Wie die Macht der Scham funktioniert
Die Macht der Scham habe viel mit gesellschaftlicher Hierarchie zu tun, sagt die Historikerin Ute Frevert. Mächtige können weniger Mächtige einfacher beschämen als andersherum. In der #MeToo-Debatte sei das sehr offensichtlich.
Die Macht der Scham kann tödlich enden, zum Beispiel wenn sie Opfer von massivem Cybermobbing in den Suizid treibt. Nicht immer ist soziale Scham derart erdrückend, dass sie unter die Haut geht. Das habe vor allem damit zu tun, meint die Historikerin Ute Frevert, dass wir unter dem Blick der Öffentlichkeit auf einen Makel oder Fehler hingewiesen werden, den wir selbst ablehnen. Sie ist Direktorin des Forschungsbereichs "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Die soziale Scham weise immer auf soziale Regeln und Normen hin, die allgemein anerkannt sind. Wenn sich soziale Regeln verschöben, ändere sich auch die Schamempfindlichkeit – zum Beispiel in Bezug auf außerehelichen Sex. Lehne man dagegen eine geltende soziale Norm entschieden ab, lasse man sich auch nicht so einfach beschämen.
Scham von oben nach unten
Die Macht der Scham habe viel mit gesellschaftlicher Hierarchie zu tun. Mächtige können weniger Mächtige einfacher beschämen als andersherum. Im Unterschied zur Standesgesellschaft sei es heute zwar möglich, auch den Chef darauf aufmerksam zu machen, "dass er sich daneben benimmt. Auf der anderen Seite eher im Sinne einer leichten Kritik, nicht im Sinne einer öffentlichen Beschämung".
Obwohl die Schriftstellerin Kate Millett 1968 den prominenten Slogan "The Shame is Over" in die Welt gesetzt habe und die 68er tatsächlich mit vielen Konventionen gebrochen hätten, könnten Frauen auch heute noch für freizügiges sexuelles Verhalten öffentlich beschämt werden, sogar als Borderliner pathologisiert werden. Insofern seien wir heute leider sehr viel weniger sexuell befreit, als die 60er und 70er Jahre hoffen ließen, meint Frevert.
Speak Outs sind wichtig
Mit Blick auf die Me Too-Debatte fragt sich die Historikerin, warum sich so viele Frauen nicht früher aktiv gegen die sexuelle Belästigung oder Gewalt gewehrt haben. Die Scham leite sich nicht so sehr aus dem männlichen Übergriffen ab, sondern daraus wie die Frauen diese selbst interpretieren. Frauen kämpften noch heute mit den Traditionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, als es noch hieß:
"Eine Frau, die sich nicht sittsam, keusch und bescheiden verhält, die lädt Männer im Prinzip zu diesen Übergriffen ein. Wir finden diese Art der Diskurse heute vor allem im Bereich des Islam, aber nicht nur. Und dadurch haben sie auch immer einen Teil der Mitschuld. Das heißt, Frauen spüren die Traditionsüberreste, sie fragen sich: Was habe ich jetzt dazu beigetragen? War ich zu offenherzig, zu freizügig? Und aus dieser Scham heraus, dass sie ja möglicherweise selber Mitschuld tragen, fressen sie diese Erfahrung in sich hinein. Und ich finde es ein ganz beeindruckendes und zivilisatorisch radikales Verhalten, jetzt zu sagen: Diese Scham ist vorbei. Diese Scham lehne ich für mich ab. Ich trage für diese Übergriffe keine Verantwortung."
Die Speak Outs seien deshalb wichtig, so Frevert weiter: "In dem Moment, in dem sich die Frauen nicht mehr zum Schweigen bringen lassen, hört die Macht der Männer auf."
Entschuldigung im Netz
Das Netz biete zwar ganz neue Möglichkeiten und Techniken der Beschämung: Wer im Netz einmal mit dem Makel Scham belegt seit, werde diesen Makel nicht mehr los, egal wo, sagte Frevert. Gleichzeitig biete es den in der #MeToo-Debatte angeklagten Männern auch neue Möglichkeiten des öffentlichen Um-Verzeihung-Bittens. Obwohl Fernsehformate wie "Dschungelcamp", "Supertalent" und "Frauentausch" förmlich darauf angelegt seien, Menschen lächerlich zu machen, fänden sie viele Freiwillige. Die Chance auf 15 Minutes of shame wiege also für die Teilnehmer schwerer, als diese Art der Selbst-Demütigung vor Millionenpublikum. Würde sei also, anders als Kant das behaupte, manchmal doch verkäuflich.
Die Gier nach öffentlicher Anerkennung erklärt sich Frevert vor allem durch Erwartung, die heutzutage durch Erziehungspraktiken gefördert werde und auf öffentliche Bestätigung des eigenen Selbstwertes angelegt sei. So entstehe bei vielen der Wunsch auf alle möglichen und unmöglichen Weisen, am Glamour der neuen Medienwelt teilzuhaben.
Das Recht auf Demütigung
Es sei dabei das gute Recht eines jeden, sich selbst öffentlich zu demütigen, sagte Frevert. Das müsse man zulassen. Gehe es um eine andere Person, sei das ganz anders:
"Wenn aber jemand, vor allem in sozialen Hierarchieverhältnissen, herunter gemacht, vor aller Augen gedemütigt wird, dann sollten wir einschreiten – als Arbeitskollegen, als Freunde, als Nachbarn, im Internet. Als Publikum ist unsere Meinung gefragt: Wenn wir Beifall klatschen, wenn wir schadenfroh sind, dann wiegt dieser Beschämungsakt doppelt und dreifach schwer. Schreiten wir dagegen ein, könnten wir den Beschämten retten."