Merkel und die Flüchtlingsfrage

"Mehr Abkommen mit Ländern wie Ägypten"

Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Besuch in Ägypten bei Präsident Abdel Fattah al-Sisi
Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Besuch in Ägypten bei Präsident Abdel Fattah al-Sisi © dpa / picture-alliance / Soeren Stache
Konrad Ott im Gespräch mit Nicole Dittmer und Felix Meyer |
Hinter dem Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ägypten dürfte auch ein neues Flüchtlingsabkommen stehen. Doch wie moralisch ist das angesichts der prekären Menschenrechtslage auch in Ägypten? Ethikprofessor Konrad Ott sieht den bevorstehenden Wahlkampf als Hauptmotivation.
Felix Meyer: Ägypten ist ein Land, in dem es vorangeht! Unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi brummt zum Beispiel der Bausektor, es wurden 17 neue Gefängnisse gebaut, damit Zehntausende politische Häftlinge endlich ein Dach über dem Kopf haben! – Ja, natürlich, das ist Ironie, das ist die Lage in Ägypten, wie sie Menschenrechtsorganisationen beklagen.
Nicole Dittmer: Und wenn dann heute die Bundeskanzlerin mit eben diesem Präsidenten spricht, vor allem über Flucht und Migration, auch über die Lage in Libyen und wirtschaftliche Kooperation, dann kann man natürlich mal wieder die Frage stellen: Reicht die übliche Formel aus, "Wir werden auch die menschenrechtlichen Probleme ansprechen!"? Wo ordnet sich Politik ein zwischen harten Interessen auf der einen und Moral auf der anderen Seite? Wir reden darüber mit Konrad Ott, er ist Professor für Philosophie und Ethik in Kiel. Guten Abend!
Konrad Ott: Ja, guten Abend!
Dittmer: Herr Ott, eine einfache Frage: Politik und Moral, passt das einfach nicht zusammen?
Ott: Ja, über diese Frage ist ja schon seit Jahrhunderten nachgedacht worden. Und es gibt gegenwärtig in der Theorie der internationalen Beziehungen, man könnte sagen, zwei große Denkrichtungen. Die erste Denkrichtung geht auf Philosophen wie Thomas Hobbes oder auch auf Hegel zurück und sie nennt sich realistische Schule. Man geht davon aus, dass die Welt der Staaten eine wesentlich anarchische Welt ist, in der letztlich die Interessen der einzelnen Staaten, die unterschiedlich sind, das letzte Wort behalten werden. Und es gibt keine verbindliche Moral, keine verbindliche Ethik.
Die andere Schule, die auf Denker wie Grotius oder Kant zurückgeht, hofft auf eine allmähliche Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Man setzt darauf, dass sich über Völkerrecht, Völkervertragsrecht allmählich gemeinsame ethisch-moralische Standards herausbilden, die für alle Staaten eine gewisse Verbindlichkeit beanspruchen können. Und etwa die Standards der UN-Menschenrechtsdeklaration, aber auch die Standards der Genfer Flüchtlingskonvention kämen in Betracht als sozusagen ein etwas gemeinsamer moralischer Grund. Also, unterschiedliche Philosophen sind unterschiedlich skeptisch oder hoffnungsvoll in Bezug auf eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Aber das war jetzt natürlich eine sehr allgemeine Antwort, die jetzt über diesen konkreten Besuch von Frau Merkel in dieser konkreten historischen Situation noch gar nichts sagt.
Meyer: Wie würden Sie es denn in dem konkreten Fall sagen? Ist es verantwortungsvoll, einem Präsidenten wie al-Sisi quasi die internationale Bühne zu geben und alles andere eher leise im Hinterzimmer anzusprechen?
Ott: Auch mit Staaten, die unseren demokratischen Standards nicht entsprechen – und Ägypten ist sicherlich keine Demokratie in unserem Sinne –, muss man diplomatische politische Beziehungen unterhalten dürfen. Die einzelnen Modalitäten, das sei einmal dahingestellt. Ich würde lieber über die Situation von Frau Merkel reden, die momentan in einer sehr schwierigen politischen Situation ist und eigentlich zu Gesprächen mit Ländern wie Türkei, Ägypten, Tunesien, Marokko und anderen keine Alternative hat in der momentanen Situation. Das heißt, sie ist gewissermaßen verurteilt.

"Das Türkei-Abkommen wird nicht ausreichen"

Meyer: Warum hat sie keine Alternative in der Situation? Also, man könnte doch irgendwo sagen: Gewisse Werte, gewisse Moral, wenn wir das eben hatten, gebe ich nicht auf, um irgendein Ziel zu erreichen!
Ott: Na ja, ich meine, wenn man es mal politisch betrachtet: Wir haben natürlich jetzt Wahljahr und man wird natürlich verhindern wollen, dass wir gewissermaßen im Frühling und Frühsommer im Grunde wieder große Migrationsbewegungen über das Mittelmeer haben werden. Das möchte man wahrscheinlich aus guten Gründen aus dem Wahlkampf heraushalten. Dann können wir uns in Ruhe in Deutschland über Gerechtigkeit unterhalten und haben dieses Thema dann erst mal nicht mehr. Und Frau Merkel hat eingesehen, dass das Türkei-Abkommen das Problem der Migrationsströme oder der Fluchtströme nicht vollständig lösen kann, weil sich sofort wieder neue Routen bilden. Und Ägypten scheint jetzt da sehr attraktiv zu sein. Libyen …
Meyer: Da könnte man aber doch auch sagen: Sie hat bei der Türkei etwas ausprobiert und geht jetzt noch mal den Schritt weiter und macht Ähnliches auch mit Ägypten!
Ott: Man sieht ja im Grunde, wie prekär dieses Türkei-Abkommen tatsächlich ist und wie viele Kröten man im Grunde mit diesem Türkei-Abkommen dann auch schlucken müsste. Der Fall von Deniz Yücel ist ja im Grunde nur ein Moment der Gesamtproblematik des Türkei-Abkommens. Und das Türkei-Abkommen wird aber nicht ausreichen. Man braucht gewissermaßen jetzt noch mehr bilaterale Abkommen mit Ländern wie Ägypten, mit Ländern wie Tunesien. Man muss irgendeine Lösung mit Marokko finden, wo ja in der vergangenen Woche auch dieser hohe Zaun in Ceuta gestürmt worden ist. Gewissermaßen muss man jetzt eine ganze Nordafrika-Politik betreiben.
Dittmer: Und da muss die Moral hintenanstehen?
Ott: Nein, muss sie nicht. Die Frage wäre natürlich jetzt auch: Welche Moral meinen wir, wenn wir von Moral sprechen? Es könnte ja durchaus sein, dass viele - auch wir untereinander - gerade hinsichtlich des Phänomenbereiches von Flucht, Migration keine einheitliche Moral haben; sondern es könnte sein, dass wir hier untereinander auch im moralischen Dissens liegen, wie wir mit diesem Phänomen umgehen sollen. Darüber habe ich ja in meinem kleinen Reclam-Essay "Zuwanderung und Moral" einiges gesagt, gerade die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.
Meyer: Das heißt, wir müssen auf jeden Fall diese Frage vermutlich noch länger und intensiver an neuen konkreten Beispielen thematisieren. Das war Konrad Ott, Professor für Philosophie und Ethik in Kiel. Vielen Dank für das Gespräch!
Ott: Herzlichen Dank, tschüs!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema