"Ihre Machterosion ist natürlich erkennbar"
Hat die Bundeskanzlerin die Fäden noch in der Hand? Angesichts des Streits um die Flüchtlingspolitik sprechen viele bereits von "Kanzlerinnendämmerung". Verloren hat sie die Macht trotzdem noch nicht, glaubt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte.
Ein Innenminister, der in der Flüchtlingspolitik eigenmächtig handelt, ein Finanzminister, der sich mit brisanten Worten dahinter stellt − selten war das Kabinett von Bundeskanzlerin Merkel derart uneins. Ein Zeichen, "dass ihr die Parteimacht ein wenig entschwindet", meint der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen. "Das ist ein Machtkampf − durchaus."
Über den Lawinenvergleich des Bundesfinanzministers sagte Korte: "Schäuble ist im Wahlkampfmodus für die Landtagswahl in Baden-Württemberg und er weiß natürlich, dass Sprachgewinn immer Machtgewinn bedeutet." Dass Merkel öffentlich darauf eingehen werde, erwartet Korte nicht. Gleichzeitig werde sie aber auch "keinesfalls Obergrenzen benennen". Schon aufgrund ihrer Biografie werde die Bundeskanzlerin nicht von ihrem Kurs abrücken und "niemals mehr Mauern und Stacheldrähte erdulden".
Dass die Kanzlerin das Ruder nicht mehr in der Hand hat, sieht Korte allerdings noch nicht. Merkel sei derzeit sehr stark auf den Regionalkonferenzen unterwegs und werbe im direkten Kontakt mit den Mitgliedern für ihren humanitären Kurs. Auch im Präsidiumsvorstand vom Montag sei es gelungen, die Reihen offiziell zu schließen. "Wann immer sie es schafft, das mit einem öffentlichen Wort zu verbinden, ist bisher keiner öffentlich aufgetreten und hat ihr dann in ihrem Beisein widersprochen." Korte: "Ich sehe noch nicht hier, dass sie die Macht verloren hat. Aber die Machterosion gegenüber der Partei − die ist natürlich erkennbar."
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Kunst, Sprachbilder zu verwenden, ist eine große und eine überaus heikle. Man sieht das gerade wieder beim Thema Flüchtlingskrise, wo zunehmend mehr von Wellen, von Fluten die Rede ist, von Einsickern und Überschwemmen.
O-Ton Wolfgang Schäuble: "Eine Lawine kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer oben in den Hang geht und ein bisschen Schnee in Bewegung setzt. Das ist ganz bisschen Schnee, dann wird es immer mehr. Ob wir schon in dem Stadion sind, wo die Lawine im Tal unten angekommen ist, oder ob wir im oberen Drittel des Hangs sind, weiß ich nicht. Wenn wir im oberen Drittel des Hangs sind, ist das Bild von der Lawine eine ziemliche Herausforderung. Die können wir Deutsche nicht alleine meistern."
Brink: Jetzt haben wir also auch eine Lawine. Sie auszulösen ist bestimmt einfacher als sie aufzuhalten, auch sprachlich. Und mit Sicherheit wird diese Lawine von Finanzminister Wolfgang Schäuble heute Abend auch der Bundeskanzlerin begegnen, Angela Merkel stellt sich nämlich heute Abend in der Sendung "Was nun?" den Fragen zur Flüchtlingspolitik und sicherlich auch zu den Machtverhältnissen in ihrer eigenen Partei. Wir wollen ein bisschen mehr darüber erfahren und spekulieren, der Politikwissenschaftler Professor Karl-Rudolf Korte ist Leiter der Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung in München, ich grüße Sie!
Karl-Rudolf Korte: Guten Morgen!
Brink: Schäubles Lawinenvergleich, das war ja mit Sicherheit kein sprachlicher Ausrutscher, der Mann ist seit über 40 Jahren im Parlament, gewaschen mit allen Wassern, das war eine bewusste Erklärung. Wie wird sie darauf reagieren? Sie wird bestimmt danach gefragt werden.
Korte: Ja, sie wird natürlich sagen, dass sie den Ministern im Kabinett keine Noten vergibt, jeder kann sagen, was er will, insofern wird sie darauf keinen direkten Bezug nehmen. Aber Schäuble ist im Wahlkampfmodus für die Landtagswahl in Baden-Württemberg und er weiß natürlich, dass Sprachgewinn auch immer Machtgewinn bedeutet. Diese Metaphern sind insofern nicht zufällig, sondern er versucht, eine Situation nicht nur zu interpretieren, sondern zu deuten und damit auch ein Stück weit zu gestalten.
Brink: Dann komme ich aber noch mal auf den Skifahrer zu sprechen beziehungsweise auf die Skifahrerin, denn es ist ja wohl klar, wen er damit meint, wenn irgendein unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht, damit ist ja Frau Merkel gemeint. Kann die das einfach so stehenlassen?
Korte: Je mehr sie darauf eingeht, umso mehr muss sie sich auch damit auseinandersetzen in einer öffentlichen Diskussion. Dem wird sie ausweichen, denn faktisch ist es auch so, dass für die Wanderungsbewegung, die wir im Moment sehen, die Bewegung, die dazu führt, dass viele Menschen unterwegs sind, ja es sehr viele Gründe gibt, die mittlerweile ja auch öffentlich mehrfach erörtert worden sind, und sicherlich nicht von einer Person so ein Strom – wie auch die Metapher auftaucht und verwandt wird – ausgelöst wird.
Brink: Alle fragen sich ja heute Abend bestimmt auch wieder, wie viel Kontrolle hat denn die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende vor allem noch über ihre eigene Partei?
Korte: Man hat schon den Eindruck, dass in so einer Kanzlerdemokratie ja Parteienmacht und Kanzlermacht zusammengehören, da haben wir eben viele historische Beispiele, dass nur das auch funktionieren kann und dass die Parteimacht im Moment ihr ein wenig entschwindet. Das äußert sich in den verschiedenen Funktionsträgern, die jetzt lautstark werden, die andere Positionen vertreten als die Parteivorsitzende. Andererseits ist sie sehr stark auf den Regionalkonferenzen unterwegs und versucht gerade über so eine Going-Public-Strategie, die Gremien auszuspielen, und mit dem direkten Kontakt der Mitglieder auch für ihr Verhalten, für ihre Position, für ihren humanitären Kurs sehr stark zu werben.
Brink: Man könnte das Ganze ja auch umdrehen und man könnte sagen, das, was Thomas de Maizière gemacht hat mit seinem Vorstoß zur Begrenzung des Familiennachzugs, oder wenn wir jetzt die Sprachbilder uns angucken, die Schäuble benutzt, man könnte ja auch denken: Das ist Teil eines Plans, eines Orchesters, wo die einen ganz bestimmten Teil spielen, und sie steht daneben und verfolgt eine andere Strategie.
Korte: Ja, erst mal fällt auf, dass die Partei ein bisschen ähnelt ... wie andere Parteien uns auch begegnen, dass sie öffentlich diskutiert und nicht nur hinter verschlossenen Gremien. Eine Staatspartei, die bisher so pragmatisch daherkam, für die ist das auch neu. Aber ich möchte einfach mal daran erinnern, dass es im Frühsommer noch so war, dass ein SPD-Ministerpräsident daran erinnert hat, vielleicht sollte man zukünftig gar nicht mit einem Kanzlerkandidaten für die SPD auftreten. Damit meine ich, dass wir einen Abstand zur Parteiführerin erlebt haben innerhalb dieser Partei, der so weit ist, dass offenbar auch kaum Mut noch war, überhaupt was zu kritisieren. Das ist jetzt das krasse Gegenteil. Aber ich sehe keine konzentrierte Aktion, dass man von einem Orchester geradezu sprechen kann. Ich sehe wichtige Einzelakteure, die versuchen, öffentlich Instrumente für eine Eingrenzung der Flüchtlingsströme zu werden.
Brink: Ist das also kein Machtkampf, sondern sind das Meinungsäußerungen, ganz normal?
Korte: Nein, das ist ein Machtkampf durchaus. Man wird aber auch von den Hauptakteuren wissen, dass die Kanzlerin keinesfalls irgendwo Obergrenzen benennen wird. Sie wird von ihrem einmal auch sehr biografisch begründeten Kurs, niemals mehr Mauern und Stacheldraht zu erdulden als Freiheitspatriotin, wie sie in die westdeutsche Politik praktisch auch als Migrantin ja eingetreten ist, abrücken. Aber sie werden versuchen, machtpolitisch Daumenschrauben anzulegen und drumherum mit dem einen oder anderen Akteur Stärke zu demonstrieren.
Brink: Aber trotzdem sieht man ja, dass die Parteichefin – und ich sage jetzt nicht die Bundeskanzlerin, sondern die Parteichefin – sich in Dissens mit ihrer Partei befindet, zumindest mit ihren wichtigsten Akteuren.
Korte: Ja, offiziell haben sie am Montag im Präsidiumsvorstand die Reihen geschlossen. Bisher gelingt ihr das. Ich bin überzeugt, dass auch in Karlsruhe beim anstehenden Bundesparteitag ihr das gelingen wird. Wann immer sie es schafft, das mit einem öffentlichen Wort zu verbinden, ist bisher keiner öffentlich aufgetreten und hat ihr dann in ihrem Beisein widersprochen. Das sind Dinge, die taktisch auf einer anderen Ebene laufen. Aber ich sehe noch nicht hier, dass sie die Macht verloren hat, aber die Machterosion gegenüber der Partei, die ist natürlich erkennbar.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.