Messengerdienst Telegram

Darknet für die Hosentasche

30:18 Minuten
Rückansicht eines Mannes, er steht bei einer Kundgebung auf der Bühne und spricht in ein Mikrofon.
Auf Telegram finden Extremisten und Verschwörungsmystiker wie der Vegankoch Attila Hildmann eine Plattform. © imago images / Christian Thiel
Von Tassilo Hummel |
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Drogenhandel, Antisemitismus, Pornografie: Auf Telegram scheint alles erlaubt. Und so ist die russische Messenger-App beliebt bei Kriminellen und Extremisten. Aber auch Dissidenten und Whistleblower nutzen den Dienst. Doch wie sicher ist er wirklich?
"Die Lösung des Problems ist ganz einfach: Der Volksdeutsche muss sich seinen Boden zurückholen. Denn er hat ja auf deutschem Boden gar nichts mehr zu sagen, seitdem der Jude den Krieg gewonnen hatte."
Solche Sprachnachrichten schickt Attila Hildmann seinen Fans. Er ist wegen seiner Hetze per Haftbefehl gesucht und befindet sich vermutlich in der Türkei. Von dort sendet er Fake News zum Coronavirus, Verschwörungsfantasien und quasi jeden Tag aufs Neue antisemitische Hassbotschaften, die in Deutschland Straftaten sind. Zwar ist Hildmann wegen seiner Hetze bei Youtube, Facebook und Instagram rausgeflogen. Doch er sendet weiter. Für seine über 80.000 Kanalabonnenten auf Telegram – zusammen mit vielen anderen Rechtsradikalen.
"Servus Leute, Grüße aus Wien. Ich sollte eigentlich schon schlafen, will aber noch kurz ein paar Gedanken äußern, die mir gerade im Kopf herumspuken"
Das ist Martin Sellner, neurechter Influencer und Kopf der vom Verfassungsschutz beobachteten Identitären Bewegung. Auch er ist bei den großen Social-Media-Plattformen gesperrt worden und auch er bespielt mit Sprachnachrichten, Videos und Posts einen Kanal mit fast 60.000 Followern auf Telegram.

Drogen, Rechtsextremismus - auf Telegram ist alles erlaubt

Es scheint, als sei auf Telegram alles erlaubt, was überall sonst verboten ist. Das hier sind Gitarrenriffs von Stahlgewitter, eine Nazi-Rockband. Viele ihrer Lieder sind in Deutschland indiziert, die Veröffentlichung ist also verboten. Auf Telegram findet sich ihr Gesamtwerk als mp3 zum Anhören und Herunterladen. Ähnlich ist es mit der Musik anderer indizierter Neonazi-Bands wie Landser oder Division Germania. Genauso wie die Kanäle von Hildmann und Sellner sind auch die Telegram-Kanäle mit Nazi-Musik komplett öffentlich, auch Jugendliche müssen nur die entsprechenden Namen in das Suchfenster eingeben.
Obwohl Telegram deutlich kleiner ist als sein Konkurrent Whatsapp, hat die App nach eigenen Angaben bereits über 500 Millionen aktive Nutzer weltweit. Natürlich nutzen die meisten die App einfach nur zum Chatten und Fotos verschicken. Doch Telegram fungiert seit einer Weile schon als eine Art Darknet im Hosentaschenformat. Betrieben und finanziert wird die App vom russischen Tech-Unternehmer Pavel Durov. Über die Hintergründe der App ist nur sehr wenig bekannt. Immer bekannter ist dagegen, was auf der App so alles möglich ist. Zum Beispiel Drogenkaufen. Über Telegram-Gruppen kann sich alle möglichen Substanzen bequem nach Hause liefern lassen – wie eine Pizza.
Your trusted One *** Raymans Deal. Verified Vendor. High Quality Weed, High Quality Hash, High Quality Coke. All over Berlin. Cash only. Trust Ray, get high. Open a secret chat and feel free to order.
Solche Werbeposts, hier etwa aus der Gruppe "Berlin Cafe" mit rund 14.000 Mitgliedern, sind allgemein sichtbar. Bestellt wird per Geheimchat – also per Ende-zu-Ende verschlüsseltem Chat, in dem nichts gespeichert werden kann und der sich bei Bedarf von selbst löscht. Kürzlich berichtete im rbb-Format "Schattenwelten Berlin" ein Drogendealer anonymisiert über das Telegram-Geschäft:
"Das ist auf jeden Fall so ein typischer Wochenendpost. Wenn ich weiß, okay, die Leute sind hungrig, dann geht es halt los: Ecstasy different types, pharmacy different types, fürs Runterkommen natürlich danach. Diazepam, Tilidin, viele setzen sich gerne auch Opiate auch am Wochenende und chillen dann einfach mal gerne ab. So, diesen Beitrag haben 939 Leute gesehen. Dementsprechend habe ich daran auch gut Umsatz gemacht an diesem Tag."

Kaum Kooperation mit den Behörden

Die App, die inzwischen aber offiziell in Dubai sitzt, kooperiert grundsätzlich nicht mit den Sicherheitsbehörden. Das bestätigt der sichtlich resignierte Leiter des Drogendezernats bei der Berliner Polizei.
"Also wie muss ich mir das vorstellen? Sie schreiben dann eine E-Mail an Telegram und dann kommt nichts und dann noch eine und dann kommt wieder nichts?" – "Genauso sieht das aus. "
Telegram ist in Deutschland der zweitbeliebteste Messengerdienst und sieht seinem großen Rivalen Whatsapp, aber auch alternativen Messengern wie Signal und Threema, auf den ersten Blick sehr ähnlich. Doch die App hat einige Besonderheiten: etwa Gruppenchats unter Tausenden von Usern oder Kanäle, die mit bis zu mehreren Millionen Followern eher Social-Media-Seiten ähneln. Und es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Whatsapp gehört zum Facebook-Konzern und dieser übergibt Daten verdächtiger Nutzer an Behörden und moderiert problematische Inhalte.
Ganz anders Telegram. Die App verkündet stolz, noch nie in ihrer Geschichte auch nur einen Byte Nutzerdaten an Behörden gegeben zu haben. Außerdem verficht Telegram eine Maximalauslegung der Meinungsfreiheit – und geht so gut wie nie gegen Urheberrechtsverletzungen vor.

Ein rebellisches Image haftet der App an

Kaum verwunderlich also, dass die weltweit größten Telegram-Kanäle Raubkopien indischer Bollywoodfilme anbieten, dicht gefolgt von Kanälen mit Millionen von Trump-Anhängern. Damit haftet der App ein rebellisches Image an, das sie im letzten Jahr auch in Deutschland in gewissen Kreisen sehr beliebt gemacht hat.
"Telegram ist extrem beliebt geworden bei Lockdown-Gegnern, Corona-Skeptikern, aber auch in der extremen Rechten und bei Anhängern von Verschwörungen wie QAnon. Diese ganzen Strömungen aus dem Internet sind zu Telegram gewandert. Und dort werden Fehlinformationen von bestimmten Kanälen in die Welt gesetzt und dann auch in andere Kreise, nicht unbedingt extremistische Kreise, hineingetragen", analysiert der amerikanische Politikwissenschaftler William Callison. Im Januar 2021 veröffentlichte er im Magazin Boston Review eine vielbeachtete Analyse der deutschen Corona-Skeptiker-Szene. Er zog Parallelen zwischen dem Versuch der Querdenker-Bewegung, das Reichstagsgebäude zu kapern, und dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol. Eine Schlüsselrolle in der politischen Mobilisierung spielte laut Callison die Messenger-App Telegram.
"In der Pandemie ist das dann explodiert. Die Leute saßen allein zu Hause herum, waren frustriert über ihre Isolation. Und dann wurden sie da in diese neue App reingezogen, oft weil Leute, denen sie auf Facebook oder Youtube gefolgt sind, gesagt haben: "Hey, folgt mir auf Telegram."
Trump-Anhänger auf dem Gelände des gestürmten Kapitols in Washington am 6. Januar 2021.
Bei der Mobilisierung zum sogenannten Sturm auf das Kapitol in Washington am 6.1.2021 soll der Messengerdienst Telegram eine entscheidende Rolle gespielt haben.© picture alliance / Pacific Press | Michael Nigro
Natürlich gibt es auf Telegram sehr viele unpolitische deutsche Kanäle. Und auch unter den rechtsgerichteten sind längst nicht alle so extrem wie der von Attila Hildmann. Fast 200.000 Leserinnen und Leser hat zum Beispiel der Kanal von Eva Herman, die dort Esoterik-Literatur und Haushaltsprodukte vermarktet. Auch Sekten, Kleinstparteien wie "Die Basis" und Pseudo-Journalistinnen und -Journalisten betreiben Kanäle mit Zehn- und Hunderttausenden Abonnenten. Viele rufen auch zu Spenden auf oder verkaufen in Onlineshops ihren Nippes. Sie alle eint der Unmut über die Corona-Maßnahmen – und die Liebe zu Telegram.
"Auf Telegram schanzen sich die Kanalbetreiber als Unternehmer für Verschwörungen und Fake News ihre Nutzer untereinander zu. Anders als etwa auf Twitter geht das hier nicht über einen Algorithmus, sondern über die Weiterleitungsfunktion. So können sich die Anführer der verschiedenen Kanäle gegenseitig bewerben und verlinken und die Nutzer geraten immer tiefer hinein. "
Der US-Forscher William Callison findet: Telegram hat großes Radikalisierungspotenzial.
"Man leitet Ihnen Inhalte weiter und zwar in Gruppen, die Sie sich selbst ausgesucht habenund die vielleicht sogar über ihren Familienkreis oder ihren Freundeskreis kommen. Da glauben Sie natürlich eher, was Ihnen da erzählt wird."

Nur vordergründig anarchisch und wildwüchsig

Und die Kommunikationsforscherin Chantal Gärtner sagt:
"Dass sich Telegram immer präsentiert als Messenger, der nicht mit Staaten kooperiert und insofern auch staatsfern ist. Und dass es deswegen ja auch irgendwie ein Grund sein kann, warum Personen, die jetzt quasi gegen das aktuelle System sind, quasi dahin abwandern."
Gärtner ist Co-Autorin einer Ende 2020 veröffentlichten Studie der Universität Greifswald für die Landesmedienanstalt NRW, die Telegram auf rechtswidrige Inhalte untersucht hat. Ihr Kollege Jakob Jünger erklärt, dass Telegram-Gruppen und Kanäle zwar wildwüchsig und anarchisch aussehen, oft aber professionell betrieben werden.
"Das sind eben nicht immer so Graswurzelbewegungen, die einfach so bottom up entstehen aus den Interessen und dann finden sich Gleichgesinnte. Sondern die werden eben zum Teil auch sehr strategisch koordiniert, dass wir eben einzelne Leute haben, so Figuren in diesen Bewegungen, die sehr strategisch eine Vielzahl von Kanälen und Gruppen aufbauen und dann eben auch sehr gut die Techniken zu nutzen wissen, die wir dann auf diesen Plattformen haben, um eine Vernetzung herbeizuführen, um eine Reichweite zu bekommen."

Drogenhandel, Pornografie und Extremismus

Neben dem Feld des Rechtsextremismus fanden die Medienforscher die meisten Rechtsverstöße in den Bereichen Drogenhandel, Dokumentenfälschung und Pornografie:
"Während auf anderen Plattformen mittlerweile viel restriktiver das Communitymanagement betrieben wird, ist das bei Telegram erst einmal völlig unklar. Am Ende muss man sagen, gibt es halt eine Person, die darüber entscheidet, was auf dieser Plattform passiert und was auf dieser Plattform nicht passiert. Und das ist halt der Gründer von Telegram. Das ist ja eine hierarchisch durchstrukturierte Organisation. Und das ist erstmal auch hochproblematisch."
Gemeint ist ein Mann namens Pavel Durov. Durov ist Russe, kleidet sich wie Keanu Reaves in Matrix und ist bekennender Libertärer. Mit Anfang 20 baute er das russische Facebook-Pendant VKontakte auf, fiel jedoch 2012 bei den russischen Behörden in Ungnade, weil er sich weigerte, putinkritische Gruppen zu sperren. Letztlich verließ Durov VKontakte – das heute regierungsnahen Geschäftsleute gehört –, besorgte sich die Staatsbürgerschaft des Karibikstaates Saint Kitts und Nevis und gründete im August 2013 Telegram.
Um Putins Behörden dieses Mal zu entgehen, verlegte Durov Telegram ins Ausland, zwischendurch auch nach Berlin. Zusammen mit seinem weltweit zerstreuten Entwicklerteam führte Durov die russische Regierung, die Telegram in seinen Anfangstagen offiziell verboten hatte, durch eine geschickte Server-Infrastruktur so an der Nase herum, dass die App für Millionen von Russen trotzdem online blieb.

Viele sehen in Durov eine Lichtgestalt

Heute arbeitet Telegram nach eigenen Angaben von Dubai aus. Der Spiegel berichtete kürzlich, dass der dortige Unternehmenssitz jedoch nicht mehr ist als ein Briefkasten. Wo auf der Welt die Server von Telegram stehen, ist immer noch unbekannt. Pavel Durov und sein Team geben keine Interviews.
Auf LinkedIn finden sich einige Profile, die angeben, bei Telegram zu arbeiten, jedoch nicht antworten. Genauso wenig wie Telegrams offizieller deutschsprachiger Kundensupport – den es wohl tatsächlich gibt. Und zwar in Form eines nebulösen Telegram-Accounts mit einer tschechischen Handynummer, der angibt, dass hier "Freiwillige" tätig seien – jedoch ebenfalls nicht reagiert. Auch eine Anfrage von Deutschlandfunk Kultur blieb ohne Antwort.
Doch Telegram hat auch eine andere, positive Seite. Und für viele ist Pavel Durov eine Lichtgestalt.
"Also Pavel Durov ist nicht gleich ein Held in der russischen Protestbewegung. Aber er ist schon eine sehr wichtige Figur. Die russische Regierung versucht natürlich immer wieder, Telegram zu unterminieren und als ein Medium zu verbieten, und diese Versuche werden wahrscheinlich zunehmen, weil es natürlich nicht übersehen wird, dass sich die Protestbewegung ausschließlich per Telegram vernetzt hat."
So die Russin Dasha Dudley, eine Putin-Kritikerin, die mit ihrem britischen Mann in Berlin im Exil lebt. Hier organisiert sie Protestveranstaltungen, um auf Probleme in ihrer Heimat aufmerksam zu machen. Per Telegram sind Dudley und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit dabei, wenn Oppositionelle in Russland auf die Straße gehen.
"Also wir vernetzen uns wirklich vor allem über Telegram und es gibt mittlerweile gut organisierte Telegram-, nicht nur Chats, also wirklich gut ausgearbeitete Telegram-Kanäle, über die wir unsere Aktivitäten koordinieren."
Der russische Tech-Unternehmer Pavel Durov
Der russische Tech-Unternehmer Pavel Durov finanziert die Telegram-App.© dpa / picture alliance / Tatan Syuflana
Dudley sagt, Telegram sei mit Abstand das wichtigste Tool in ihrer politischen Arbeit.
"Ich kenne mich jetzt mit der technischen Organisation nicht so gut aus. Aber was ich aus den Medien lese, ist Telegram schon ziemlich sicher. Das ist das eine. Das andere ist vielleicht eine gewisse Sympathie mit dem Team von Pavel Durov. Und schließlich ist einfach eine ganz andere Arbeitsform da, ist sehr viele kreativ, also sehr viel kreative Gestaltung dabei."
Die Putin-Kritikerin hat es über Telegram sogar geschafft, Kontakt zum Team von Alexej Nawalny herzustellen, dem aktuell wichtigsten Widersacher Putins. In Russland ist Telegram zu einem Leitmedium geworden, denn während der Kreml immer massiver gegen Oppositionelle, aber auch gegen investigative Journalistinnen und Journalisten vorgeht, wird die App zu einem der letzten Orte, auf dem kritische Informationen noch zugänglich sind. Ähnlich ist die Lage auch im Iran – wo Telegram offiziell verboten ist, jedoch millionenfach genutzt wird – und in Belarus, wo die Arbeit der Betreiber des Kanals Nexta letztes Jahr einen ganzen Volksaufstand gegen Machthaber Alexander Lukaschenko lostraten.
"Telegram ist nicht zum Chatten gedacht. Telegram ist zum Arbeiten gedacht, damit sich Menschen miteinander vernetzen und dann wirklich bestimmte Projekte sehr schnell und effektiv auf die Beine stellen können."

Wie sicher ist Telegram?

Die App beinhaltet Coworking-Funktionen, kann große Dateien in so gut wie jedem Format verschicken und wiedergeben, hat eine Umfrage-Funktion, erlaubt riesige Massenchats, Telefongespräche, Geldtransfers und Videokonferenzen. Oppositionelle vertrauen Telegram, obwohl über das Unternehmen nur wenig bekannt ist.
Doch wie sicher ist die App? Verstörend wirkt eine Nachrichtenmeldung aus dem Jahr 2020, wonach Telegram in Russland nun doch wieder offiziell erlaubt ist. Denn die Betreiber der App haben sich bereit erklärt, gegen "Extremismus und Terrorismus" vorzugehen. Dieses Jahr hat Telegram in Russland sogar erstmals Kanäle und Accounts gesperrt. Gibt es nun also einen Deal mit der russischen Regierung? Es ist völlig unklar.
"Vielleicht gibt's irgendwelche Deals im Hintergrund, vielleicht ist das gar nicht geplant von ihm. Das ist alles. Für mich ist das alles offen. "
York Yannikos arbeitet am Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie in Darmstadt als Experte für IT-Forensik. Er analysiert auch, wie sicher die Daten der User und Userinnen bei Telegram sind – oder besser gesagt, wie unsicher. Denn anders als bei Whatsapp, Signal und bald auch dem Facebook-Messenger, wo alle Chats standardmäßig Ende-zu-Ende verschlüsselt sind, gibt es bei Telegram große Lücken.
"Und das, was eigentlich nur verschlüsselt ist, ist der Transport quasi. Also auf dem Weg kann keiner da reingucken. Aber sobald die Nachricht auf dem Server oder den Servern von Telegram angekommen ist und dann da verteilt wird an die Empfänger und so weiter, können die Serverbetreiber z.B. alles lesen. Das wird auch gespeichert."

Telegram verfolgt zunehmend wirtschaftliche Interessen

Telegram habe zwar die sogenannte geheime Chatfunktion, bei der Daten verschlüsselt verschickt werden und laut Angaben der Betreiber nicht auf Telegrams Servern, sondern nur auf den beiden beteiligten Smartphones gespeichert werden. Dies muss jedoch jedes Mal explizit beim Chatten eingestellt werden. Außerdem funktioniert die Funktion nicht bei Chats zwischen mehr als zwei Personen.
"Warum ist denn nicht jeder standardmäßige Chat irgendwie ein geheimer Chat? Warum kann man das denn nicht pauschal Ende zu Ende verschlüsselt machen? Wie das Threema macht, wie das Signal macht, wie das Whatsapp eigentlich macht und dann argumentieren sie: ‚Es geht um Backups und es ist dann schwieriger zu backupen. Auch wenn man mal das Gerät wechseln will.‘ Und das sind halt Argumente, die insbesondere von Kryptografie-Experten eben nicht so gern gesehen werden."
Die Folge: Bei Telegram – wo auch immer seine Server stehen – liegen massenhaft private Daten, die das Unternehmen auslesen, analysieren, theoretisch auch weiterverkaufen oder an Regierungen geben könnte. Zumal Telegram zunehmend wirtschaftliche Interessen verfolgt. Ende letzten Jahres kündigte Telegram an, in den Kanälen Werbung einführen zu wollen. Telegram schreibt auf seiner Website, der Datenschutz sei gewährleistet. Doch Kontrollinstanzen wie zum Beispiel einen Aufsichtsrat gibt es im Durov’schen Unternehmen nicht. Nutzerinnen und Nutzer müssen schlicht und einfach hoffen, dass alles gut geht.
"Je weniger Vertrauen man jemandem entgegenbringen muss, um das Produkt zu verwenden und trotzdem sicher ist, desto besser. Und hier muss man viel vertrauen. Das sind Punkte, die alle eigentlich eher nicht positiv zu bewerten sind."
Ein Frau mit dunklem Kopftuch, dunkler Jacke und Mund-Nasen-Schutz sitzt auf einer Bank an einer Straße und schaut auf das Display eines Smartphones.
Im Iran ist Telegram offiziell verboten, genutzt wird die App dennoch millionenfach (Symbolbild).© imago images / NurPhoto / Morteza Nikoubazl
Mit seinen riesigen Kanälen und Gruppenchats und seinen Millionen Nutzern ähnelt Telegram zunehmend einem sozialen Netzwerk. Kritiker meinen, der deutsche Staat sollte Telegram dann auch wie eine Social-Media-Plattform dazu verpflichten, gegen rechtswidrige Inhalte vorzugehen. Ermöglichen würde dies das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das seit 2017 regelt, wie auf Social-Media-Plattformen mit Hasskriminalität und anderen rechtswidrigen Inhalten zu verfahren ist.

Zwei Bußgeldverfahren gegen Telegram in Deutschland

Doch da gibt es ein Problem: Im Gesetz selbst steht, dass Messengerdienste ausgenommen sind. Und Telegram ist ein Messengerdienst – dachte man zumindest.
"Wir führen derzeit zwei Bußgeldverfahren gegen Telegram wegen des Fehlens eines (…) leicht erkennbaren und unmittelbar erreichbaren Meldewegs für strafbare Inhalte auf Telegram sowie wegen der Nichtbenennung eines Zustellungsbevollmächtigten für Ersuchen von Gerichten in Deutschland. In diesem Zusammenhang hat das Bundesamt für Justiz (...) im Wege internationaler Rechtshilfe zwei Anhörungsschreiben an das Unternehmen Telegram in den Vereinigten Arabischen Emiraten gesandt."
So schreibt es das Bundesamt für Justiz an den Autor dieser Sendung. Auf mehrmalige Nachfrage weigerte sich das Bundesamt, genauere Informationen zu den laufenden Verfahren mitzuteilen. Es ist also unklar, ob es die deutsche Behörde erstmals schafft, mit Telegram in Austausch zu treten. Das wäre nämlich an sich schon eine Premiere. Denn westliche Behörden werden vom Unternehmen bisher konsequent ignoriert. Es gibt nur eine bekannte Ausnahme: Europol in Den Haag. Die Beamten dort haben es tatsächlich geschafft, dass Telegram kooperiert. Wenn Europol Inhalte und Nutzer rund um Aktivitäten des Islamischen Staats meldet, dann sperrt Telegram diese.
"Die Kooperation mit Telegram basiert auf einer vertrauensbasierten Beziehung mit der Plattform. Über das Melden von Inhalten hinaus pflegt unsere Ermittlungseinheit einen steten Austausch mit Telegram, um über neue Trends beim Missbrauch durch Terroristen zu informieren und Telegram bei der Verbesserung ihres Mechanismus zum Aufspüren von Inhalten zu unterstützen", heißt es in einer E-Mail von Europol an Deutschlandfunk Kultur.

Attila Hildmanns Kanal ist nicht mehr für alle sichtbar

In Bezug auf islamistische Terrornetzwerke scheint Telegram sich seiner Verantwortung also bewusst zu sein. Sogar ein Telegram-Sprecher lässt sich in einer Pressemitteilung zum Vorgang zitieren:
"Wir unterstützen freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest, aber Terrorismus und Propaganda von Gewalt haben keinen Platz auf Telegram. "
Im Bereich Rechtsextremismus scheint das nicht zu gelten. Auf unzähligen deutschen Kanälen finden sich Hass und Hetze, rechtsextreme Symbole und Musik. Und Telegram tut nichts. Fast nichts. Medienberichten zufolge soll Telegram nach dem Sturm von Trump-Anhängern auf das Kapitol am 6. Januar 2021 gegen einige Rechtsextreme in den USA vorgegangen sein. Wohl aus Sorge, es könnte ansonsten von Google und Apple aus den App-Stores geworfen werden, wie es der App Parler zwischenzeitlich passierte. Wirtschaftliche Aspekte scheinen die Betreiber also durchaus zu interessieren.
Etwas Ähnliches gab es kürzlich auch in Deutschland: Der Kanal von Attila Hildmann ist für diejenigen Nutzerinnen und Nutzer, die den Messengerdienst über die Appstores heruntergeladen haben, nicht mehr sichtbar. In der Desktop-Version der App jedoch schon. Außerdem bietet Telegram für Android-Nutzer mittlerweile an, die App am Google-Store vorbei direkt bei Telegram herunterzuladen – diese Version habe "weniger Restriktionen."

Mit einem Staatstrojaner gegen Telegram?

"Eines muss man dieser Koalition ja lassen. Die Seehofer-Doktrin wird konsequent umgesetzt. Alle dürfen alles."
Der Deutsche Bundestag in Berlin, im Mai 2021. Der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser wettert gegen ein neues Gesetz, mit dem die Bundesregierung den deutschen Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse zur Überwachung von Messenger-Diensten verleihen will.
Im Kern der Gesetzesreform steht eine Regelung, die Innenminister Horst Seehofer schon lange fordert: Der deutsche Verfassungsschutz soll gefährliche Personen künftig in Messengerdiensten ausspionieren dürfen. Per spezieller Software – genannt Staatstrojaner oder auch Quellen-TKÜ, mit denen die verschlüsselten Nachrichten von Telegram, Whatsapp und Co. direkt auf dem Smartphone ausgelesen werden können. Ähnliche Befugnisse gibt es schon für Landespolizeibehörden und nach Plänen der Bundesregierung bald auch für die Bundespolizei. Auf europäischer Ebene gehen die Pläne sogar noch weiter.
"Das Europäische Parlament hat zum ersten Mal einem Gesetz zur Massenüberwachung zugestimmt. Das bedeutet, dass ohne jeden Anlass und Verdacht, fehleranfällige Algorithmen, unsere privaten Nachrichten, unsere privaten E-Mails. Selbst wenn da Nacktfotos und intime Gespräche drin enthalten sind durchforsten nach verdächtigem Material und das dann größtenteils vollautomatisch bei der Polizei anzeigen. Das bedeutet, dass letzten Endes das digitale Briefgeheimnis dahin ist", sagt Patrick Breyer, ein Jurist und Datenschutzaktivist, der für die Piratenpartei im Europäischen Parlament sitzt.

Dissidenten und Whistleblower brauchen sichere Kommunikation

Er bezieht sich auf eine geplante neue Richtlinie der EU-Kommission zur sogenannten Chatkontrolle, die es Techkonzernen erlauben soll, die Kommunikation ihrer Nutzerinnen und Nutzer auf Verdächtige Inhalte zu durchforsten, um Rechtsverstöße an die Behörden zu melden. Zwar gilt die neue Gesetzgebung erstmal nur für den Bereich des Kindesmissbrauchs und betrifft noch nicht die Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation der Messengerdienste. Doch Breyer fürchtet, weitere Maßnahmen könnten bald folgen.
"Die Kommission arbeitet schon an einer Folgegesetzgebung, die diese Totaldurchleuchtung verpflichtend für alle Anbieter von E-Mail, Messagingdiensten und Chats einführen soll, und wenn es hier keine Ausnahme für verschlüsselte Dienste, also Ende-zu-Ende-Verschlüsselung geben sollte, dann wäre es das Ende verschlüsselter Kommunikation. Dann müssten die Hintertüren einbauen und damit wäre die Sicherheit, auf die viele politische Aktivisten, Dissidenten, Whistleblower, auf die viele Menschen zwingend angewiesen sind, dahin."
Auf Druck der nationalen Regierungen, auch der deutschen, wird in Brüssel über eine sogenannte "Backdoor"-Lösung nachgedacht: Betreiber von Messenger-Diensten sollen verpflichtet werden, bereits in das Verschlüsselungsprotokoll absichtlich eine Schwachstelle einzubauen, eine Art Generalschlüssel. So könnten Behörden Kommunikation anzapfen und auch ohne Staatstrojaner auf das einzelne Smartphone zugreifen. Noch ist unklar, wie genau eine Gesetzgebung ausgehen wird, die EU-Kommission gibt sich in Interviews beschwichtigend. Doch die Backdoor-Bestrebungen finden IT-Experten wie York Yannikos vom Darmstädter Fraunhofer-Institut höchst problematisch.
"Wir brauchen sichere Kryptogragie. Wir können quasi jetzt nicht hergehen und sagen: ‚Ja, es gibt auch Verbrecher, die natürlich diese kryptografischen Tools und Apps und Methoden einsetzen. Und deswegen müssen wir kryptografische Grundprinzipien schwächen und müssen da Hintertüren einbauen und so weiter.‘ Denn das lädt halt total dazu ein, dass das Ganze auch missbraucht wird, für andere Sachen irgendwie zweckentfremdet wird, dass andere Geheimdienste da z.B. dann diese Hintertüren nutzen und man plötzlich als jemand, der aber sicher kommunizieren muss und zwar komplett legal, als Politiker zum Beispiel oder auch einfach der Ottonormalbürger, der seine medizinischen Daten z.B. übertragen möchte von A nach B, dass er plötzlich keine Möglichkeit mehr hat, sicher zu kommunizieren."

Verdeckte Ermittler lesen mit

Telegram liefert durch die vielen Rechtsverstöße auf der App all jenen Argumente, die den Datenschutz für alle Messengerdienste gerne aufweichen wollen. Mal ganz abgesehen davon, dass Telegram mit Sitz außerhalb der EU sich sowieso kaum an EU-Gesetze halten dürfte. Patrick Breyer:
"Aber in dem Moment, wo die sich der europäischen Kontrolle entziehen, muss man auch ganz klar sagen, unterliegen sie in dem Moment auch nicht dem Zugriff der EU und unsere Gesetze sind da nicht durchsetzbar", sagt Patrick Breyer.
"Was aber halt fehlt, ist, dass man sich international auf gemeinsame Mindeststandards verständigen müsste. Es gibt bisher eine Verständigung auf Menschenrechte, auf Grundrechte. Aber es gibt im Grunde genommen keine internationale Verständigung darüber. Was sollte eigentlich verboten sein im Internet, was sollte überall unterbunden und geächtet werden? "
Bis auf weiteres werden die rechte Hetze, der Drogenhandel und alle möglichen anderen Umtriebe auf Telegram also weitergehen. Doch vielleicht ergeht es Telegram – dem Darknet im Hosentaschenformat – irgendwann ja auch wie dem echten Darknet, wo in den letzten Jahren große Ermittlungserfolge gefeiert wurden. Denn wo Kriminelle sich sicher und ungestört fühlen, da begehen sie auch Fehler. Und verdeckte Ermittler lesen als ganz einfache User getarnt still und heimlich mit.
Mitwirkende
Regie: Frank Merfort
Sprecherinnen und Sprecher: Nele Rosetz, Olaf Ölstrom, Haino Rindler, Christiane Guth
Technische Realisation: Christiane Neumann
Redaktion: Martin Hartwig
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