wenigen Tagen wird Anas seinen Mentor kennenlernen. Er ist darauf genauso gespannt wie Bernd Iffert.
Das soziale Start-up SINGA, das Geflüchteten den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern will, hat seinen Sitz im BETA-Haus in Berlin-Kreuzberg. Ein Coworking-Space auf 2.000 Quadratmetern. Etwa 200 Freiberufler arbeiten hier: Grafiker, Programmierer, Designer, Videokünstler, Start-ups. Es gibt Meeting-Räume, eine Holzwerkstatt, Veranstaltungsräume. Und natürlich feste und flexible Schreibtische. An einem dieser Tische wurde auch das Mentoring-Programm für Deutschland entwickelt. Die Idee stammt von der Pariser Mutter-Organisation SINGA. Übersetzt aus dem malischen Lingala bedeutet das so viel wie "Verbindung". Auch ihnen gehe es darum, eine Gemeinschaft zu bilden, sagt Luisa Seiler.
Luisa Seiler: "Integration ist eigentlich ein ganzheitliches Konzept, es gibt die soziale Integration, es gibt die sprachliche Integration, es gibt die Integration durch Arbeit. Und das große Ziel ist am Ende natürlich, dass Unternehmen offener werden dadurch, dass Mitarbeiter in Unternehmen diese positiven Erfahrungen gemacht haben und dass dadurch ein Bedürfnis bzw. eine Bereitschaft entsteht, die Zukunft unserer Gesellschaft gemeinsam gestalten zu wollen."

In einer Turnhalle mit 250 fremden Menschen

Um Flüchtlinge erfolgreich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, braucht es nicht nur guten Willen, sondern vor allem Geduld und intensive Unterstützung, sagt Vinzenz Himmighofen. Genau diese Qualitäten bediene das Mentoring-Programm.
Vinzenz Himmighofen: "Indem sie nämlich mit einem potentiellen Kollegen oder einer potentiellen Kollegin sprechen, erfahren sie viel besser, was sozusagen gute Wege sein können hin zu ihrem Berufsziel. Nicht in Konkurrenz jetzt zu Jobcentern, sondern es geht eigentlich mehr um eine Ergänzung dessen, was staatliche Stellen in dem Bereich anbieten."
Ein Stockwerk tiefer. Bernd Iffert und Anas Rukbi sitzen sich an einem Tisch im Café des Beta-Hauses gegenüber. Es ist ihr drittes Treffen. Anas ist überglücklich. Sein Mentor arbeitet für ein multinationales Pharma-Unternehmen, von dem er schon immer geträumt.
Jede Woche beutet zu diesem Zeitpunkt in Anas Leben: In einer Turnhalle mit 250 wildfremden Personen leben. Eine halbe Armlänge Platz zwischen den Betten. Es ist immer laut - Tag und Nacht. Die Toiletten und Duschen sind verdreckt. Ein Leben, das sich Anas vor dem Krieg nicht vorstellen konnte. In Aleppo hat er einen Bachelor in angewandter Chemie gemacht, danach zwei Jahre lang gearbeitet. Ich hatte einen gut bezahlten Job, sagt Anas Rukbi, und keinen Grund, mein Land zu verlassen.
Anas Rukbi: "Der Krieg hat das alles, meine Zukunft, meine Ziele alles kaputt gemacht, zerstört, deshalb ich habe gefühlt, dass ich nichts in meiner Heimat machen kann, im Moment nicht. Ich musste mein Heimatland verlassen.

So schnell wie möglich einen Job finden

Bernd Iffert hört still zu, fragt behutsam nach, wie es den Eltern geht, hält sich mit persönlichen Fragen zurück. Nicht zu viele Fragen gleich am Anfang stellen, aber auch nicht desinteressiert wirken. Eine Gradwanderung. Anas aber ist ein offener Mensch.
Anas Rukbi: "Also ich muss immer jeden Tag mit meiner Familie reden, um zu wissen, ob sie immer noch leben oder nicht. Das wirklich macht mit immer Sorge, das ist schwer. Das nimmt von meinen Gedanken immer viel."
Sinnvolle Beschäftigung ist das beste Mittel dagegen, sagt Anas und lächelt schon wieder. Für ihn bedeutet das die deutsche Sprache lernen und so schnell wie möglich einen guten Job finden.
Anas Rukbi: "Aber was du arbeitest, da interessiere ich mich wirklich. Ich habe Chemie studiert, ja und aber ich weiß nicht, wie kann ich eine Stelle… wie du weitermachen kannst … ja muss ich zuerst eine Stelle suchen, man braucht eine Empfehlung, damit man Ziel erreichen kann."
Insgeheim hofft Anas Rukbis, dass Bernd Iffert ihm eine Stelle in seinem Konzern verschafft. Aber schnell wird klar, so leicht geht das nicht. Nicht in Deutschland. Bernd Iffert überlegt kurz, wie er das seinem syrischen Mentee am besten beibringen kann - und offeriert ihm eine Alternative: einen Master in Chemie an einer deutschen Hochschule.
Bernd Iffert: "Die Schwierigkeiten mit deinem Bachelor in Deutschland besonders in großen Firmen liegen da, dass der Bachelor eigentlich dich für einen akademischen Beruf noch nicht vollständig befähigt. Es gibt eigentlich keine Stellen für Bachelor Chemie, hmmm.

Über die Hälfte der Flüchtlinge haben Arbeit

Anas nickt, wirkt ein bisschen enttäuscht, holt dann ein Stapel Papier aus seiner Tasche. Jeden Tag durchforstet er das Internet auf der Suche nach einem Job. Bernd Iffert wirft einen Blick darauf, fängt an, ihm das deutsche Ausbildungssystem zu erklären. Welche Jobs für ihn in Frage kommen - und welche eher nicht, weil er für sie überqualifiziert ist.
SINGA ist nicht die einzige soziale Initiative, die Flüchtlinge in Jobs bringen will. Patenschaften, Tandems, Mentoring-Programme - eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, kurz DIW, bestätigte vor kurzem ihre Effizienz. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge fanden in den vergangenen drei Jahren einen Arbeitsplatz über informelle Netzwerke, Freunde oder Bekannte. Und nicht durch das Jobcenter oder die Arbeitsagentur. Karl Brenke, Arbeitsmarktexperte am DIW.
Karl Brenke: "Es ist nicht nur bei den Geflüchteten so, dass ist im Grunde auch bei den Migranten so, die schon lange in Deutschland leben und dass ist auch bei Personen so, die deutschstämmig sind. Jobs werden hierzulande vor allem Dingen über Freunde, Bekannte, Verwandte vermittelt. Das geht nach dem Motto, bei mir im Unternehmen wird ne Stelle frei. Ist es nicht was für dich. Das ist ein übliches Phänomen, dass die Jobvermittlung vor allem über informelle Kontakte läuft."
Berufliches Profiling und die Qualifikationen der Betroffenen für das deutsche System auszuloten, nimmt viel Zeit in Anspruch. Die Kapazitäten in den Arbeits-Behörden seien begrenzt, sagt Brenke. Der Staat dürfe nicht in den Konflikt kommen, zu viele Maßnahmen für Flüchtlinge anzubieten. Zahlreiche Einheimische wollen auch vermittelt werden. Viele in einfache Jobs. Jobs, die 80 Prozent der Neuankömmlinge übernehmen könnten, weil ihnen eine formale Berufsausbildung fehlt. Patenschaften würden da nicht weiterhelfen, sagt Brenke. Für Akademiker dagegen seien Mentoring-Programme sicher eine gute Ergänzung.
Karl Brenke: "Das kann natürlich hilfreich sein, wenn man Ansprechpartner in Deutschland hat, die selbst im Erwerbsleben stehen und die sich im Unternehmen auskennen. Die wissen, wo offene Stellen sind, die Unternehmen ansprechen können, das können die Flüchtlinge ja oftmals von sich aus nicht. Wegen mangelnder Sprachkenntnisse, auch weil sie sich vielleicht nicht trauen. Und solche Leute können durchaus hilfreich sein."

Keine Chance für Mikrokredite

Innovative Lösungen sind gefragt, denn die Zahl der arbeitssuchenden Geflüchteten steigt stetig. SINGA plant, sein Angebot zu erweitern. Die Idee: Neunankömmlingen den Sprung in die Selbstständigkeit erleichtern. Wer einen Aufenthaltstitel hat, der darf gründen. Doch danach fangen die Probleme eigentlich erst an. Die Akquise von privatem oder staatlichem Fremdkapital, die Rechtslage, Versicherungsfragen lassen selbst deutsche Gründer oft verzweifeln. Jobcenter oder Arbeitsagenturen könnten den Geflüchteten kaum weiterhelfen. Die Mitarbeiter wüssten viel zu wenig von dem Thema, sagt Luisa Seiler.
Luisa Seiler: "Das heißt, das ist wieder eine Frage von Koordination, von Kommunikation, von Wissensvermittlung, von Zugang zu Informationen letztendlich. Wenn man jetzt hier zur lokalen Wirtschaftsförderung geht, dann ist es teilweise schwierig, wenn man kein Deutsch oder nicht gut Englisch kann. Und eine der allerwichtigsten Barrieren ist, dass man zwar legal gründen kann, aber man keinen Zugang zu Startkapital bekommt."
Dafür fehlen in Deutschland die Strukturen. Mikrokredite sind auf langfristige Rückzahlzeiten ausgelegt. Wie lange ein Geflüchteter bleibt, ist aber oft ungewiss. Immerhin – auf staatlicher Ebene sucht das Wirtschaftsministerium jetzt nach Lösungen.
Monika Berger ist selbstständig. Die 52 Jahre alte Dolmetscherin übersetzt Fachtexte aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche: Gebrauchsanleitungen, Broschüren, Prospekte oder AGBs. Jetzt, Anfang Dezember, sitzt sie im Lesesaal der Landeszentrale für Politische Bildung, nippt an einem Becher Kaffee. Auch sie ist Mentorin. Nach dem Vorbereitungskurs im September hat Monika Berger ihr Mentee Reem aus dem Irak nur zwei Mal getroffen – danach war Funkstille. Sie sucht nach Erklärungen.
Monika Berger: "Sie ist noch keine ausgebildete Übersetzerin."
Reem hat zwar Fremdsprachen studiert, aber noch nie als Dolmetscherin gearbeitet. Schon nach dem ersten Treffen hatte Monika Berger den Eindruck: Die junge Irakerin weiß noch gar nicht, was sie in ihrem Leben wirklich will.
Monika Berger: "Ist auch noch einmal eine ganz andere Herausforderung. Es geht nicht darum, dass ich das nicht möchte, aber jetzt einem jungen Menschen zu helfen, dann auch den richtigen Beruf zu wählen, das ist ja noch einmal anders."

Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg?

"Lebenshilfe ganz allgemein" - damit hatte sie nicht gerechnet. Stattdessen hatte sie sich um konkrete Jobideen für Reem bemüht. Hatte von ihrem Verband erfahren, dass es für Geflüchtete eine Zusatzqualifikation als Laiensprachmittler gibt. Und dass die Charité Dolmetscher sucht. Aber daran hatte Reem erst einmal gar kein Interesse. Außerdem sei es schwierig gewesen, einen gemeinsamen Termin zu finden, sagt Berger.
Monika Berger: "Also ich hatte mich eigentlich auf Abendtreffen eingestellt. Das ging nun gar nicht, tagsüber einen Termin zu finden, war superschwierig. Für mich, mein Jahr war sehr anstrengend, auch ihres war nicht einfach."
Aber wo ein Wille da ein Weg, oder nicht? Monika Berger stutzt kurz, sagt dann ehrlich.
Monika Berger: "Für mich besteht ein Unterschied zwischen einer Berufsanfängerin oder Studienabgängerin und jemandem, der den Beruf machen möchte. Weil, es ist im Moment wirklich auch so, dass es erst einmal darum geht, will sie denn wirklich Übersetzerin werden. Vielleicht gibt es ja noch zig andere Berufe, die sie machen möchte, könnte, wie auch immer. … Ich habe ganz viel Vorarbeit praktisch für nichts gemacht, weil die Voraussetzungen nicht stimmten."
Das Matching habe nicht gepasst, sagt sie und, dass sie sich im Vorfeld von SINGA mehr Informationen über die konkreten Wünsche ihres Mentee gewünscht hätte.
Monika Berger: "Ich war sehr enttäuscht."
Vielleicht waren ihre Erwartungen zu hoch? Davor hatten die SINGA-Mitarbeiter in ihrem Vorbereitungskurs immer wieder gewarnt. Monika Berger zuckt mit den Schultern:
Monika Berger: "Darüber habe ich noch nicht nachgedacht."
Zehn Minuten später erscheint Reem zum neu verabredeten Termin. Monika Berger erklärt ihr, warum sie sich gerade hier mit ihr treffen wollte, zeigt auf die vielen Bücher im Wandregal.
Jedes Quartal darf sich der Besucher bei der Landeszentrale für politische Bildung fünf neue Bücher mitnehmen. Zu einem sehr günstigen Preis oder endgeldfrei.

Sie nimmt drei Bücher mit

Reem ist mit ihrem Ehemann - ein Schrifsteller und Journalist - vor elf Monaten nach Deutschland geflohen. Weil er in seinen Artikeln für einen säkularen Iran plädierte, setzte das Regime ihn unter Druck. Seinetwegen habe sie ihre Heimat verlassen, sagt Reem und sieht sich die Bücher genauer an. Am Ende nimmt sie gleich mehrere mit: Eines über Westberlin, eines über Flüchtlinge und ein Kinderbuch. Wegen der einfachen Sprache sagt sie und lächelt charmant den Herrn am Empfang an.
Eine halbe Stunde später sitzen Mentorin und Mentee im Souterrain der Landeszentrale an einem Tisch. Reem fängt an zu erzählen: Wie schwer ihr die Sprache noch immer fällt. Dass sie ein Praktikum in einem Büro gemacht hat. Ein Bürojob ist nichts für mich, sagt sie und macht eine wegwerfende Handbewegung. Nach einer Zeit bekommt man das Gefühl: Zum ersten Mal unterhalten sich die beiden richtig. Reem erinnert sich: Die Mitarbeiter von SINGA haben den Mentees empfohlen, sich gut auf das erste Gespräch vorzubereiten. Damit sie wissen, was sie ihre Mentoren fragen möchten.
Reem: "Und ich dachte nur: Ich weiß es nicht. Ich habe soo viele Fragen in meinem Kopf, ich weiß gar nicht welche am wichtigsten sind. Und als ich dann Monika traf und sie mit meinen ganzen Fragen bombardierte, da sagte sie mir gleich: Du stellst mir so viele Fragen, du musst genauer herausfinden, was du wirklich wissen willst. Das war die erste Lektion, die ich gelernt habe. Ich muss wissen, was ich will."
In Bagdad hat sie Fremdsprachen studiert, fand danach als Dolmetscherin aber keine Arbeit. Sie wisse also gar nicht, worauf es in dem Job ankomme, sagt sie und hebt wie zur Entschuldigung beide Hände. Zuhause in Bagdad hat sie zuerst Mathematik studiert, weil es der Vater so wollte. Es habe ihr überhaupt keinen Spaß gemacht. Erst nach drei Jahren brach sie ihr Studium ab.
Reem: "Zuhause machen die Leute, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Es gibt dort niemanden, der dich fragen, wie kann ich dir helfen, was willst du in deinem Leben erreichen? Also stellen wir uns selber auch gar nicht diese spezifischen Fragen, das ist wirklich neu für mich."
Monika Berger hört still zu. Hätte sie das vorher gewusst, hätte sie vielleicht mehr Geduld mit Reem gehabt. Die vergangenen Monate seien nicht leicht gewesen erzählt die 28-jährige. Zuerst das Leben in der Turnhalle, dann die fremde Sprache. Der Wunsch, schnell vorwärtszukommen. Aber das Gefühl, steckenzubleiben. Es gab viele Gründe, warum sie Monika kein drittes Mal treffen wollte.
Reem: "Ich war nicht enttäuscht, ganz ehrlich: Ich war eher überfordert. Wie ist meine Situation hier? Ich muss besser Deutsch können. Was soll ich aber mit meinem Englisch machen? Worauf soll ich mich fokussieren? Da jetzt die richtige Entscheidung zu treffen, das hat mich einfach überfordert."
Am Ende des Gesprächs sieht Monika Berger ihre Erwartungen in einem anderen Licht. Zum Zusammenwachsen gehört nicht nur die eigene Perspektive, sondern auch immer die des anderen.
Ein nasskalter Abend Mitte Dezember. Anas Rukbi eilt über die Straße, hält sein Handy fest ans Ohr. Am anderen Ende ist sein Vater. Die Familie des 28 Jahre alten Syrers harrt noch immer in Aleppo aus, hört jeden Tag russische Bomben auf den Ostteil oder Artilleriegeschosse der Rebellen auf den Westteil der Stadt fallen. Anas beendet das Gespräch, gleich trifft er sich mit seinem Mentoren Bernd Iffert. Zum Glück gehe es seiner Familie gut, sagt er, seufzt kurz und betritt dann das Restaurant. Für eine kurzen Moment öffnet sich ihm eine verkehrte Welt: Menschen sitzen an den Tischen, prosten sich zu, essen Kalbsleber mit Stampfkartoffeln. Schließlich entdeckt er Bernd, die beiden begrüßen sich herzlich.
Anas erzählt stolz, dass er jetzt eine Festanstellung als Chemie-Laborant hat. Die ist zwar schlecht bezahlt und auf ein Jahr befristet, trotzdem ist Anas glücklich, wieder sein eigenes Geld zu verdienen. Sechs Stunden Arbeit, danach Deutschkurs an der Humboldt-Uni.

Das Ziel: der Job beim Pharmakonzern

Der zweite Schritt ist vielleicht ein Master in Chemie an der Humboldt Uni. Der dritte vielleicht ein Job bei einem deutschen Pharmakonzern.
Anas Rukbi: "Wenn ich etwas möchte, mache ich, habe ich immer erlebt. Also wenn ich etwas unbedingt will, dann schaffe ich das."
Er schafft es auch, weil ihm andere dabei helfen, ihn unterstützen. Bernd Iffert oder seine mütterliche Freundin Maria, die ihm den Job im Labor vermittelt hat. Anfangs hatte Iffert gehofft, mehr für Anas in die Wege leiten zu können. Das habe aber nicht geklappt, gibt er offen zu. Dafür haben die vielen Gespräche Anas geholfen, überhaupt einen beruflichen Weg in der Fremde zu finden.. Er weiß nun auch: Wenn er in Deutschland weiterkommen will, dann muss er seinen Master machen. Nur ein Bachelor wie in Syrien reicht nicht.
Bernd Iffert: "Was wir als Mentoren höchstens tun können, ist als Lotse mit dem kleinen Boot nebenher fahren und Untiefen vermeiden. Ich kann keine Entscheidung für ihn treffen und will das auch gar nicht. Sondern es ist enorm wichtig, dass wir auf Augenhöhe miteinander reden. Und nur weil jemand aus einem anderen Land geflüchtet ist, heißt das ja nicht, dass wir bestimmte Entscheidungen für ihn treffen können."
Anas Rukbi und Bernd Iffert sind noch lange nicht am Ende ihres gemeinsamen Weges. Auch wenn das Programm bald zu Ende geht, die beiden wollen sich weitersehen. Nur eben nicht mehr als Mentor und Mentee.
Anas Rukbi: "Es gibt viel zu reden in der Zukunft. Nicht nur über die Stelle, nein, aber auch die Dinge, die im Leben sind. Private Sachen auch. Neue Eindrücke, die nicht klar sind, dann kann ich das mit meinem Freund, oder meinem Bruder Bernd sprechen."