Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken“ im Verlag C. Bertelsmann.
Merkels Russland-Politik
Sympathieträgerin Angela Merkel: Der Philosoph Philipp Hübl warnt davor, dass wir uns in politischen Fragen zu sehr von Oberflächlichkeiten leiten lassen. © picture alliance / dpa / Fabian Sommer
Falsche Milde und getrübtes Urteilsvermögen
04:07 Minuten
Im ersten Interview als Ex-Kanzlerin hat Angela Merkel Putins Krieg verurteilt, ihre frühere Russlandpolitik aber verteidigt. Breite Sympathie bewahre Merkel vor einem kritischen Urteil, meint der Philosoph Philipp Hübl. Auch die Medien sind ihm zu milde.
Spätestens seit Putin die Krim annektiert hatte, wusste die Welt, dass er das Völkerrecht nicht ernst nimmt. Ein Jahr später, im Jahr 2015, hat Angela Merkel dem Bau der neuen Pipeline Nord Stream 2 zugestimmt.
Die Preisfrage lautet also: Wenn Merkel tatsächlich befürchtete, dass Putin Europa zerstören will, wie sie im Interview gesagt hat, warum hat sie dann zugelassen, dass Deutschland in der Energieversorgung von Putin abhängig wurde?
Sympathie für Merkels Art
Alexander Osang hat ihr diese naheliegende Frage nicht gestellt, das Publikum hat nicht rumort. Stattdessen ging es im Gespräch um Audiobücher und Merkels neues Leben ohne Amt, von dem sie mit Witz und Ironie erzählte. Insgesamt fällt die Kritik an Merkels Politik bisher milde aus, während Bundeskanzler Scholz umso stärker unter Druck gesetzt wird, schärfere Sanktionen zu verabschieden, obwohl er das aktuelle energiepolitische Dilemma nicht zu verantworten hat.
Warum ist das so? Die Antwort liegt nahe: Weil wir Merkel in ihrer direkten, selbstironischen und manchmal unbeholfen-natürlichen Art sympathisch finden. Diese Sympathie, die übrigens weit über die Parteigrenzen hinausgeht, verstellt aber gerade unseren kritischen Blick. Bei den Bürgern mag das noch verständlich sein, und nach einer 16-jährigen Amtszeit färben Vertrautheitsgefühle unser Urteil positiv ein, wie Untersuchungen zeigen. Im Journalismus ist diese Haltung jedoch inakzeptabel.
Dasselbe gilt übrigens für Obama, bei dem wir uns von seiner Eloquenz und seinem Charisma haben blenden lassen. Wenn er spricht, könnte man ihm stundenlang zuhören. Doch auch Obama wird nur vereinzelt dafür kritisiert, dass er weit über 3000 Menschen durch völkerrechtlich äußert fragwürdige Drohnenschläge hat töten lassen, zehnmal mehr als sein Vorgänger George W. Bush. Oder dafür, dass er im syrischen Bürgerkrieg tatenlos geblieben ist, obwohl "rote Linien" überschritten wurden, hunderttausende Syrer sterben mussten und Millionen zur Flucht gezwungen wurden.
Wahlentscheidung nach dem Teletubby-Prinzip
In einer Diskussion über moralische Fragen müssten wir unsere Urteile eigentlich so sorgsam abwägen wie eine Richterin. Doch wir verhalten uns eher wie Ankläger oder Strafverteidiger: Wir sind großzügig gegenüber dem Fehlverhalten in der eigenen Gruppe, und viel strenger bei Verstößen von Außenstehenden. Mehr noch, wir lassen uns vor allem von irrelevanten Äußerlichkeiten leiten:
Wir urteilen zu harsch, wenn jemand den Ton nicht trifft oder einen schiefen Vergleich bemüht, und umgekehrt zu milde, wenn Politiker durch ihr Auftreten charmant, kompetent oder authentisch wirken, wie eben Merkel und Obama.
Distanz zum Bauchgefühl
Die Forschung zeigt sogar, dass viele Menschen politische Kandidaten allein aufgrund ihres Aussehens wählen, besonders, wenn diese den Gesichtsausdruck von durchsetzungsfähigen Anführern haben. Wähler entscheiden sich ähnlich wie Kinder in einem Experiment, denen man Fotos zeigt und fragt: Wer soll Kapitän auf dem Schiff der Teletubbies sein?
Man kann über solche Erkenntnisse schmunzeln und man könnte unkritische Sympathie als allzumenschliche Urteilsverzerrung abtun, wenn die Folgen wie jetzt im Fall der Ukraine nicht so verheerend wären. Sympathie ist wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber hinderlich für politische Kritik. Moralisches Denken darf sich eben nicht von Affekten leiten lassen, von bloßen „Neigungen“, wie Kant sagen würde. Stattdessen sollte man eine Distanz zu seinem eigenen Bauchgefühl einnehmen, und zwar gerade dann, wenn es sich gut anfühlt.