Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin und betreibt das Blog "tell review - literatur und zeitgenossenschaft". Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).
Warum die ständige Empörung das Problem verstellt
Die #metoo-Debatte zieht immer weitere Kreise. Millionen von Frauen haben inzwischen über Twitter sexuelle Übergriffe auf sie öffentlich gemacht. Endlich, meinen viele. Ja, aber auf die falsche Weise, kritisiert die Journalistin Sieglinde Geisel.
Zuerst Trump, dann der Wahlerfolg der AfD, und seit ein paar Wochen nun auch noch #metoo. Offenbar ist auch das Verhältnis der Geschlechter nicht das, was es bis gestern schien. Nicht nur in Hollywood erlauben Männer sich Dinge, die wir nicht für möglich gehalten hätten. #metoo scheint nicht mehr zu bremsen, denn der Fall ist klar: Wer sich über Weinstein, den Pussy-Grabber Trump und die ganzen anderen empört, ist auf der richtigen Seite. So kann es ja nun wirklich nicht weitergehen!
Die Frauen, die sich unter dem Hashtag metoo zu Wort melden, leiden unter der Tat und unter dem Schweigekartell, das die Täter schützt. Nun geht es darum, das Schweigekartell aufzubrechen. Doch kann die Hashtag-Debatte metoo dies leisten, in ihrem schnappatmigen Empörungsmodus – und liefert sie überhaupt ein verlässliches Bild der Wirklichkeit?
Debatten haben die Tendenz, sich zu verselbstständigen: Rasch wird eine Ausnahme zum Normalfall hochgeredet. Ich gehöre zu jenen Frauen, die das Glück haben, dass sie bei #metoo nicht mitmachen können: Bisher hatte ich es in meinem Leben noch nie mit einem Weinstein zu tun, dagegen sehr viel mit Männern, die als potenzielle Täter nicht infrage kommen.
Empörungsmodus verhindert Veränderung
Empörungsdebatten sind die Achilles-Ferse unserer dauer-aufgeregten digitalen Gesellschaft. Zum einen, weil sie eine differenzierte Reflexion verhindern, und zum andern, wegen ihrer paradoxen Wirkung. Die empörte Öffentlichkeit ist zugleich aufgewühlt und gelähmt. Auch Debatten haben ihre fifteen minutes of fame. Wie waren wir schockiert, damals Anfang 2013, als der FDP-Politiker Rainer Brüderle sich gegenüber einer Journalistin übergriffig verhalten hatte! Doch was ist von #aufschrei geblieben? Vier Wochen lang haben wir uns medial fürchterlich aufgeregt. Und das war’s.
Offenbar sind wir im Empörungsmodus unfähig, das zu verändern, worüber wir uns empören. Wir kennen das aus unserem Alltag: Menschen, die alles kritisieren, sind in der Regel unfähig, ihre Situation zu verändern. Verändern kann man nur, was man akzeptiert, sagen die Buddhisten. Ginge es bei den sexuellen Übergriffen um Sex, könnte man sich etwa der beschädigten männlichen Sexualität annehmen: In ihrer Übergriffigkeit missbrauchen die Weinsteins ja auch ihre eigene Sexualität. Die Frage wird sogar gestellt, allerdings geht sie im Bekenntniswirbel von metoo unter.
Es geht nicht um Sex, sondern um Angst
Doch um Sex geht es ohnehin nicht. Das Prinzip Weinstein funktioniert auch ohne, denn das Herrschaftsinstrument ist nicht Sex, sondern Angst, und wie bei der Mafia dient das Schweigekartell der Machterhaltung. Ich bin kein Opfer sexueller Übergriffe, doch mit dieser Form der Machtausübung bin auch ich vertraut, und ich sehe, welchen Schaden dies in unserer Gesellschaft anrichtet. Wir müssen lernen, über das Schweigen zu sprechen, denn das Schweigen ist schlimmer als das, worüber geschwiegen wird: Es sorgt dafür, dass das Falsche weitergeht. Mit einer schnellen und bequemen Hashtag-Debatte allerdings werden wir diesem Phänomen nicht beikommen. metoo ist, bestenfalls, der Anfang der eigentlichen Debatte.