Metropolis
Die Großstadt ohne Nachtleben ist keine. Kaum eine Beleidigung könnte größer sein als die "hochgeklappten Bürgersteige" in der Nacht - der Vorwurf an die Provinz. Erst die Industrialisierung - der Fortschritt - das künstliche Licht lösen den Drang aus, diese "andere Seite" kennen zu lernen, zu durchdringen.
Erst das Licht macht die Nacht zu einem öffentlichen Raum. Heute wird die gelebt: "Die Stadt, die niemals schläft." Der Auszug in die städtische Nacht hat seinen Reiz nicht verloren - Die Nacht in der Hauptstadt - eine Zeitreise.
Wenn die Dämmerung über der Stadt einbricht, sieht der Berliner zu, dass er schnell nach Hause kommt. Die Stimmen der Nachtwächter geben das Signal für den Rückzug.
Die Nacht wird angekündigt. Läden werden geschlossen, Haustüren verriegelt, Tore zugesperrt. Die Nacht bleibt draußen - dunkel, bedrohlich und still.
"Nur aus wenigen Fenstern der überragenden Giebelgeschosse flimmert ein mattes Licht. Ein eigener Anblick, eine mittelalterliche Stadt am düsteren Abend. Die tausend Ecken, Winkel, Türmchen und Bogen - heimlich und unheimlich zugleich. Die Mauern werden finster, die schwarzen Schatten treten unförmig heraus. Um die Ecke schallt das Horn des Nachtwächters und sein Abgesang wetteifert an Mißtönen mit dem Geheul der Katzen, das auf den steilen Dächern laut wird. " (Zitat 1)
Versinkt die Stadt erst mal in der Finsternis, traut sich kaum noch einer auf die Straße. Wer es doch wagt, braucht einen guten Grund. In den Augen der Ordnungshüter ist jeder Nachtwandernder verdächtig. Es herrscht Ausgangssperre.
" Die Nachtwächter sind blau uniformiert und mit einem Spieß bewaffnet. Eine Pfeiffe dient ihnen und ein Horn. Sie haben für die nächtliche Ruhe auf den Straßen zu sorgen - auf die Ruhe zu wachen. " (Zitat 2)
Und sie wachen über die Ordnung Gottes. Der Trennung von Tag und Nacht. Die Nacht ist zum schlafen da - nachts schläft die Stadt.
Die ersten Gaslaternen erhellen die Prachtstraßen der Stadt und die Berliner versammeln sich staunend um die neue Erfindung. Plötzlich sieht die Nachtstadt ganz anders aus. Gar nicht bedrohlich.
"Gerstern Abend sahen wir zum ersten Mal die schönste Straße der Hauptstadt, die Linden im hellsten Schimmer der Gasbeleuchtung. Eine große Menge Neugieriger war durch dieses Schauspiel herbeigelockt worden und alle davon überrascht: Denn heller haben wir die Linden nicht gesehen. Nicht in dürftigen Flämmchen, sondern in handbreiten Strömen schießt das blendende Licht hervor. Bald werden auch die anderen Hauptstraßen auf gleiche Weise beleuchtet werden und Berlin, das wegen seines freundlichen Eindrucks, den es bei Tag macht, berühmt ist, wird auch bei Nacht den Fremden angenehm überraschen. " (Zitat 3)
Gestern war der 19. September 1826. Die strikte Trennung von Tag und Nacht droht zu kippen. Das Licht lockt, lockt auf die Straße hinaus. Der Beginn einer öffentlichen Debatte über die Nacht in der großen Stadt. Der Kirche nahe stehende Blätter wettern gegen die neue Erfindung.
"Weil sie als Eingriff in die Ordnung Gottes erscheint. Nach dieser ist die Nacht zur Finsternis eingesetzt, die nur zu gewissen Zeiten vom Mondlicht unterbrochen wird. Die künstliche Helle verscheucht in den Gemütern das Grauen vor der Finsternis, das die Schwachen von mancher Sünde abhält. " (Zitat 4)
Noch sind es einzelne Lichtinseln. Der Rest der Stadt versinkt im Dunkeln.
"Ein Schritt in die Nebenstraßen und man glaubt sich um Jahrhunderte zurückversetzt. " (Zitat 4)
Während Paris schon mit der Gasbeleuchtung den Auszug auf die Straße feiert - kommt der Durchbruch in Berlin mit dem elektrischen Licht, um 1880.
"Guter Mond, du …" Die Nacht verliert ihr altes Antlitz, sie wird begehbar, erfahrbar. Der Berliner entdeckt die Stadt neu. Das elektrische Licht weckt eine vollkommen andere Wahrnehmung. Die Stadt ist wie verwandelt. Alles sieht sanfter aus, schmutzige Ecken bleiben dunkel, während prächtige Gebäude im neuen Licht erstrahlen.
" Das Licht ist die schönste Sonne der Stadt, wird es gelöscht, ist die Stadt ihrer Ausstrahlung beraubt. " (Zitat 6)
Ein Gefühl von Großstadt kommt auf. Das Bewusstsein für einen Feierabend außerhalb der heimischen Wände. Die Nacht gibt das Signal zum Auszug. Zum Flanieren.
Stadtteile, in denen das Licht noch spärlich ist, gelten als gefährlich. Der Kitzel der Unsicherheit treibt den Nachtgänger immer weiter. Ein Abstecher in die Arbeitergegenden, das Scheunenviertel.
"Besonders in den Teilen Berlins, wo die liederlichen Dirnen ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, ist es gerade diese Zeit, welche durch Raufereien oder andere thätliche Auftritte die lebhafteste wird. " (Zitat 7)
Wer ganz Städter sein will, muss sich in der Nacht bewegen können. Nächtliche Straßen gleichen erleuchteten Fluren. Besonders die Flaniermeilen. Berlin wetteifert jetzt mit Paris um nächtliche Schönheit. Die Stadt feiert sich im künstlichen Licht.
"Elektrisches Licht bedeutet Nachtleben. Nachtleben bedeutet Fortschritt. Berlin ist auf dem besten Wege, die fortschrittlichste Stadt in Europa zu werden. " (Zitat 8)
Die Nacht wird zum Symbol dessen, was eine Großstadt ausmacht. Es gibt ganz neue Arten, sich zu Vergnügen. Die Nacht ist eine Bühne. Man zeigt sich in schönen Roben, die jetzt eine größere Wirkung haben. Neben dem Leben auf der Straße eröffnen immer mehr Lokale, Revues, Ballhäuser.
"Das Nachtleben Berlins ist merkwürdig lebhaft. Sollte Paris in dieser Hinsicht überholt sein? Unter den Linden, auf der Friedrichstraße um die Leipziger und Potsdamerstraße herum hört das Getriebe die ganze Nacht nicht auf. Viele Lokale schließen überhaupt nicht. Wenn die letzten Gäste aufbrechen, wird aufgeräumt, und dann ist es Zeit wieder aufzumachen. " (Zitat 9)
Das Bild der schlafenden Stadt löst sich auf. Die Industrialisierung schreitet voran - mit ihr die Schichtarbeit und die Nachtarbeit. Nachts werden Straßen ausgebessert, vom Schmutz des Tages befreit - die so genannte "Berlin Toilette". Die großen Markthallen bunkern Ware; Kneipen öffnen, in denen sich Nachtarbeiter ihre Welt einrichten. Das Licht ermöglicht ein Leben über den Tag hinaus - und in der Tag hinein, die Grenzen verschwimmen.
"Frühmorgens ist die Gegend am Oranienburger Tor einzig in ihrer Art. Von allen Seiten strömen über diesen Knotenpunkt des Verkehrs fleißige Menschen zur Arbeit, mittendurch schreiten voller stolz mit erhobenen Haupte, unnachahmlich frechen Minen, die Koryphäen der Halbwelt. Mehrere Cafés sind schon oder noch offen, Droschken halten davor, hier hinein strömt das Gelichter, um sich über die Erlebnisse der letzten Nacht Bericht zu erstatten. " (Zitat 10)
Berlin erwacht jetzt zwei Mal: Am Morgen zum Arbeiten, am Abend zum Vergnügen. Die neue Begeisterung für die Nacht hat die Kritiker des nächtlichen Ausschwärmens aber nicht verstummen lassen. Straßenmissionare organisieren sich. Sie durchkämmen Kneipen und Straßen - den Nachtschwärmer im Visier. Die Verfechter der alten Ordnung ziehen mit einem moralischen Feldzug gegen das nächtliche Amüsement. Um 23.00 Uhr noch unterwegs auf der anrüchigen Friedrichstraße?
" "Was führt sie hierher? - Folgen Sie einer sinnlichen Erregung? Wissen sie auch was die Folge sein wird, wenn sie hier einkehren? " (Zitat 11)
Alte Ängste werden geweckt. Die Nacht als Hort des Bösen, der Gefahr und der Sünde. Flugblätter machen die Runde.
"Abends gehen tausende von Nachtfaltern an den Bogenlampen unserer Straße zugrunde. So tut es uns in der Seele weh, wenn auch du dem trügenden Trieb nach flackernde Nachtfreuden folgst. Taghell erleuchten die Lichter unserer Großstadt die Nächte. Du weißt aber doch: Die Nacht ist finster und alles Glanz nur trügerischer Schein. " (Zitat 12)
Die Polizei hat das nächtliche Leben in "gesittete Bahnen" zu lenken, den "Sumpf auszutrocknen". Nach Mitternacht, beobachtet der Polizeidirektor, werde mehr Geld vergeudet und Unfug getrieben. Deshalb: Keine öffentlichen Veranstaltungen mehr nach 24 Uhr. Die Forderung nach Rückzug und der Appell an die Arbeitsmoral:
"Einer durchschwärmten Nacht folgt ein verlorener Tag. " (Zitat 13)
Doch je mehr beleuchtet wird, desto mehr zieht es die Berliner auf die Straße. Und je mehr auf die Straße gehen, desto mehr wird die Beleuchtung vorangetrieben. Das Licht ist ein neues Kontroll- und Ordnungsinstrument. Die Glühbirne ersetzt den Polizisten. Auf einem Osram-Werbeplakat verfolgt der Polizist mit dem Rumpf einer Glühbirne einen Dieb.
"Um die Sicherheit wäre es besser bestellt, würde Straße und Platz durch OSRAM erhellt. " (Zitat 14)
Im Oktober 1929 leuchtet die Hauptstadt grell. "Berlin im Licht" - ein dreitägiger Festakt. Die Veranstalter fahren alles auf, was Leuchtkraft hat.
Berlin badet im Ruhm von Modernität und Metropolengefühl. Ein Licht-Spektakel: Öffentliche Gebäude sind angestrahlt, Bahnen beleuchtet, ein Lichtkorso in der Stadt, Schaufensterbeleuchtung - aggressive Lichtreklame.
"Gerade die Lichtreklame gibt der Weltstadt am Abend erst die prägnante, individuelle Note. " (Zitat 15)
So hell und ausgeleuchtet ist das Berlin der zwanziger Jahre auch ohne Festakt, dass die Extreme der Großstadt mehr und mehr ins Auge stechen. Immer häufiger ist die Rede vom trügerischen Schein.
" Kriegskrüppel lässt man auf Straßen frieren,
Aber man lässt diese Straßen illuminieren.
Das ist das schreckliche wahre Gesicht.
Berlin im Licht. " (Zitat 16)
So mancher Nachtschwärmer sehnt sich nach Dunkelheit zurück.
"Mit Beginn der Dämmerung gehen in Augenhöhe die Lichter an. In den Hauptquartieren des Nachtlebens ist die Illumination so grell, dass man sich die Ohren zuhalten muss. Die Lichter indessen sind zu ihrem eigenen Gefallen versammelt, statt den Menschen zu scheinen. Ihre Glühzeichen möchten die Nacht erhellen und vertreiben sie nur. " (Zitat 17)
Die Lichtspirale scheint überdreht. Auf der Straße fühlt sich der Nachtgänger durchleuchtet, entlarvt. Die Straße ist taghell. Das nächtliche Leben zieht sich zurück - in öffentliche Räume, die die Nacht einschließen.
Das Kino macht Furore.
Oder in Räume mit privatem Charakter. Jene, die nur in der Nacht eine Daseinsberechtigung haben.
Die Boheme trifft sich in Nachtbars, wie dem Toni Grünfeld in der Jägerstraße 20. Die Bühne für das elegante Berliner Nachtleben, die exklusiven Kreise.
"Es verkehrt bei Grünfeld sehr gern auch der wirkliche Kavalier. Frack und Smoking sind vorherrschend, auch dunkler Jackettanzug genügt, kaum aber Reiseanzug, mit dem man ins Lindenkasino oder zu Riche gehen kann. Das Getriebe ist hochinteressant. Der Sekt strömt, Musik und Lachen. " (Zitat 18)
In manche rustikalere Nachtcafés, etwa in der Elsasserstraße, finden nur wirklich Ortskundige den Weg.
"Von draußen sehen die Lokale aus, als wenn sie fest geschlossen sind. Durch die dichten Fenstervorhänge dringt kein Strahl Licht auf die Straße, und ebenso sieht man draußen erst beim genauen Hinsehen über den Vorhängen einen schmalen Lichtstreifen. Nur der Portier vor der Eingangstür und die einströmenden Gestalten bilden das Zeichen, dass drinnen Leben ist. " (Zitat 19)
Viele Lokale unterliegen jetzt auch der Sperrstunde. Wer nicht weiß, wo das Vergnügen weitergeht, ist ein leichtes Opfer für die Schlepper. Der neue Beruf hat Hochkonjunktur. Sie nähern sich an und flüstern:
" Vielleicht noch ein nettes kleines Nachtlokal besuchen? Intimer Betrieb, solide Preise... " (Zitat 20)
Schlepper weisen den Weg zu geheimen Etablissements, meist verborgen in der Parterre-Wohnung eines Hinterhauses.
Klopfzeichen, dann öffnet sich die Tür in die Nacht. Gedämpfte Musik, Champagner im Überfluss. Jede Woche ein neues Versteck.
Manche Schlepper haben sich auf Touristen, besonders Männer aus der Provinz auf der Suche nach nächtlichem Kitzel und Großstadtabenteuer spezialisiert. Sie hängen am Anhalter Bahnhof herum und picken sich aus dem Gewühle ihre Kunden heraus.
"Dunkles Berlin gefällig? Individuelles Geleit durch alle Lasterstätten? " (Zitat 21)
Die Überrumpellung ist ihre Stärke.
" Es kostet ein paar Pfennige - nicht der Rede wert. Die Führung dauert drei Stunden, geht durch Opiumhöhlen, Kokskeller, Nackttanzdielen. Wer Berlin betritt, darf sich diese modernen Sehenswürdigkeiten nicht entgehen lassen. " (Zitat 22)
Eine ganz andere Sehenswürdigkeit des Berliner Nachtlebens: Der Rummel. Das Feierabendvergnügen der Arbeitsklasse. Billig und gastlich. Die "wilde Institution" unter freiem Himmel wird nun aus der Nacht verbannt. Ein Erlass des Ministeriums für Inneres trifft den Rummel ins Mark - verbietet den Betrieb nach 10 Uhr abends.
"Bis zehn ist kein Rummel. Nach zehn ist er verboten. Der Rummel der großen Stadt stirbt. Die Form gewordene Betätigung des Wunsches nach "Verjniejen." Es ist eine Angelegenheit des Dialekts, nicht der Hochdeutschen Sprache. Seine Heimat ist der Wedding, sein Ursprung die Seele des außerhalb der Gesetze stehenden, sein Zweck ist der Rausch. Nach 10 Uhr abends? Hier sollte ein Rummel erst einsetzen. Ihm ist nichts so schädlich wie das Tageslicht. Ihm ist nichts so nützlich wie die Nacht. " (Zitat 23)
Es ist Nacht - Der Himmel über Berlin ist hell. Selbst im Tiergarten. Bis in die Außenbezirke erstreckt sich das Lichtermeer. Dunkle Ecken gibt es nicht mehr, heute nicht mehr.
Der Verkehr fließt fast wie am Tage. Die Maschinerie der Großstadt läuft unentwegt. 24 Stunden. Die Nacht hat den Tagesrhythmus übernommen.
Lange Ladenöffnungszeiten verlängern den Tag und verlagern den Abend in die Nacht. Bis 20 Uhr einkaufen. Manchmal auch länger. Spät essen, so wie die Italiener, Türken, Araber es in der Stadt leben.
Überhaupt: Essen rund um die Uhr. Um 2 Uhr morgens sind bei Habibi alle Stehtische belagert.
Trinken, Sitzen, Rumstehen. Das alles ohnehin am liebsten draußen. Viele Bars, Restaurants, Cafes stellen ihre Tische selbst im Winter nicht mehr rein. Es gibt ja Heizpilze um die man sich auch in kühlen Nächten in dicken Mänteln herumwickeln kann.
Die Nacht ist gefüllt mit Aktivitäten und sie ist verplant - wie der Tag. Wer nachts in Berlin unterwegs ist, geht zielgerichtet. Und wenn es nur in die Kneipe um die Ecke ist:
Jede Nacht in der Woche nimmt mehrere Seiten im Stadtmagazin ein. Es gilt, den Markt zu sondieren, denn der Auszug in die Nachtstadt kennt keine Grenzen. Keine Sperrstunde. Berlin ist durchlässig. So viele Angebote, so viel zu tun.
"Die Stunden unseres nächtlichen Lebens beanspruchen so viel Aufwand, Energie und Geld wie der Rest unserer Tage. Nachts unterwegs sein hat ja einen Sinn: Informationen sammeln. Reden, diskutieren, lernen, wirken, kämpfen. Ein neuer Job, der Klatsch - eine wichtige Party-" (Zitat 24)
Berliner Nächte sind von Aktionismus getrieben, rastlos. Der Wunsch nachts das Besondere zu erleben ist ungebrochen - dessen Befriedigung bedarf schnelllebiger, immer neuer Anreize.
"Biete mir etwas, Berlin! "
Etwa in Clubs unter "Gleichgesinnten" die ewige Nacht erleben, die Extase. Man kann den Tag 48 Stunden lang aussperren - und Montagmorgen, wenn der Berufsverkehr stockt, nahe der Erschöpfung auf die Straße treten und sich langsam wieder an das Tageslicht gewöhnen.
Oder: Das Lange Nächte Angebot. Der Hauch von Ausnahme. Es gibt lange Nächte der Musik, der Wissenschaften, der Museen, sogar der Sparkassen - und - natürlich des Shoppings. Konsum und Entertainment. In der Nacht werden sie zum Abenteuer - zum modernen Berliner Rummel.
Die Sinnsuche aber bleibt die alte.
" Er saß in der großen Stadt Berlin
An einem kleinen Tisch.
Die Stadt war, auch ohne ihn.
Er war nicht nötig, wie es schien.
Und rund um ihn war Plüsch.
Die Leute saßen zum Greifen nah,
und er war doch allein.
Und in dem Spiegel, in den er sah,
saßen sie alle noch einmal da,
als müsste das so sein.
Er strich das weiße Tischtuch glat.
Und blickte in das Glas.
Fast hatte er das Leben satt.
Was wollte er in dieser Stadt,
in der er einsam saß?
Da stand er, in der Stadt Berlin,
auf von dem kleinem Tisch!
Keiner der Menschen kannte ihn.
Da fing er an, den Hut zu ziehn …
Not macht erfinderisch. " (Zitat 25)
Quellenverzeichnis:
- Gespräch mit Joachim Schlör, 2.05.2005
- Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991
- Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 244
- Schaper, Rüdiger (Hrsg.) Berlin um Mitternacht. Argon Verlag, Berlin 1998, S. 63
- Bretthauer, Bastian: Die Nachtstadt. Tableaus aus dem dunklen Berlin. Campus Frankfurt a. M. 1999
- Kästner, Erich: "Lyrische Hausapotheke", 1. bis 7. Tausend
Atrium Verlag, Berlin (ohne Zeitangabe)
Zitate:
ZITAT 1: Aus: M. Rapsilber: Das Ende des Laternenzüchters. In: Der Roland von Berlin, VIII Jg. 1910, H. 40S. 1304
Z. aus: Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 74
ZITAT 2: Johann Daniel Fr. Rumpfs neuester Fremdenführer in Berlin. Eine Beschreibung nebst einem Wanderungsplan durch Berlin. Berlin 1839, S. 220f.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. S.48
ZITAT 3: Vossische Zeitung, 21.9.1826
Z. aus: Schlör, Joachim,. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 74
ZITAT 4: Kölnische Zeitung zit. Nach: Bei Licht besehen. Kleines ABC der Beleuchtung. Hg. Vom Landschaftsverband Rheinland. Pulheim 1987.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 27
ZITAT 5: Bruno H. Bürgel: Berliner Sensationen 1882. In: Berliner Morgenpost, 6.7.1930.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 68
ZITAT 6: Das Kulturbild des 19. Jahrhunderts. Bd. 23/24. Von Alexander von Gleichen-Rußwurm, Hamburg, o.J.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 64
ZITAT 7: C. v. Kertbeny: Berlin wie es ist. Ein Gemälde des Lebens dieser Residenz und ihrer Bewohner, dargestellt in genauer Verbindung mit Geschichte und Topografie. Berlin 1831. S. 321
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 47
ZITAT 8: Das verleumdete Nachtleben (Bericht über den Besuch Edisons in Berlin). Berliner Tageblatt.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.21
ZITAT 9: Jules Huret: Berlin (München 1909). Neu: Berlin um 1900. Berlin 1979,
S. 61
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.109
ZITAT 10: Staatsarchiv Potsdam, Rep. 30 Berlin C, Landtagsfascikel betr. Durchführung der Polizeiverordnung über die Polizeistunde. Nr. 1600. Berichte der XI., XII. und V. Polizeihauptmannschaft.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.107/108
ZITAT 11: Berliner Stelle des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Archiv (ADW)
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 222
ZITAT 12: siehe Zitat 11
ZITAT 13: StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C, Nr. 16927: betr. Die hiesigen sittlichen Zustände. Verwaltungsbericht des Kgl. Polizei-Präsidium von Berlin.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 185
ZITAT 14: Osram Lichthaus, Bewegungsbilder 1925.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 69
ZITAT 15: Aus dem Festprogramm "Berlin im Licht".
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München, S. 70
ZITAT 16: Max Epstein. Berlin im Licht. In Weltbrille 7. 1928
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 71
ZITAT 17: Siegfried Krakauer: In den Hauptquartieren des Nachtlebens. S. K. Straßen in berlin und anderswo. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1964.
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 171
ZITAT 18: Berlin für Kenner: Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt. Großstadtführer für Kenner. Bd.1 Berlin: Boll und Pickardt, 1902
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 290
ZITAT 19: Zitat 18. S. 297
ZITAT 20: Carl Zuckmayer: Vielleicht noch ein nettes, kleines Nachtlokal besuchen?
C.Z.: Als wärs ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt a.M.. S. Fischer, 1966
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 274
ZITAT 21/22: Egon Jameson: Augen auf! Streifzüge durch das Berlin der 20er Jahre. Hrsg. Von Walther von La Roche. Originalausg. Frankfurt a. M. Berlin / Wien: Ullstein, 1982
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 244
ZITAT 23: Joseph Roth: Rummel bis zehn. J. R.: Das journalistische Werk. Hrsg. Von Klaus Westermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989.
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 134, 132, 131.
ZITAT 24: Hörmann, Egbert: Ab durch die Mythologie - Die waren Kinder Frankensteins.
Z. aus: Schaper, Rüdiger (Hrsg.) Berlin um Mitternacht. Argon Verlag, Berlin 1998,
S. 63
ZITAT 25: Erich Kästner: "Lyrische Hausapotheke", 1. bis 7. Tausend
Atrium Verlag, Berlin (ohne Zeitangabe), S. 35/36
Wenn die Dämmerung über der Stadt einbricht, sieht der Berliner zu, dass er schnell nach Hause kommt. Die Stimmen der Nachtwächter geben das Signal für den Rückzug.
Die Nacht wird angekündigt. Läden werden geschlossen, Haustüren verriegelt, Tore zugesperrt. Die Nacht bleibt draußen - dunkel, bedrohlich und still.
"Nur aus wenigen Fenstern der überragenden Giebelgeschosse flimmert ein mattes Licht. Ein eigener Anblick, eine mittelalterliche Stadt am düsteren Abend. Die tausend Ecken, Winkel, Türmchen und Bogen - heimlich und unheimlich zugleich. Die Mauern werden finster, die schwarzen Schatten treten unförmig heraus. Um die Ecke schallt das Horn des Nachtwächters und sein Abgesang wetteifert an Mißtönen mit dem Geheul der Katzen, das auf den steilen Dächern laut wird. " (Zitat 1)
Versinkt die Stadt erst mal in der Finsternis, traut sich kaum noch einer auf die Straße. Wer es doch wagt, braucht einen guten Grund. In den Augen der Ordnungshüter ist jeder Nachtwandernder verdächtig. Es herrscht Ausgangssperre.
" Die Nachtwächter sind blau uniformiert und mit einem Spieß bewaffnet. Eine Pfeiffe dient ihnen und ein Horn. Sie haben für die nächtliche Ruhe auf den Straßen zu sorgen - auf die Ruhe zu wachen. " (Zitat 2)
Und sie wachen über die Ordnung Gottes. Der Trennung von Tag und Nacht. Die Nacht ist zum schlafen da - nachts schläft die Stadt.
Die ersten Gaslaternen erhellen die Prachtstraßen der Stadt und die Berliner versammeln sich staunend um die neue Erfindung. Plötzlich sieht die Nachtstadt ganz anders aus. Gar nicht bedrohlich.
"Gerstern Abend sahen wir zum ersten Mal die schönste Straße der Hauptstadt, die Linden im hellsten Schimmer der Gasbeleuchtung. Eine große Menge Neugieriger war durch dieses Schauspiel herbeigelockt worden und alle davon überrascht: Denn heller haben wir die Linden nicht gesehen. Nicht in dürftigen Flämmchen, sondern in handbreiten Strömen schießt das blendende Licht hervor. Bald werden auch die anderen Hauptstraßen auf gleiche Weise beleuchtet werden und Berlin, das wegen seines freundlichen Eindrucks, den es bei Tag macht, berühmt ist, wird auch bei Nacht den Fremden angenehm überraschen. " (Zitat 3)
Gestern war der 19. September 1826. Die strikte Trennung von Tag und Nacht droht zu kippen. Das Licht lockt, lockt auf die Straße hinaus. Der Beginn einer öffentlichen Debatte über die Nacht in der großen Stadt. Der Kirche nahe stehende Blätter wettern gegen die neue Erfindung.
"Weil sie als Eingriff in die Ordnung Gottes erscheint. Nach dieser ist die Nacht zur Finsternis eingesetzt, die nur zu gewissen Zeiten vom Mondlicht unterbrochen wird. Die künstliche Helle verscheucht in den Gemütern das Grauen vor der Finsternis, das die Schwachen von mancher Sünde abhält. " (Zitat 4)
Noch sind es einzelne Lichtinseln. Der Rest der Stadt versinkt im Dunkeln.
"Ein Schritt in die Nebenstraßen und man glaubt sich um Jahrhunderte zurückversetzt. " (Zitat 4)
Während Paris schon mit der Gasbeleuchtung den Auszug auf die Straße feiert - kommt der Durchbruch in Berlin mit dem elektrischen Licht, um 1880.
"Guter Mond, du …" Die Nacht verliert ihr altes Antlitz, sie wird begehbar, erfahrbar. Der Berliner entdeckt die Stadt neu. Das elektrische Licht weckt eine vollkommen andere Wahrnehmung. Die Stadt ist wie verwandelt. Alles sieht sanfter aus, schmutzige Ecken bleiben dunkel, während prächtige Gebäude im neuen Licht erstrahlen.
" Das Licht ist die schönste Sonne der Stadt, wird es gelöscht, ist die Stadt ihrer Ausstrahlung beraubt. " (Zitat 6)
Ein Gefühl von Großstadt kommt auf. Das Bewusstsein für einen Feierabend außerhalb der heimischen Wände. Die Nacht gibt das Signal zum Auszug. Zum Flanieren.
Stadtteile, in denen das Licht noch spärlich ist, gelten als gefährlich. Der Kitzel der Unsicherheit treibt den Nachtgänger immer weiter. Ein Abstecher in die Arbeitergegenden, das Scheunenviertel.
"Besonders in den Teilen Berlins, wo die liederlichen Dirnen ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben, ist es gerade diese Zeit, welche durch Raufereien oder andere thätliche Auftritte die lebhafteste wird. " (Zitat 7)
Wer ganz Städter sein will, muss sich in der Nacht bewegen können. Nächtliche Straßen gleichen erleuchteten Fluren. Besonders die Flaniermeilen. Berlin wetteifert jetzt mit Paris um nächtliche Schönheit. Die Stadt feiert sich im künstlichen Licht.
"Elektrisches Licht bedeutet Nachtleben. Nachtleben bedeutet Fortschritt. Berlin ist auf dem besten Wege, die fortschrittlichste Stadt in Europa zu werden. " (Zitat 8)
Die Nacht wird zum Symbol dessen, was eine Großstadt ausmacht. Es gibt ganz neue Arten, sich zu Vergnügen. Die Nacht ist eine Bühne. Man zeigt sich in schönen Roben, die jetzt eine größere Wirkung haben. Neben dem Leben auf der Straße eröffnen immer mehr Lokale, Revues, Ballhäuser.
"Das Nachtleben Berlins ist merkwürdig lebhaft. Sollte Paris in dieser Hinsicht überholt sein? Unter den Linden, auf der Friedrichstraße um die Leipziger und Potsdamerstraße herum hört das Getriebe die ganze Nacht nicht auf. Viele Lokale schließen überhaupt nicht. Wenn die letzten Gäste aufbrechen, wird aufgeräumt, und dann ist es Zeit wieder aufzumachen. " (Zitat 9)
Das Bild der schlafenden Stadt löst sich auf. Die Industrialisierung schreitet voran - mit ihr die Schichtarbeit und die Nachtarbeit. Nachts werden Straßen ausgebessert, vom Schmutz des Tages befreit - die so genannte "Berlin Toilette". Die großen Markthallen bunkern Ware; Kneipen öffnen, in denen sich Nachtarbeiter ihre Welt einrichten. Das Licht ermöglicht ein Leben über den Tag hinaus - und in der Tag hinein, die Grenzen verschwimmen.
"Frühmorgens ist die Gegend am Oranienburger Tor einzig in ihrer Art. Von allen Seiten strömen über diesen Knotenpunkt des Verkehrs fleißige Menschen zur Arbeit, mittendurch schreiten voller stolz mit erhobenen Haupte, unnachahmlich frechen Minen, die Koryphäen der Halbwelt. Mehrere Cafés sind schon oder noch offen, Droschken halten davor, hier hinein strömt das Gelichter, um sich über die Erlebnisse der letzten Nacht Bericht zu erstatten. " (Zitat 10)
Berlin erwacht jetzt zwei Mal: Am Morgen zum Arbeiten, am Abend zum Vergnügen. Die neue Begeisterung für die Nacht hat die Kritiker des nächtlichen Ausschwärmens aber nicht verstummen lassen. Straßenmissionare organisieren sich. Sie durchkämmen Kneipen und Straßen - den Nachtschwärmer im Visier. Die Verfechter der alten Ordnung ziehen mit einem moralischen Feldzug gegen das nächtliche Amüsement. Um 23.00 Uhr noch unterwegs auf der anrüchigen Friedrichstraße?
" "Was führt sie hierher? - Folgen Sie einer sinnlichen Erregung? Wissen sie auch was die Folge sein wird, wenn sie hier einkehren? " (Zitat 11)
Alte Ängste werden geweckt. Die Nacht als Hort des Bösen, der Gefahr und der Sünde. Flugblätter machen die Runde.
"Abends gehen tausende von Nachtfaltern an den Bogenlampen unserer Straße zugrunde. So tut es uns in der Seele weh, wenn auch du dem trügenden Trieb nach flackernde Nachtfreuden folgst. Taghell erleuchten die Lichter unserer Großstadt die Nächte. Du weißt aber doch: Die Nacht ist finster und alles Glanz nur trügerischer Schein. " (Zitat 12)
Die Polizei hat das nächtliche Leben in "gesittete Bahnen" zu lenken, den "Sumpf auszutrocknen". Nach Mitternacht, beobachtet der Polizeidirektor, werde mehr Geld vergeudet und Unfug getrieben. Deshalb: Keine öffentlichen Veranstaltungen mehr nach 24 Uhr. Die Forderung nach Rückzug und der Appell an die Arbeitsmoral:
"Einer durchschwärmten Nacht folgt ein verlorener Tag. " (Zitat 13)
Doch je mehr beleuchtet wird, desto mehr zieht es die Berliner auf die Straße. Und je mehr auf die Straße gehen, desto mehr wird die Beleuchtung vorangetrieben. Das Licht ist ein neues Kontroll- und Ordnungsinstrument. Die Glühbirne ersetzt den Polizisten. Auf einem Osram-Werbeplakat verfolgt der Polizist mit dem Rumpf einer Glühbirne einen Dieb.
"Um die Sicherheit wäre es besser bestellt, würde Straße und Platz durch OSRAM erhellt. " (Zitat 14)
Im Oktober 1929 leuchtet die Hauptstadt grell. "Berlin im Licht" - ein dreitägiger Festakt. Die Veranstalter fahren alles auf, was Leuchtkraft hat.
Berlin badet im Ruhm von Modernität und Metropolengefühl. Ein Licht-Spektakel: Öffentliche Gebäude sind angestrahlt, Bahnen beleuchtet, ein Lichtkorso in der Stadt, Schaufensterbeleuchtung - aggressive Lichtreklame.
"Gerade die Lichtreklame gibt der Weltstadt am Abend erst die prägnante, individuelle Note. " (Zitat 15)
So hell und ausgeleuchtet ist das Berlin der zwanziger Jahre auch ohne Festakt, dass die Extreme der Großstadt mehr und mehr ins Auge stechen. Immer häufiger ist die Rede vom trügerischen Schein.
" Kriegskrüppel lässt man auf Straßen frieren,
Aber man lässt diese Straßen illuminieren.
Das ist das schreckliche wahre Gesicht.
Berlin im Licht. " (Zitat 16)
So mancher Nachtschwärmer sehnt sich nach Dunkelheit zurück.
"Mit Beginn der Dämmerung gehen in Augenhöhe die Lichter an. In den Hauptquartieren des Nachtlebens ist die Illumination so grell, dass man sich die Ohren zuhalten muss. Die Lichter indessen sind zu ihrem eigenen Gefallen versammelt, statt den Menschen zu scheinen. Ihre Glühzeichen möchten die Nacht erhellen und vertreiben sie nur. " (Zitat 17)
Die Lichtspirale scheint überdreht. Auf der Straße fühlt sich der Nachtgänger durchleuchtet, entlarvt. Die Straße ist taghell. Das nächtliche Leben zieht sich zurück - in öffentliche Räume, die die Nacht einschließen.
Das Kino macht Furore.
Oder in Räume mit privatem Charakter. Jene, die nur in der Nacht eine Daseinsberechtigung haben.
Die Boheme trifft sich in Nachtbars, wie dem Toni Grünfeld in der Jägerstraße 20. Die Bühne für das elegante Berliner Nachtleben, die exklusiven Kreise.
"Es verkehrt bei Grünfeld sehr gern auch der wirkliche Kavalier. Frack und Smoking sind vorherrschend, auch dunkler Jackettanzug genügt, kaum aber Reiseanzug, mit dem man ins Lindenkasino oder zu Riche gehen kann. Das Getriebe ist hochinteressant. Der Sekt strömt, Musik und Lachen. " (Zitat 18)
In manche rustikalere Nachtcafés, etwa in der Elsasserstraße, finden nur wirklich Ortskundige den Weg.
"Von draußen sehen die Lokale aus, als wenn sie fest geschlossen sind. Durch die dichten Fenstervorhänge dringt kein Strahl Licht auf die Straße, und ebenso sieht man draußen erst beim genauen Hinsehen über den Vorhängen einen schmalen Lichtstreifen. Nur der Portier vor der Eingangstür und die einströmenden Gestalten bilden das Zeichen, dass drinnen Leben ist. " (Zitat 19)
Viele Lokale unterliegen jetzt auch der Sperrstunde. Wer nicht weiß, wo das Vergnügen weitergeht, ist ein leichtes Opfer für die Schlepper. Der neue Beruf hat Hochkonjunktur. Sie nähern sich an und flüstern:
" Vielleicht noch ein nettes kleines Nachtlokal besuchen? Intimer Betrieb, solide Preise... " (Zitat 20)
Schlepper weisen den Weg zu geheimen Etablissements, meist verborgen in der Parterre-Wohnung eines Hinterhauses.
Klopfzeichen, dann öffnet sich die Tür in die Nacht. Gedämpfte Musik, Champagner im Überfluss. Jede Woche ein neues Versteck.
Manche Schlepper haben sich auf Touristen, besonders Männer aus der Provinz auf der Suche nach nächtlichem Kitzel und Großstadtabenteuer spezialisiert. Sie hängen am Anhalter Bahnhof herum und picken sich aus dem Gewühle ihre Kunden heraus.
"Dunkles Berlin gefällig? Individuelles Geleit durch alle Lasterstätten? " (Zitat 21)
Die Überrumpellung ist ihre Stärke.
" Es kostet ein paar Pfennige - nicht der Rede wert. Die Führung dauert drei Stunden, geht durch Opiumhöhlen, Kokskeller, Nackttanzdielen. Wer Berlin betritt, darf sich diese modernen Sehenswürdigkeiten nicht entgehen lassen. " (Zitat 22)
Eine ganz andere Sehenswürdigkeit des Berliner Nachtlebens: Der Rummel. Das Feierabendvergnügen der Arbeitsklasse. Billig und gastlich. Die "wilde Institution" unter freiem Himmel wird nun aus der Nacht verbannt. Ein Erlass des Ministeriums für Inneres trifft den Rummel ins Mark - verbietet den Betrieb nach 10 Uhr abends.
"Bis zehn ist kein Rummel. Nach zehn ist er verboten. Der Rummel der großen Stadt stirbt. Die Form gewordene Betätigung des Wunsches nach "Verjniejen." Es ist eine Angelegenheit des Dialekts, nicht der Hochdeutschen Sprache. Seine Heimat ist der Wedding, sein Ursprung die Seele des außerhalb der Gesetze stehenden, sein Zweck ist der Rausch. Nach 10 Uhr abends? Hier sollte ein Rummel erst einsetzen. Ihm ist nichts so schädlich wie das Tageslicht. Ihm ist nichts so nützlich wie die Nacht. " (Zitat 23)
Es ist Nacht - Der Himmel über Berlin ist hell. Selbst im Tiergarten. Bis in die Außenbezirke erstreckt sich das Lichtermeer. Dunkle Ecken gibt es nicht mehr, heute nicht mehr.
Der Verkehr fließt fast wie am Tage. Die Maschinerie der Großstadt läuft unentwegt. 24 Stunden. Die Nacht hat den Tagesrhythmus übernommen.
Lange Ladenöffnungszeiten verlängern den Tag und verlagern den Abend in die Nacht. Bis 20 Uhr einkaufen. Manchmal auch länger. Spät essen, so wie die Italiener, Türken, Araber es in der Stadt leben.
Überhaupt: Essen rund um die Uhr. Um 2 Uhr morgens sind bei Habibi alle Stehtische belagert.
Trinken, Sitzen, Rumstehen. Das alles ohnehin am liebsten draußen. Viele Bars, Restaurants, Cafes stellen ihre Tische selbst im Winter nicht mehr rein. Es gibt ja Heizpilze um die man sich auch in kühlen Nächten in dicken Mänteln herumwickeln kann.
Die Nacht ist gefüllt mit Aktivitäten und sie ist verplant - wie der Tag. Wer nachts in Berlin unterwegs ist, geht zielgerichtet. Und wenn es nur in die Kneipe um die Ecke ist:
Jede Nacht in der Woche nimmt mehrere Seiten im Stadtmagazin ein. Es gilt, den Markt zu sondieren, denn der Auszug in die Nachtstadt kennt keine Grenzen. Keine Sperrstunde. Berlin ist durchlässig. So viele Angebote, so viel zu tun.
"Die Stunden unseres nächtlichen Lebens beanspruchen so viel Aufwand, Energie und Geld wie der Rest unserer Tage. Nachts unterwegs sein hat ja einen Sinn: Informationen sammeln. Reden, diskutieren, lernen, wirken, kämpfen. Ein neuer Job, der Klatsch - eine wichtige Party-" (Zitat 24)
Berliner Nächte sind von Aktionismus getrieben, rastlos. Der Wunsch nachts das Besondere zu erleben ist ungebrochen - dessen Befriedigung bedarf schnelllebiger, immer neuer Anreize.
"Biete mir etwas, Berlin! "
Etwa in Clubs unter "Gleichgesinnten" die ewige Nacht erleben, die Extase. Man kann den Tag 48 Stunden lang aussperren - und Montagmorgen, wenn der Berufsverkehr stockt, nahe der Erschöpfung auf die Straße treten und sich langsam wieder an das Tageslicht gewöhnen.
Oder: Das Lange Nächte Angebot. Der Hauch von Ausnahme. Es gibt lange Nächte der Musik, der Wissenschaften, der Museen, sogar der Sparkassen - und - natürlich des Shoppings. Konsum und Entertainment. In der Nacht werden sie zum Abenteuer - zum modernen Berliner Rummel.
Die Sinnsuche aber bleibt die alte.
" Er saß in der großen Stadt Berlin
An einem kleinen Tisch.
Die Stadt war, auch ohne ihn.
Er war nicht nötig, wie es schien.
Und rund um ihn war Plüsch.
Die Leute saßen zum Greifen nah,
und er war doch allein.
Und in dem Spiegel, in den er sah,
saßen sie alle noch einmal da,
als müsste das so sein.
Er strich das weiße Tischtuch glat.
Und blickte in das Glas.
Fast hatte er das Leben satt.
Was wollte er in dieser Stadt,
in der er einsam saß?
Da stand er, in der Stadt Berlin,
auf von dem kleinem Tisch!
Keiner der Menschen kannte ihn.
Da fing er an, den Hut zu ziehn …
Not macht erfinderisch. " (Zitat 25)
Quellenverzeichnis:
- Gespräch mit Joachim Schlör, 2.05.2005
- Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991
- Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 244
- Schaper, Rüdiger (Hrsg.) Berlin um Mitternacht. Argon Verlag, Berlin 1998, S. 63
- Bretthauer, Bastian: Die Nachtstadt. Tableaus aus dem dunklen Berlin. Campus Frankfurt a. M. 1999
- Kästner, Erich: "Lyrische Hausapotheke", 1. bis 7. Tausend
Atrium Verlag, Berlin (ohne Zeitangabe)
Zitate:
ZITAT 1: Aus: M. Rapsilber: Das Ende des Laternenzüchters. In: Der Roland von Berlin, VIII Jg. 1910, H. 40S. 1304
Z. aus: Schlör, Joachim, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 74
ZITAT 2: Johann Daniel Fr. Rumpfs neuester Fremdenführer in Berlin. Eine Beschreibung nebst einem Wanderungsplan durch Berlin. Berlin 1839, S. 220f.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. S.48
ZITAT 3: Vossische Zeitung, 21.9.1826
Z. aus: Schlör, Joachim,. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 74
ZITAT 4: Kölnische Zeitung zit. Nach: Bei Licht besehen. Kleines ABC der Beleuchtung. Hg. Vom Landschaftsverband Rheinland. Pulheim 1987.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 27
ZITAT 5: Bruno H. Bürgel: Berliner Sensationen 1882. In: Berliner Morgenpost, 6.7.1930.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 68
ZITAT 6: Das Kulturbild des 19. Jahrhunderts. Bd. 23/24. Von Alexander von Gleichen-Rußwurm, Hamburg, o.J.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 64
ZITAT 7: C. v. Kertbeny: Berlin wie es ist. Ein Gemälde des Lebens dieser Residenz und ihrer Bewohner, dargestellt in genauer Verbindung mit Geschichte und Topografie. Berlin 1831. S. 321
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 47
ZITAT 8: Das verleumdete Nachtleben (Bericht über den Besuch Edisons in Berlin). Berliner Tageblatt.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.21
ZITAT 9: Jules Huret: Berlin (München 1909). Neu: Berlin um 1900. Berlin 1979,
S. 61
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.109
ZITAT 10: Staatsarchiv Potsdam, Rep. 30 Berlin C, Landtagsfascikel betr. Durchführung der Polizeiverordnung über die Polizeistunde. Nr. 1600. Berichte der XI., XII. und V. Polizeihauptmannschaft.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S.107/108
ZITAT 11: Berliner Stelle des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland, Archiv (ADW)
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 222
ZITAT 12: siehe Zitat 11
ZITAT 13: StA Potsdam, Rep. 30 Berlin C, Nr. 16927: betr. Die hiesigen sittlichen Zustände. Verwaltungsbericht des Kgl. Polizei-Präsidium von Berlin.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 185
ZITAT 14: Osram Lichthaus, Bewegungsbilder 1925.
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 69
ZITAT 15: Aus dem Festprogramm "Berlin im Licht".
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München, S. 70
ZITAT 16: Max Epstein. Berlin im Licht. In Weltbrille 7. 1928
Z. aus: Schlör, Joachim. Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840-1930, Artemis & Winkler Verlag, München 1991, S. 71
ZITAT 17: Siegfried Krakauer: In den Hauptquartieren des Nachtlebens. S. K. Straßen in berlin und anderswo. Frankfurt a. M. Suhrkamp 1964.
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 171
ZITAT 18: Berlin für Kenner: Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt. Großstadtführer für Kenner. Bd.1 Berlin: Boll und Pickardt, 1902
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 290
ZITAT 19: Zitat 18. S. 297
ZITAT 20: Carl Zuckmayer: Vielleicht noch ein nettes, kleines Nachtlokal besuchen?
C.Z.: Als wärs ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Frankfurt a.M.. S. Fischer, 1966
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 274
ZITAT 21/22: Egon Jameson: Augen auf! Streifzüge durch das Berlin der 20er Jahre. Hrsg. Von Walther von La Roche. Originalausg. Frankfurt a. M. Berlin / Wien: Ullstein, 1982
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 244
ZITAT 23: Joseph Roth: Rummel bis zehn. J. R.: Das journalistische Werk. Hrsg. Von Klaus Westermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989.
Z. aus: Schlör, Joachim (Hrsg.): Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt. Reclam, Stuttgart 1994, S. 134, 132, 131.
ZITAT 24: Hörmann, Egbert: Ab durch die Mythologie - Die waren Kinder Frankensteins.
Z. aus: Schaper, Rüdiger (Hrsg.) Berlin um Mitternacht. Argon Verlag, Berlin 1998,
S. 63
ZITAT 25: Erich Kästner: "Lyrische Hausapotheke", 1. bis 7. Tausend
Atrium Verlag, Berlin (ohne Zeitangabe), S. 35/36