Reporter Erik Albrecht: "Der Brexit hat mich persönlich getroffen, schließlich ging es beim EU-Austritt auch um mein Recht als Europäer im Vereinigten Königreich zu arbeiten, ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen."
Besuch in Brexit-Land
Die Kleinstadt Mexborough kämpft mit den Folgen der Deindustrialisierung. Früher lebte der in Nordengland gelegene Ort vom Bergbau. Heute bieten Call Center und Logistik-Unternehmen schlecht bezahlte Jobs. 69 Prozent haben hier für den Brexit gestimmt - eines der deutlichsten Ergebnisse landesweit.
Kopfkissen für sechs Pfund, Damen-Leggings mit Blümchenmuster für drei. Daneben leuchten Strickpullover knallrosa gegen den grauen nordenglischen Himmel. Es ist zugig auf dem kleinen Marktplatz. Eingerahmt von tristen Zweckbauten aus den 1970ern haben eine Handvoll Händler ihre Waren aufgebaut. Nur ein paar ältere Kunden bummeln zwischen den Ständen. Wir sind in Mexborough, 15.000 Einwohner, eine Kleinstadt in Yorkshire.
Früher lebten sie hier vom Bergbau. Doch die Minen sind seit 30 Jahren geschlossen. Es sind Orte wie Mexborough, die Großbritannien aus der EU geführt haben. 69 Prozent waren hier für den Austritt. Eines der höchsten Ergebnisse landesweit. Mexborough ist Brexit-Land.
Geschlossene Geschäfte sind das erste, was auffällt, geht man vom Marktplatz ein paar Schritte die High Street herunter. Die Rollladen sind auch zur Mittagszeit unten, darüber ein Schild: To let. Zu vermieten.
Keine Bergarbeiter mehr, die streiken könnten
Olivefarbener Parka, schlohweißes Haar. Wenn Bill Lawrence durch die Fußgängerzone geht, sieht er eine Stadt, die es nicht mehr gibt: Metzger, Schuster, Obstläden, selbst Fahrräder wurden hier einmal in einer kleinen Werkstatt gebaut, erzählt er. Vor allem an Markttagen war Mexborough voll von Menschen.
1880 gegründet, trafen sich im Arbeiterklub von Mexborough die Kumpel nach der Schicht. Die Gewerkschaften hatten großen Einfluss. Bis Margaret Thatcher an die Macht kam. Die Eiserne Lady. Sie war wild entschlossen, Englands Kohleindustrie abzuwickeln. Jeder in Mexborough erinnert sich an den blutigen Bergarbeiterstreik, der folgte. Für Thatcher waren die Kumpels der "innere Feind". Den bekämpfte sie mit Polizisten. Eine Zeitwende für Mexborough: Allein in nächster Umgebung mussten sieben Schächte schließen. Thatcher ist hier bis heute verhasst. Und die Stadt kämpft immer noch mit den Folgen der Deindustrialisierung.
Unten im Ort lässt die kleine Hauptstraße erahnen, wie knapp das Geld für die Menschen geworden ist. Call-Center und Logistik – die neuen Industrien im ehemaligen Kohlerevier brauchen vor allem ungelernte Arbeiter, die Überstunden machen müssen, um von ihrer Arbeit leben zu können.
Seit 30 Jahren geht es hier bergab, sagt Lawrence. Deshalb schließen so viele Geschäfte.Wirklich reich war Mexborough nie. Doch lange Zeit haben die Kohlenminen vielen ein gutes Auskommen ermöglicht.
Bill Lawrence selbst war Eisenbahner. Dann studierte er auf Gewerkschaftskosten. Zeit seines Lebens blieb er ihnen treu, vermittelte Arbeitern politische Bildung. Doch Aufstiegsgeschichten wie die von Bill Lawrence gibt es heute kaum noch.
Das Gefühl sagt: Brüssel hat die Menschen vergessen
Auch das sei ein Grund, warum viele hier für den Brexit gestimmt haben, sagt Lawrence. Die Menschen in Mexborough hätten schon lange das Gefühl, dass man sie vergessen hat. Vergessen von der Gebietsverwaltung in Doncaster. Vergessen von der Regierung in London. Und eben auch vergessen von Brüssel. Dieses Gefühl war für viele wahlentscheidend, glaubt Lawrence. Er selbst war gegen den EU-Austritt. Trotzdem glaubt auch er, dass es so nicht mehr weitergehen kann.
In einem Nebenraum der örtlichen Bücherei hält Andy Pickering Bürgersprechstunde. Er ist Stadtrat für Mexborough First. Die kleine Partei will die Interessen Mexboroughs in der Gebietsversammlung von Doncaster vertreten. Pickering hat für den Austritt gestimmt.Er liebe Europa. Das Problem sei für ihn die EU. Plötzlich sei aus der Handels-Gemeinschaft eine politische Union geworden. Britische Politiker hätten die Debatte darüber bewusst vermieden, kritisiert Pickering.
"Ich will nicht, dass mein Sohn oder meine Enkel in einem Föderalstaat leben. Sie sollen so wie ich ihre Abgeordneten abwählen können, wenn sie das wollen."
Die politische Union als Gefahr für die Souveränität des Königreichs ist ein Argument, das die, die heraus wollen aus der EU, immer wieder anführen.
Die Sofa-Sitzecke vorne mit Blick auf die High Street, oder doch lieber ein richtiger Tisch mit Spitzendecke aus Plastik – Bill Lawrence hat die freie Wahl. Das Café "30 Mexborough" hat erst vor ein paar Wochen eröffnet.
Ende 50, die Haare irgendwo zwischen Blond und Grau, eine lange schwarz-weiß karierte Strickjacke verdeckt die Schürze. Die Sorge ist Helen McCain anzusehen, als sie erzählt, wie wenig Gäste heute gekommen sind. Für sie zählt jeder Kunde.Immerhin, ihr Geschäft läuft gut an, sagt Helen, während sie auf dem alten Herd Putenfilets brät. Lange genug durchzuhalten, sei die größte Herausforderung. In Mexborough hat Helen schon zu viele Läden scheitern sehen.
Ein Café gegen die Trostlosigkeit
Es sind diese enttäuschten Hoffnungen, die Mexborough das Gefühl geben, dass man sie vergessen hat. Dabei könnte man so viel tun, glaubt Helen: niedrigere Steuern für Gründer, billigere Mieten für den Start. Hilfe zur Selbsthilfe wäre das für sie.
Der Brexit hat den Gewerkschaftler Bill Lawrence einsam gemacht in Mexborough.Doch die Stimmung sei nicht feindlich, sagt Lawrence versöhnlich, während er sich Tee einschenkt.
Als Gewerkschaftler fürchtet Lawrence vor allem, dass die konservative Regierung Arbeitnehmerrechte einschränken könnte, wenn sie nicht mehr an EU-Richtlinien gebunden ist. Gerade Orte wie Mexborough wären dann schutzlos der Politik der marktliberalen Tories ausgeliefert. Nach der Schließung der Zechen droht damit für Lawrence ein weiterer Abstieg. Schon jetzt haben die Gewerkschaften in den Call Centern und Lagerhallen oben auf dem Zechengelände wenig Einfluss.
Eine Zugstrecke bedroht ganze Wohnsiedlungen
Kurz vor dem Ortsende von Mexborough lenkt Andrew Foley seinen Wagen von der Hauptstraße nach links in ein Wohngebiet aus kleinen Mehrfamilienhäusern. Die meisten sind ein paar Jahrzehnte alt. In der letzten Straße vor dem Ortsrand wird er langsamer. Mallory Drive. Hier soll in Zukunft eine neue Bahnstrecke für Hochgeschwindigkeitszüge Mexborough zerschneiden. Der Name des Projekts: High Speed 2, oder kurz HS 2.
Verklinkerte Doppelhaushälften, dahinter ein Feld. Im Hintergrund die sanften Hügel von Yorkshire. Alle Häuser auf der rechten Seite der Straße müssten weichen – 14 insgesamt.
Umgerechnet etwa 64 Milliarden Euro kostet das Projekt. Es spaltet das Land entlang der Gräben, die der Brexit durch die englische Gesellschaft gezogen hat. Von den schnelleren Verbindungen profitieren die europafreundlichen Metropolen. Den Preis zahlen Kleinstädte wie Mexborough, sagt Foley. Seitdem die Baugesellschaft im vergangenen Sommer bekanntgab, dass die Route ganze Wohnsiedlungen am Rande der Stadt bedroht, kämpft er gegen die Strecke.
Kurz darauf lenkt Foley seinen Wagen auf einen Hof. Zwei Millionen Hühner, 350 Schweine, und 100 Kühe – seit über 40 Jahren haben Thomas Schofield und seine Brüder hier ihre Farm. Wird das Projekt wie geplant beschlossen, werden in ein paar Jahren die Bagger anrücken. Später sollen die Züge mit mehr als 300 Kilometern pro Stunde über das Gelände rasen.
Wie eine dunkle Wolke überschattet High Speed 2 das Leben der Menschen, sagt Thomas Schofield. Niemand weiß, was passieren wird. Für Mexborough wäre es ein weiterer Schlag: Neben der Farm soll ein ganzes Neubaugebiet für die Strecke abgerissen werden. Die Menschen müssten wegziehen. Wieder verliert die Stadt Kaufkraft. Für die Läden auf der High Street würde es noch schwerer zu überleben.
Als Bauer hat Thomas Schofield gegen den EU-Austritt gestimmt. Sein Zorn richtet sich vor allem gegen die Bürokraten in London. Draußen auf dem Hof zeigt Schofield, wo die Eisenbahnstrecke verlaufen soll. All das hat er selbst den öffentlichen Plänen entnommen. Offiziell hat "High Speed 2" ihn noch nicht informiert.
Freitagabend ist Bingo-Abend im Concertina Band Club. Im Billard-Zimmer planen Jonathan und seine Freunde, alle Mitte 20, ihren nächsten Kurz-Urlaub. Prag ist das Ziel. Sie fahren gerne nach Europa. Doch nur Rick wäre lieber in der Europäischen Union geblieben. Ganz sicher ist auch er sich nicht. Ohnehin hatte er keine Zeit, zur Wahl zu gehen, wie er sagt. Die anderen vier waren für den Brexit. Doch die Gründe, findet Jonathan, hätten die allermeisten immer noch nicht verstanden.
"Wer für den Austritt war, wurde als rassistisch und ungebildet abgestempelt. Dabei bin ich gegen Europa, weil es sich in eine Maschinerie verwandelt hat, die uns langsam alle erstickt."
Schlimmer kann es nicht mehr kommen
Jonathan hat vor allem die EU-Politik in der Eurokrise abgeschreckt. Brüssel dürfe nicht entscheiden, was das Beste für einzelne Länder sei. Angst vor den Folgen des Brexit hat er nicht.
Schlimmer kann es durch den EU-Austritt auch nicht mehr werden, denkt Jonathan. Wenn man den Tiefpunkt erreicht hat, kann es nur bergauf gehen, pflichtet ihm sein Freund Liam bei. Unsicherheit sei doch das Beste, was ihnen passieren könne.
Als Jonathan und seine Freunde die Schule verließen, hatte die Finanzkrise die englische Wirtschaft gerade auf Talfahrt geschickt. Reichtum habe ihre Generation ohnehin nie erwarten können, sagt Jonathan. Sie sind eine Generation, die nur Arbeit in den Call-Centern findet, stimmt Elliot zu.
Jonathan wollte eigentlich Polizist werden. Doch als er mit seinem Studium fertig war, hatte die Regierung in London bei der Polizei gerade einen Einstellungsstopp verhängt, um zu sparen. Heute hilft er an seinem College Studenten mit Lernbehinderung, Jobs zu finden. Eine eigene Wohnung kann es sich von dem Gehalt nicht leisten. Und so mischt sich im Brexit Kritik an der EU mit Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung.
Vorne an der Bar streitet der Gewerkschaftler Bill Lawrence mit seinem Nachbarn über den Brexit. David Molten war dafür. Längst schon wissen beide, dass sie einander nie überzeugen werden.