#MeToo bei Ultraorthodoxen in Israel

Religiöse Frauen brechen das Schweigen

Die Umrisse von Ultraorthodoxen sind zu erkennen.
Über das Privatleben orthodoxer Juden wird geschwiegen, Gewalt und Missbrauch werden nur selten thematisiert. © imago/Xinhua
Von Lissy Kaufmann |
Häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch waren in der ultraorthodoxen Gesellschaft Israels lange tabuisiert. Doch auch immer mehr streng religiöse Frauen überwinden ihre Angst, suchen sich Hilfe und sprechen offen über ihre Erlebnisse.
Kurz vor dem Abendessen macht der Nachwuchs Ärger. Die Mutter, die gerade den Pizzateig ausrollen wollte, muss trösten. Es klingt wie ein normaler Familienabend, und auch dieses Haus in einer Wohngegend nahe Jerusalem wirkt gewöhnlich. Doch das hier ist der Zufluchtsort für zwölf orthodoxe Frauen und ihre Kinder. Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen, misshandelt und manchmal vergewaltigt wurden.
Gal, 37 Jahre alt, ist heute in dieses Frauenhaus der Organisation Bat Melech zurückgekehrt, um ihre Geschichte zu erzählen. Das Haus war vor drei Jahren ihre Rettung. Hierher floh sie vor ihrem Mann, einem Alkoholiker, der sie immer wieder misshandelte. Es war ein langer Weg, bis sie sich traute, Hilfe zu suchen und, wie heute, darüber zu sprechen:
"Als ich das erste Mal die Polizei rufen wollte, hatte ich Angst, dass sie über mich lachen, mir sagen, dass das nicht Missbrauch ist. Und solange er immer nur mich schlug, habe ich es über mich ergehen lassen. Erst als er auch die Kindern schlug, bin ich abgehauen."

Scheidungen sind verpönt

Gal trägt einen Jeansrock, der übers Knie reicht und einen Hut, um ihre Haare zu bedecken. Sie ist modern orthodox, das heißt: streng religiös, aber nicht fanatisch. Dennoch: Scheidungen sind auch in diesen liberaleren Kreisen verpönt, über das Privatleben wird nicht geplaudert, man lebt züchtig. Gal wohnte damals mit ihrem Mann und den drei Kindern in einer religiösen Stadt, die sie lieber nicht nennen möchte. Der Nachbar, der von den Prügeleien mitbekam, riet ihr, nichts zu tun.
"Der einzige Mensch, der zu mir kam und mir half, als er das Heulen und Schreien hörte, kam am nächsten Tag nochmal zu mir und sagte: Tu nichts, was du nicht wieder rückgängig machen kannst. Gehe nicht zu jemandem, der nicht wirklich versteht, was es bedeutet, sich zu trennen. Es war eine Warnung, ruhig zu bleiben."
Ihren richtigen Namen will sie aus Sicherheitsgründen nicht nennen. Noch immer muss sie sich vor ihrem Ex-Mann in Acht nehmen. Nenn mich Gal, sagt sie, wie Gal Gadot, die Schauspielerin, die Wonderwoman im gleichnamigen Hollywood-Streifen spielt.
Wie die Frauen von Hollywood, die ihr Geheimnis über sexuellen Missbrauch und Misshandlungen im Filmgeschäft gebrochen haben, erzählen auch immer mehr strengreligiöse Frauen wie Gal ihre Geschichte. Wie schwer das gerade für orthodoxe Frauen ist, weiß Zilit Jakobsohn, die Vorsitzende von Bat Melech:
"Ihr ganzes Leben ist ein Geheimnis. Es geht um den Namen der Familie, sie sorgen sich, ob die Kinder einen Ehepartner finden werden. Auf welche Schule werden die Kinder noch gehen können? Hinzu kommt, dass das Thema in der religiösen Gesellschaft ein Tabu ist. Es heißt: So etwas gibt es hier nicht."

Neue Anlaufstellen für Opfer

In der Welt der Charedim, der Gottesfürchtigen, werden Partner oft durch einen sogenannten Schidduch gefunden, eine religiöse Heiratsvermittlung. Liebe spielt hier nur bedingt eine Rolle, es geht auch um Ansehen, darum, dass jemand aus gutem Hause kommt. Wer geschiedene Eltern hat, wird es schwer haben, auch wenn die Scheidung selbst bei den Ultraorthodoxen möglich ist. Und auch Missbrauchsopfer selbst finden schwerer einen Partner. Über familiäre Probleme oder Missbrauch schweigt man daher lieber.
"Wir wollen durch unsere Arbeit die Aufmerksamkeit für das Thema erhöhen. In der haredischen Welt sind es kleine Schritte, die gegangen werden, aber nach und nach verstehen sie, dass es legitim ist, über Missbrauch zu sprechen."
Ob häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch außerhalb der Familie: Die Charedim können sich an immer mehr Anlaufstellen wenden, die speziell für sie gedacht sind. Immer öfter reden die Opfer, immer öfter wird von aufgedeckten Missbrauchsfällen berichtet. Es ist bei Weitem kein lauter Aufschrei wie bei #MeToo, keine Revolution. Es ist eine Entwicklung in kleinen Schritten. Dazu gehört auch die Organisation Lo Tischtok, übersetzt: Schweige nicht.
Im Shaare Zedek Krankenhaus in Jerusalem arbeitet die Gründerin Racheli Roschgold auf der gynäkologischen Station. Vor allem religiöse Frauen werden hier behandelt. Mittlerweile ist Racheli die meiste Zeit im Büro, doch davor war sie als Krankenschwester ganz nah mit den Patientinnen in Kontakt. So hat sie – selbst Opfer von sexuellem Missbrauch – von anderen Missbrauchsfällen erfahren:
"Ich habe sehr viele solcher Geschichten mitbekommen. Ich habe verstanden, dass man etwas tun muss. Und so haben wir die Organisation gegründet: Zuerst durch eine Facebook-Seite, wir haben uns gesagt, diese Seite ist der Ort, an dem wir nun über sexuellen Missbrauch sprechen. Wir haben die Seite Lo Tischtok genannt, Schweige nicht. Denn die beste Medizin gegen Missbrauch ist es, darüber sprechen und das Erlebte eben nicht unter den Teppich zu kehren."

"Niemand wird zur Polizei gehen"

Racheli ist streng religiös, sie trägt einen langen Rock und bedeckt ihre Haare mit einem Tuch. Als sie neun war, hat ein Nachbar sie mehrfach sexuell missbraucht. Das ihr etwas schlimmes passiert war, wusste sie schon damals. Doch erst mit 16 erfuhr sie, dass es ein Wort dafür gibt: sexueller Missbrauch. Und erst heute kann sie darüber sprechen. Sie ist überzeugt, dass Täter in der charedischen Welt länger unentdeckt bleiben, weil die Opfer selten sprechen.
"Ein Mann, der in einer säkularen Stadt wie Modiin Kinder sexuell missbraucht, kann das bei einigen Kindern machen, bis es eben rauskommt und jemand zur Polizei geht. Aber wenn ein Mann das in einer religiösen Stadt wie Modiin Illit macht, können hunderte Kinder zu Opfern werden, denn niemand wird zur Polizei gehen. Die Eltern werden es vielleicht noch nicht einmal erfahren, weil die Kinder nicht wissen, wie sie davon erzählen sollen. Uns ist wichtig, dass es den Tätern in dieser Gesellschaft nicht mehr leicht gemacht wird."
Die Polizei gehört für die Charedim zur säkularen Welt. Und die ist vielen sehr fremd, ebenso liberale säkulare Werte und auch die sehr direkte, säkulare Sprache, weiß die Psychologin Tzipora Gutman. Sie ist selbst religiös, trägt einen langen Rock und bedeckt ihr Haar mit einer Perrücke.
"Unsere Sprache ist eine andere, sie ist viel weniger direkt. Wir sprechen nicht von sexuellem Missbrauch, sondern von einer unzüchtigen Tat. Wir nennen auch Geschlechtsorgane nicht beim Namen, benutzen schon gar keine sexuellen Worte, und auch das Wort schwanger sagt man nicht, es heißt ‚in anderen Umständen‘."

Die charedische Welt öffnet sich nur langsam

Lange wollten die Charedim das Problem unter sich ausmachen ohne Polizei und Gericht, dafür mithilfe der Rabbiner, die Täter aus der Gesellschaft verbannten und in eine andere Stadt schickten. Doch meist fanden Täter in den neuen Städten neue Opfer. Es mag merkwürdig klingen, dass ausgerechnet die Strengreligiösen mit Sexualstraftätern lange so lax umgingen. Dass diejenigen, die so sehr auf die religiösen Regeln achten, Sexualstraftäter gewähren ließen. Tzipora Gutman erklärt das mit mangeldem weltlichen Wissen:
"Bis vor einigen Jahren wusste man nicht, was das bedeutet: sexueller Missbrauch. Man wusste nicht, dass jemand, der sexuell missbraucht wird, innerlich, seelisch stirbt. Man dachte: Das ist eben etwas nicht sehr Schönes. Charedim haben nicht an der Uni studiert, Fächer wie Sozialarbeit oder Medizin."
Doch die charedische Welt öffnet sich langsam. Wie Tzipora Gutman studieren immer mehr Charedim an den Universitäten und tragen das Wissen zurück in ihre Welt. Tzipora Gutman hat in der religiösen Stadt Bnei Brak ein Zentrum für Mädchen gegründet, die im normalen Schulunterricht nicht mehr zurechtkommen. Dadurch hat sie von einigen Missbrauchsfällen erfahren. Heute versucht sie, mit Rabbinern zu sprechen und eine Brücke zu schlagen zu Staat und Polizei.

Es ist noch ein langer Weg

"Je mehr man verstanden hat, wie gefährlich sexueller Missbrauch ist, desto größer wurde die Kooperation mit dem Staat. Und immer mehr Rabbiner arbeiten mit der Polizei und den Sozialarbeitern zusammen."
Der Wandel hat längst begonnen. Doch auch Gal, die Frau aus dem Frauenhaus Bat Melech, weiß, dass der Weg noch lang ist. Als ihr Vater ihre Geschichte hörte, war der zunächst enttäuscht darüber, dass sich seine Tochter von ihrem gewalttätigen Mann scheiden ließ. Denn Scheidungen sind bei den Charedim nicht gerne gesehen. Es dauerte, bis sie auf Verständnis stieß. Doch gerade deshalb will sie nicht länger still sein:
"Erst nach und nach fangen die Menschen aus der Welt meines Vaters an zu verstehen, um was es geht. Ob das die #MeToo-Bewegung ist oder die Frauen in der charedischen Welt, die über diese Themen sprechen: Es geht hier darum, Menschen aufzuklären, die nicht verstehen, wie zerstörerisch häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch wirklich sind."
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