#MeToo und der Kampf um Deutungshoheit

War’s das schon?

Eine Frau hält sich einen Arm vor das Gesicht, auf dem mit roter Farbe geschrieben steht: MeToo
Weltweit wird das Thema sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch diskutiert. © imago
Von Rolf Schneider · 27.06.2018
Harvey Weinstein wartet noch immer auf seine Anklage. Kevin Spacey plant im Sommer sein Kino-Comeback. Und ein australisches Modelabel bringt unter dem Hashtag #MeToo eigens eine Modelinie heraus: schön knapp und sexy. War’s das etwa schon mit #MeToo?
Noch vor ein paar Wochen war ich überzeugt, die #MeToo-Kampagne habe ihren Höhenpunkt überschritten und strebe nunmehr ihrem Ende entgegen. Die Dinge sind anders gekommen.
Zwar neigt unsere Öffentlichkeit dazu, ein brisantes Thema derart intensiv, schrill und ausführlich zu behandeln, dass irgendwann keiner mehr zuhören mag und der Vorgang gleichsam sich selber abwürgt. Dies alles hätte auch hier geschehen können, aber es geschah nicht. Sogar die Ungenauigkeiten, Bizarrerien und Übertreibungen, die es dabei wie in vergleichbaren Fällen gab, haben die Sache nicht beschädigen können.

Ein bizarrer Kampf um Deutungshoheit

Dabei waren und sind die Bizarrerien erheblich. Beispiel sei die Entfernung eines angeblich sexistischen, in Wahrheit harmlos-liebenswürdigen Gedichts von der Außenmauer einer Berliner Hochschule. Ein Journalist, den ich bis dahin für einen vernünftigen Linksliberalen gehalten hatte, verstieg sich zu der Ansicht, der Feminismus sei politisch totalitär und erstrebe, unter Verwendung stalinistischer Techniken, eine Vernichtung der Männer. Dergleichen erinnerte mich daran, wie Alice Schwarzer vor nunmehr dreiundvierzig Jahren, wegen ihres Buches über den kleinen Unterschied, unterstellt wurde, sie wolle uns Männern gewaltsam die Genitalien entfernen.
Zu den Ungenauigkeiten gehört der in solchen Zusammenhängen wiederholt verwendete Begriff Sexismus. Keiner weiß eigentlich, was exakt damit gemeint ist. Das Lexikon spricht von einer "breiten Palette von Einzelphänomenen unbewusster oder bewusster Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts". Breite Palette also. Vieles findet darauf Platz, problematisch nur, dass einiges davon strafbewehrt ist und anderes nicht. Ist sexuelle Übergriffigkeit, wie gerne behauptet, der Ausdruck patriarchalischer Machtansprüche? Das mag durchaus so sein, doch können sich patriarchalische Machtansprüche ebenso anderer, nicht-sexueller Formen bedienen. Was auch reichlich geschieht.

Sexualverhalten lässt sich nicht durch Verkehrsregeln einhegen

Manche Argumente und Forderungen klingen, als lasse sich menschliches Sexualverhalten durch Regularien einhegen, vergleichbar dem Straßenverkehr oder den Tarifabschlüssen in der Metallindustrie. Abgesehen davon, dass es auch hier ständig zu Verstößen und Konfliktfällen kommt, handelt es sich bei der menschlichen Sexualität um ein Triebgeschehen, das, wie wir spätestens seit Sigmund Freud wissen, große Teile unseres Tuns, unseres Bewusstseins wie unseres Unterbewusstseins beeinflusst.
Anders als bei höheren Säugetieren ist unsere Libido nicht zeitlich begrenzt, und sie dient nicht ausschließlich der Fortpflanzung, sondern hat, mit Jean-Paul Sartre zu sprechen, ihren Zweck in sich selbst. Ihre Energien tendieren zum Anarchischen, wie schon die vielen Spielarten belegen. Ebenso sprechen die unterschiedlichen Einordnungen in die jeweiligen Kulturkreise dafür.

Immerhin: Es sind Fortschritte zu erkennen

Wieso wir das wissen? Auch weil die schöne Literatur davon handelt, und zwar solange sie existiert, Liebe, Erotik und Sexualität sind ihre wichtigsten Themen. Hinzu kommt, in Teilen, die Bildende Kunst, mit den erotischen Signalen ihrer Aktdarstellungen und mit den Kopulationsszenen auf antiken Wänden und Vasen.
Das Thema wird uns also erhalten bleiben, gleichgültig, welche Filmmogule oder Musikhochschulpräsidenten ihrer Anklage entgegenharren.
Die vom Grundgesetz 1949 vorgeschriebene Gleichberechtigung der Frau ist im Jahre 2018 immer noch nicht völlig durchgesetzt. Blicken wir zurück auf die rund zweihundert Jahre feministischer Bestrebungen, erkennen wir immerhin Fortschritte, Sexuelles ist davon immer mitbetroffen. Möglicherweise beschert uns der Hashtag #MeToo am Ende ein Mehr an Besinnung, an Rücksichtnahme, an Höflichkeit, an Partnerschaftlichkeit. Käme es so, hätte sich der Aufwand gelohnt.

Rolf Schneider, geboren 1932 in Chemnitz, war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller und Essayist. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.

Der Schriftsteller Rolf Schneider
© imago/VIADATA
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