Meuterei 1918 in Wilhelmshaven

Aufstand der Matrosen und Heizer

Ein Kriegsschiff der Deutschen Marine mit Matrosen an Bord, aufgenommen wahrscheinlich 1914
Die Marine des deutschen Kaiserreiches spielte eine entscheidende Rolle im Ersten Weltkrieg. © imago stock&people
Jörg Hillmann im Gespräch mit Dieter Kassel · 31.10.2018
Es war kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs 1918: In Wilhelmshaven weigerten sich Matrosen und Heizer der Marine auszulaufen. Wie sieht die Bundeswehr heute die Befehlsverweigerung? Das erklärt der Militärhistoriker und Kapitän zur See Jörg Hillmann.
Dieter Kassel: Es wird dieser Tage relativ viel über den sogenannten Kieler Matrosenaufstand geredet. Wir haben das hier im Deutschlandfunk Kultur auch schon getan. Die Begründung ist recht einfach, der ist nämlich ziemlich genau hundert Jahre her. Hundert Jahre ist eine Menge her, denn damals, Ende Oktober, Anfang November 1918 ist in Deutschland eine ganze Menge passiert. Nicht exakt in dieser Reihenfolge, aber doch immer auch in einem gewissen Zusammenhang gab es zunächst eine Weigerung von Matrosen und Heizern in Wilhelmshaven, auszulaufen.
Es gab diesen erwähnten Matrosenaufstand. Es gab Republikausrufungen eigentlich am Anfang, in verschiedenen Provinzgebieten des damaligen Deutschen Reiches. Ich hab gesagt, die Reihenfolge stimmt nicht, denn was es auch noch gab, man erwähnen muss, ist natürlich zum einen das Ende des Ersten Weltkriegs, und es ist natürlich auch das Ende des Kaiserreichs mit dem Rücktritt des Kaisers. All das ist passiert, all das hängt zusammen mehr oder weniger unmittelbar, und all das wird heute natürlich positiv bewertet – wie kann man auch anders?
Aber wenn man in Details guckt, dann kann nicht jeder das ausschließlich so sehen. Denn zum Teil geht es um Ereignisse, bei denen nichts anderes passiert ist als Befehlsverweigerung von Soldaten. Wir wollen deshalb über die historische Erinnerung an nicht all diese Ereignisse, aber einige entscheidende, über die wollen wir jetzt reden mit dem Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, Kapitän zur See Jörg Hillmann. Er ist bei mir im Studio. Schönen guten Morgen, Herr Hillmann!
Jörg Hillmann: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Bringen wir mal die Reihenfolge nicht komplett durcheinander. Das, womit es im Prinzip anfing und worüber ich mit Ihnen reden möchte, war ein Ereignis in Wilhelmshaven. Man muss dazu ein bisschen was erklären. Die Marine, also wirklich die Schiffe der Deutschen Marine damals hatten monatelang keine Rolle gespielt in diesem Krieg oder fast keine. Es war auf deutscher Seite ein Seekrieg, es war vor allen Dingen ein U-Boot-Krieg.
Das heißt, wir hatten hier Männer, die lange gewartet haben und denen man dann zu einem Zeitpunkt, wo sie selbst glaubten, dieser Krieg sei nicht mehr zu gewinnen und es erwarte sie ein sinnloser sicherer Tod, wenn sie jetzt noch auslaufen, gesagt haben, Heizer und Matrosen, wir laufen nicht aus. Aber das war Befehlsverweigerung, ganz klar, denn der Befehl war da, ihr sollt es tun. Wie sieht denn die Bundeswehr heute diese Männer? Waren es Helden, oder waren es Verräter?

Kriegsmüdigkeit 1918

Hillmann: Vielleicht sollten wir mit den Begrifflichkeiten noch schärfer sein. Es war Meuterei. Und aus dem Grund sprechen wir von den Ereignissen im Jahr 1918 auch von einer Meuterei in Wilhelmshaven, die stattgefunden hat, im Gegensatz zu den Ereignissen des Jahres 1917. Denn bereits im Jahr 1917 war es ja zu einem Marinestreik gekommen, in dessen Verlauf zwei Matrosen oder ein Matrose und ein Heizer erschossen worden sind, Köbis und Reichpietsch. Und aus diesen Ereignissen hat die Marine eigentlich nichts gelernt, die Marineführung.
Es war nach wie vor so, dass ein Standesdünkel der Seeoffiziere vorherrschte. Es war weiterhin so, dass man die Matrosen und Heizer in den Stahlkolossen in Wilhelmshaven ließ, ihnen keine Freizeitgestaltungsmöglichkeiten angeboten hatte, keinen sinnvollen Dienst, schlechtes Essen, und sie im Prinzip behandelte, als seien sie Menschen zweiter Klasse. Wohingegen die Offiziere weiterhin ihrem eigenen Leben nachgingen, in Wilhelmshaven gut und sicher eigentlich lebten. Und dann kam es genau zu diesen Ereignissen im Jahr 1918, in einer großen Folge, muss man ja auch sehen.
Das Jahr 1918, das deutsche Volk war kriegsmüde geworden. Sie haben es eben schon gesagt, die Schiffe rosteten quasi in Wilhelmshaven ein. Sie sollten aufbewahrt werden. Des Kaisers sogenanntes liebstes Spielzeug, die Flotte, schlief im Hafen ein. So lautet ein bekannter Buchtitel. Diese so genannte Fleet-in-being hatte eigentlich gar keinen Auftrag mehr. Und genau das machte sich dann auch die Marineführung zum Ende des Krieges zunutze und sagte, jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder reißen wir jetzt noch einmal das Ruder herum und erringen einen Seesieg oder wir gehen in Ehre unter. Und dieses ehrenvolle Untergehen spielte, glaube ich, im Bewusstsein der Marineoffiziere eine ganz wichtige Rolle.

Klare Richtlinien für Befehlsverweigerung

Kassel: Aber es ist trotzdem die Frage. Sie reden von Meuterei. Aber die Frage ist ja heute, kann man quasi gleichzeitig in der historischen Erinnerung, gerade auch in der, die Sie ja unter anderem auch jetzigen deutschen Soldaten vermitteln, ein Befehlsverweigerer und ein Held sein? Kann man gegen einen sehr wichtigen Grundsatz jeder militärischen Führung verstoßen und trotzdem das Richtige tun?
Hillmann: Es gibt ja sehr klare Richtlinien, wann Befehle nicht ausgeführt werden dürfen. Da haben wir heute eine ganz klare gesetzliche Grundlage. Das finde ich auch ganz wichtig, dass, wenn es sich um nicht rechtmäßige Befehle handelt, dass diese nicht ausgeführt werden dürfen. Wenn wir jetzt aber in die Zeit 1918 mit einem ganz anderen gesellschaftlichen System – wir befinden uns in einer Zeit, wo noch Krieg herrscht, und es ist die Absicht bekundet worden, dass ausgelaufen wird.
Und es entsteht das Rumoren unter den Mannschaften, ohne genau zu wissen, was eigentlich passiert, dass dort quasi ein Opfergang stattfinden soll. Und in dem Moment sagen die Matrosen, das machen wir nicht mehr mit, da haben wir keine Lust zu. Es entsteht eine Art Verweigerungshaltung an dieser Stelle. Die Heizer machen die Kessel aus. Damit werden die Schiffe erst mal am Auslaufen grundsätzlich gehindert und die Offiziere stehen verhältnismäßig ratlos daneben mit ihren gepackten Koffern, die sie nämlich von Bord gebracht haben, und wissen eigentlich nicht, was zu tun ist.
Und dann geschieht etwas, nämlich in Wort und Tat entsteht hier Widerstand. Man geht gegen die Offiziere vor. Es kommt zu Schüssen, es kommt zu Todesfällen. Das ist eine eklatante Befehlsverweigerung. Hier wird nicht auf dem Verhandlungsweg zwischen den Matrosen und Heizern auf der einen Seite und den Offizieren auf der anderen Seite verhandelt, sondern die machen einfach keinen Dienst mehr, und sie verweigern sich. Und dann geschieht ja das, was eigentlich dann erst als Brandbeschleuniger entsteht, nämlich dass die Marineführung sagt, um diesen Aufruhr jetzt im Keim zu ersticken, verlegen wir ein Geschwader nach Kiel. Und erst dadurch trägt sich dann dieser Funke ja tatsächlich nach Kiel.

Matrosen wollten nicht Abdankung des Kaisers

Kassel: Aber wenn ich da kurz einhaken darf, was dann in Kiel passiert ist nur wenige Tage später ja, der Matrosenaufstand, so ist er in die Geschichte eingegangen, ist ja noch mal etwas anderes. Eine Armee hat ja, das ist in demokratischen Staaten genauso wie in nicht demokratischen, loyal zu sein. Sie dient ja dem Staat und der Führung des Staates, militärisch gesehen der obersten Heeresleitung, aber damals natürlich politisch gesehen dem Kaiser, als er noch nicht abgedankt hatte.
Da haben Soldaten, Matrosen, Heizer zusammen mit Arbeitern ja dazu aufgerufen, die Republik zu gründen, das heißt, sich gegen den Kaiser zu wenden. Muss man da nicht historisch sagen, das ist, egal, wie man die Folgen sieht, auch historisch betrachtet etwas, das wir ihnen eigentlich nicht einfach verzeihen können als Bundeswehr? Verzeihen ist kein sehr militärischer Begriff, ich gebe es zu, aber …
Hillmann: Ja, ich wollte gerade sagen, mit dem Begriff hätte ich Schwierigkeiten, mit dem Begriff des "Verzeihens". Aber die Ereignisse in Kiel entwickeln sich ja erst zu dem, was Sie jetzt gerade eben geschildert haben, in einem viel späteren Stadium. Wir haben es zunächst einmal mit der Meuterei in Wilhelmshaven zu tun. Dann haben wir es mit den Aufruhren in Kiel zu tun, wo sich die Matrosen auch zusammenrotten mit den Werftarbeitern und für den Frieden im Prinzip versuchen einzutreten und für ein schnelles Kriegsende eigentlich demonstrieren.
Und dann im späteren Verlauf kommt erst der Entschluss dazu, auch die Abdankung des Kaisers an dieser Stelle mit zu verlangen. Das war aber kein ursächlicher Gedanke. Wir können nicht diese Meuterei in Wilhelmshaven, den Aufruhr in Kiel jetzt so darstellen, als wenn von Anfang hier die Matrosen den Ansatz verfolgt hätten, ein demokratisches oder quasi-demokratisches System einzuführen. Das war mitnichten so. Das hat sich im Lauf der Zeit herauskristallisiert und im Prinzip erst dann in Berlin so ausdifferenziert auch gegenüber der politischen Leitung gezeigt.

"Nie wieder 1918" als Trauma in der Marine

Kassel: Ich würde das gern jetzt mit Ihnen weiter ausdifferenzieren. Die Zeit haben wir nicht mehr. Aber ich möchte mir für eines noch Zeit nehmen: Die Vermittlung auch dieser Ereignisse, also Ende Erster Weltkrieg, die ersten Jahre danach – wie wird es eigentlich heute in der Bundeswehr vermittelt an Soldaten und auch an Wehrdienstleistende?
Sie wissen, es gibt eine große Diskussion generell über Geschichtsvermittlung, Geschichtsbild der Bundeswehr. Da geht es aber meistens eher um den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus. Aber gerade diese Ereignisse vor hundert Jahren, wie, wenn überhaupt, wird das vermittelt heute?
Hillmann: Zunächst ist es ein Geschichtsereignis, was natürlich Widerhall auch findet im Geschichtsunterricht, den wir an den Offiziers- und Unteroffizierschulen der Bundeswehr durchführen. Sicherlich wird es mehr beleuchtet innerhalb der Marine, weil gerade diese Situation 1918 im Bewusstsein der anschließenden Reichsmarine mit dem Stichwort, Schlagwort "Nie wieder 1918" einen ganz wesentlichen Aspekt darstellt. Wie sich dann diese Marineleitung in den 20er- und dann auch in den 30er-Jahren tatsächlich verhalten hat.
Das heißt, dieses "Nie wieder 1918" ist zu einem Trauma geworden innerhalb der Marine. Und aus dem Grunde ist es sicherlich so, dass innerhalb des Unterrichts, den wir innerhalb der Marine leisten, dieses Ereignis eine vielleicht höhere Bedeutung noch erhält, als das bei Heer und Luftwaffe oder auch im Sanitätsdienst heutzutage ist. Dennoch, das geschichtliche Ereignis wird beleuchtet, es wird diskutiert, und es wird auch sicherlich sehr differenziert betrachtet und ausdiskutiert mit unseren Offizieren und Unteroffizieren.
Kassel: Kapitän zur See Jörg Hillmann, über das Thema – der Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften in Potsdam natürlich, das ist der Grund, warum wir Sie eingeladen haben zu diesem Gespräch –, über die Ereignisse, wenn man ganz streng ist, November war die Revolution, eigentlich haben wir über Ereignisse gesprochen, die sich Ende Oktober, Anfang November abgespielt haben in Deutschland. Ich danke Ihnen sehr für Ihren Besuch, Herr Hillmann, vielen Dank!
Hillmann: Ganz herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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