Merkels "Wir schaffen das"

Ein Wirtschaftswunder-Satz von höchster Raffinesse

Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Sommerpressekonferenz
Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Sommerpressekonferenz © imago / Xinhua
Von Christian Schüle · 05.10.2015
Angela Merkel ist bekannt für ihr rationales und scheinbar emotionsloses Handeln. Umso mehr erstaunte sie die Öffentlichkeit mit ihrem Satz "Wir schaffen das" angesichts der zu Tausenden ankommenden Flüchtlinge. Unser Essayist Christian Schüle hat sich die drei Worte genauer angeschaut.
Angela Merkel ist vermutlich die Klügste unter allen Politikern, die die Bundesrepublik Deutschland je hatte. Alles, was sie tut, scheint Resultat eines rationalen Kalküls bei höchstem Verstande zu sein - und doch könnte sich alles auch genau anders verhalten: Man weiß nie, ob das, was die Kanzlerin sagt oder nicht sagt, kalkuliert ist oder nicht. Und diese prinzipielle Ungewissheit eines möglichen Kalküls unaufgelöst zu lassen, könnte wiederum Kalkül sein.
Kürzlich nun hat die Kanzlerin - womöglich auf dem Gipfel der Meisterschaft ihrer Kunst der Verwirrung angelangt - ein Kabinettstück rhetorischer Mimikry hingelegt. In einem Moment, da die gesamte Republik in die Anarchie eines Ausnahmezustands fiel, sagte Merkel auf ihrer traditionellen Sommer-Pressekonferenz angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise: Deutschland sei ein starkes Land. Und dann mit Emphase, Zitat: "Wir schaffen das."
Politisch genial?
Wir schaffen das. Ein Wirtschaftswunder-Satz von höchster Raffinesse, weil er in alle Richtungen anschlussfähig ist. Unterstellen wir, Frau Merkel wusste ganz genau, was sie sagt. Entweder hat sie diesen Satz, der wie ein emphatischer Ausbruch wirkt, als emphatischen Ausbruch auch strategisch konzipiert - und alle Konsequenzen vorbedacht.
Oder sie hat diesen als emotionale Exklamation getarnten Satz ganz bewusst zu ebenjenem Zeitpunkt mit eben jener Emphase ausgerufen, weil sie in den Tagen oder Stunden zuvor die Chance erkannt hat, das durch Griechenland-Verhandlung, Pegida-Nationalismus und brennende Asylbewerber-Unterkünfte ramponierte Image Deutschlands nachhaltig aufpolieren zu können.
Wir schaffen das! signaliert der ganzen Welt: Die so lange aus ihrer operativen Verantwortung flüchtende Bundesrepublik übernimmt in der größten Krise des Kontinents federführende Verantwortung - und zwar ohne Panzer und Pickelhaube, sondern mit Herz und Zelt. Mehr noch: Mit seinem verblüffenden Humanitarismus leistet Deutschland praktisch und symbolisch Abbitte für seine alten und neuen Nationalsozialisten und zeigt zugleich den Islamo-Faschisten aller Länder: Der Westen ist nicht böse und sittlich verderbt, der Westen ist gut und nächstenliebend!
Und hätte Merkel den Satz also bewusst gesagt und zugleich gewusst, dass sie die deutschen Landesgrenzen ein paar Tage später wieder würde schließen lassen, wäre das 'Wir schaffen das!' ein cleveres Mittel zum Zweck des eigenen Machtzuwachses gewesen: Die Kanzlerin hätte gleichermaßen linke Hurra-Humanitaristen wie auch Law-and-Order-Konservative auf ihre Seite gezogen.
All das nun wäre, träfe es zu, politisch geradezu genial.
"Freunde, lasst die Deutschen nur machen"
Und wenn nicht? Wenn der Satz wider Erwarten keinem Kalkül entsprang? Wenn die Kanzlerin dieses 'Wir schaffen das!' scheinbar unbedacht gesagt hätte, dann hätte sie erstens all jene Wichte, die ihr in zynischer Anmaßung Gefühlskälte unterstellen, als bösewollend entlarvt, die gesamte Kritik an ihrem Emotionshaushalt kastriert und die Herzen womöglich vieler Wähler für 2017 gewonnen.
'Wir schaffen das!' antwortet nicht auf Kosten, Folgen und Konsequenzen; der Satz antwortet nicht auf die Frage, ob die gesamte deutsche Bevölkerung dieses 'das' schaffen kann, ja ob sie es überhaupt will. Er zieht weder soziale, religiöse und kulturelle Konflikte noch keimende Ressentiments in Betracht. Und er signalisiert den europäischen Nachbarn: Freunde, lasst die Deutschen nur machen. Wir, die Deutschen, sind die Einzigen, die die Kraft, Größe und Potenz haben, das epochale Ereignis zu bewältigen!
Und dann lassen uns die Freunde gerne machen, zeigen auf lange Zeit hinaus immer wieder nach Deutschland, und die bösen Zungen der üblichen Ideologen hierzulande werden unterstellen, hier walteten germanische Hegemonial-Fantasien, denn nun solle am moralischen deutschen Wesen die Welt genesen.
Die deutsche Regierungschefin hat drei Worte in die Welt gesetzt, die ein Bild von ihr und ihrem Land ins Gedächtnis der Geschichte abspeichern werden. Wie verhängnisvoll auch immer: 'Wir schaffen das' wird neben Merkels Satz von der marktkonform gestalteten Demokratie zum irrationalen Vermächtnis ihrer so rational konzipierten Kanzlerschaft werden.
Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?" (beide Droemer-Knaur/Pattloch). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
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Christian Schüle© privat
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