"Den Kreis von Korruption und Straflosigkeit durchbrechen"
Die mexikanische Menschenrechtsaktivistin Alejandra Ancheita fordert Aufklärung über das Schicksal der 43 vermutlich ermordeten Studenten in ihrem Land – und von 26 000 weiteren Verschwundenen.
Deutschlandradio Kultur: Dazu begrüßt Sie Ellen Häring. Heute zu Gast ist Alejandra Ancheita, mexikanische Bürgerrechtlerin, Anwältin und Menschenrechtsaktivistin. Sie erhielt im Oktober den Martin-Ennals-Preis, eine Art Nobelpreis für Menschenrechte. Wir haben das Gespräch bereits gestern geführt, inzwischen erreichen uns neue, grausame Nachrichten aus Mexiko: die 43 Studenten, die seit Ende September im mexikanischen Bundesstaat Guerrero verschwunden sind, sind offenbar ermordet worden. Drei der bisher Festgenommenen haben gestanden, die Studenten getötet, auf einer Müllhalde verbrannt und anschließend in einen Fluss geworfen zu haben. Nur wenige Überreste sind bisher gefunden worden, diese sollen nun von Spezialisten in Innsbruck mit der DNA der Studenten abgeglichen werden. Wann die Ergebnisse vorliegen werden ist noch unklar, der mexikanische Generalstaatsanwalt hat in einer Pressekonferenz betont, dass die Studenten bis zur endgültigen Klärung ihrer Identität als verschwunden gelten.
Alejandra Ancheita kannte diese Nachrichten noch nicht, als sie bei uns gestern im Studio war. Das Gespräch mit der Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin gibt vor dem aktuellen Hintergrund einen Einblick in ein Land, das immer tiefer im Sumpf von Gewalt, Korruption und organisiertem Verbrechen versinkt.
Alejandra Ancheita, Sie haben gerade den Martin Ennals-Preis bekommen, eine Art „Nobelpreis für Menschenrechte“, den Amnesty International und andere Menschenrechts-Organisationen verleihen. Ist dadurch Ihre Arbeit in Mexiko angemessen gewürdigt?
Alejandra Ancheita: Es ist eine sehr wichtige Anerkennung für meine Arbeit als Menschenrechtsanwältin und für die Themen, derer ich mich annehme. Ich kümmere mich mit der Organisation ProDesc, die ich auch gegründet habe und heute leite, um die Rechte der indigenen Gemeinschaften, also der Ureinwohner Mexikos, um die Rechte von Kleinbauern und von Arbeitern. In den meisten dieser Fälle kommt es zu Übergriffen durch multinationale Konzerne, z.B. auf die Landrechte der Bauern. Und diese Fälle sind komplex, denn ein transnationales Unternehmen ist ein wirtschaftlich mächtiger Akteur.
Deutschlandradio Kultur: Was genau tun Sie da in Mexiko? Erzählen Sie mal von ein paar konkreten Fällen.
Alejandra Ancheita: Also, ein konkreter Fall, den wir gerade begleiten, ist ein Konflikt in Oaxaca in einer indigenen Gemeinde von Zapoteken. Sie liegt am Meer. Diese Menschen erleben gerade, wie ihre Landrechte und die natürlichen Ressourcen von einem spanischen Unternehmen, das Windenergie produziert, missachtet und verletzt werden. Das Unternehmen heißt Renovalia. Dieses Unternehmen hat 2004 bei der Gemeinde vorgesprochen und hat vorgeschlagen, Teile ihres Landes zu mieten gegen einen minimalen Mietpreis. Die Gemeinde wurde nicht umfassend informiert darüber, was dort geschehen wird und zu welchen Konditionen, obwohl dies nach internationalem Recht so hätte sein müssen. Sie haben Verträge unterzeichnet, die sie gar nicht verstanden haben. Die waren in Spanisch verfasst, aber viele sprechen gar kein Spanisch, sondern Zapoteco. Und das Unternehmen hat natürlich versprochen, dass sie ihr Land weiter bewirtschaften können, auch wenn dort Windparks gebaut werden. Aber wenige Monate nach Unterzeichnung der Verträge, die sowieso schon jede Menge Lücken aufwiesen, wurde das Land eingezäunt und den Indios wurde verboten, ihr Land zu betreten und es zu bestellen. Das ist aber ihre einzige Einkommensquelle. Sie können also nicht mehr von dem leben, was sie anbauen.
Deutschlandradio Kultur: Hat die Regierung da nicht geholfen?
Alejandra Ancheita: Die mexikanische Regierung hat sich völlig zurückgehalten, sie hat nicht getan, was sie hätte laut Verfassung tun müssen, nämlich die Rechte der indigenen Bevölkerung zu schützen und zu garantieren. Im Gegenteil: Die Regierung erleichtert sogar den Zugang zu den natürlichen Ressourcen, die auf dem Land indigener Gemeinden liegen, und bietet sie transnationalen Unternehmen an.
"Nur ein Beispiel, wie schlimm und ausufernd die Gewalt ist"
Deutschlandradio Kultur: Im letzten Monat gab es unzählige Proteste in Mexiko, in ganz Mexiko und auch im Ausland, weil im mexikanischen Bundesstaat Guerrero 43 Studenten verschwunden sind. Sie wurden bei einer Demonstration verhaftet und offenbar an eine örtliche Drogenbande übergeben. Bis heute sind sie nicht mehr aufgetaucht. Inzwischen weiß man aber, dass die staatlichen Behörden, die Polizei und die organisierte Kriminalität die jungen Leute gemeinsam haben verschwinden lassen. Wie ist ein solches Verbrechen vor den Augen der Öffentlichkeit möglich?
Alejandra Ancheita: Ich glaube, die 43 verschwundenen Studenten in Guerrero sind nur ein Beispiel dafür, wie schlimm und ausufernd die Gewalt in Mexiko ist.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das, dass ein solches Verbrechen an der Tagesordnung ist in Mexiko?
Alejandra Ancheita: Ganz genau, das heißt das. Die 43 jungen Leute, die nun verschwunden sind, gehören zu der hohen Zahl der OFFIZIELL Verschwundenen, und das sind 26 000 – eine Zahl, die die Regierungsstellen angeben. Über diese 26 000 Verschwundenen wissen wir nichts und es gibt keine Erklärung von Seiten der Regierung dazu. Diese Zahl zeigt doch ganz klar, mit welcher Nachlässigkeit die mexikanische Regierung das Thema behandelt. Es gibt keine Antworten weder für die betroffenen Eltern der 43 Studenten, noch für die mexikanische Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Man muss den Kreis von Korruption und Straflosigkeit durchbrechen, und das ist sehr schwierig. Es ist auch gefährlich, denn daran sind nicht nur die lokale und nationale Polizei beteiligt, sondern auch das organisierte Verbrechen, das diese schweren Menschenrechtsverletzungen begeht.
Deutschlandradio Kultur: Aber gerade diese Straflosigkeit, die Sie erwähnt haben, ist doch eigentlich fast unglaublich. Über 90 Prozent der Fälle werden überhaupt nie aufgeklärt. Das ist doch für Sie als Rechtsanwältin auch noch mal eine ganz besondere Herausforderung. So eine Straflosigkeit setzt ja auch immer eine gewisse Komplizenschaft voraus. Das bedeutet, der Einfluss des organisierten Verbrechens hat die Behörden in Mexiko erreicht. Ist das so und welche Erfahrungen machen Sie da selber in Ihrer Arbeit?
Alejandra Ancheita: Wir müssen das natürlich immer mit berücksichtigen, wenn wir als Juristen die Menschenrechte verteidigen. Die Korruption ist ein wichtiger Pfeiler, der die Straflosigkeit stützt. Aber wir erwarten als Verteidiger der Menschenrechte nicht nur eine Antwort auf juristischem Wege. Natürlich sind diese Verhältnisse ein Hindernis für unsere Arbeit, die wir als Menschenrechtsanwälte machen, wir können uns nicht auf das Gesetz verlassen, auch wenn das natürlich wichtig ist. Aber wir versuchen auch, die Betroffenen dabei zu unterstützen, sich zu organisieren und aus ihrem Einzelfall eine generelle Forderung zu entwickeln, die über das Einzelschicksal hinausgeht und die mexikanische Gesellschaft generell betrifft.
Das Problem, das wir in Mexiko und übrigens auch in anderen lateinamerikanischen Ländern haben, sind nicht die bestehenden Gesetze. Die Gesetze in Mexiko sind sehr fortschrittlich. Das heißt, in den Gesetzen sind die Rechte und auch die Durchsetzung dieser Rechte ganz klar definiert. Das ist nicht unser Problem. Das Problem ist, dass das Gesetz nicht durchgesetzt wird. Das hat teilweise auch damit zu tun, dass diejenigen, die aufklären und strafen sollen, gar nicht dafür qualifiziert sind. Ich glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt neben den bereits erwähnten natürlich, der Korruption und der Straflosigkeit.
"Justizbeamte werden bestochen, und zwar zunehmend"
Deutschlandradio Kultur: Man hört ja auch immer wieder gerade in dem Zusammenhang von Staatsanwälten, von Richtern, die offensichtlich gekauft sind, auch in diesem Fall von Iguala/Guerrero jetzt mit den Studenten. Haben Sie da auch Erfahrungen gemacht diesbezüglich?
Alejandra Ancheita: Ich kann in den Fällen, die wir begleiten, nicht mit Sicherheit sagen, welche Staatsanwälte, mit denen wir direkt zu tun haben, gekauft sind und welche nicht. Was ich schon klar sagen kann, ist, dass Justizbeamte bestochen werden, und zwar zunehmend. Die Geldgeber sind nicht nur das organisierte Verbrechen, auch transnationale Unternehmen sind dabei. Sie wollen verhindern, dass es zu Gerichtsverfahren kommt, die auf internationaler Ebene die Verletzung der Menschenrechte durch diese Unternehmen thematisieren.
Deutschlandradio Kultur: Alejandra Ancheita, wo ist die Wurzel dieses ganzen Sumpfes, den wir da hören, der sich in Mexiko zeigt? Ist es die Korruption oder ist es das organisierte Verbrechen?
Alejandra Ancheita: Ich glaube, es gibt verschiedene Wurzeln, die diese Spirale der Gewalt erklärbar machen. Ein für mich sehr wichtiger Punkt, der im öffentlichen Diskurs leicht untergeht, ist die Tatsache, dass viele Menschen in Mexiko keine Chance haben, ein Leben in Würde zu führen. Das heißt, hier kommen strukturelle Problem ins Spiel, die erst einmal nichts mit Korruption zu tun haben, sondern mit Armut. Mit einer fehlenden wirtschaftlichen Entwicklung, die auch die Menschenrechte respektiert und garantiert. Damit, dass sich Mexiko für transnationale Unternehmen weit geöffnet hat, sie aber nicht kontrolliert und überwacht. Es kommt zur Ausbeutung unserer Ureinwohner, unserer Natur, unserer natürlichen Ressourcen. Das hat strukturelle wirtschaftliche Gewalt hervorgerufen.
Die Armut ist auch der Grund, warum das organisierte Verbrechen alles infiltrieren konnte – nicht nur die Polizei, die Behörden und die Justiz, sondern auch die ganz normale Bevölkerung. Das ist schmerzhaft. Viele Kinder und Jugendliche möchten heute nicht mehr Lehrer oder Ärzte werden, sondern Drogenhändler. Weil sie sehen, dass man damit Geld verdient und endlich aus der Armut herauskommt. Es gibt keine wirtschaftliche Entwicklung in Mexiko, die der Bevölkerung ein Leben in Würde ermöglicht.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das, dass das organisierte Verbrechen auch tatsächlich – ich sag mal in Anführungsstrichen – „Alternativen“ für junge Leute ohne Chance auf dem Ausbildungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt bietet?
Alejandra Ancheita: Die jungen Leute sehen das als EINZIGE Chance, um der Armut zu entfliehen, die zeitlebens ihre Familie belastet und ihre Dorfgemeinschaft. Es ist nicht die Mehrheit der Jugendlichen, aber gerade diejenigen, die in Regionen leben, die sehr stark von Gewalt und Armut geprägt sind, schließen sich dem organisierten Verbrechen an. Sie sehen hier einen Ausweg, dem ganzen Mangel zu entkommen, den sie selbst erleben und den sie in ihrer Umgebung wahrnehmen.
"In drei Jahren 809 Angriffe gegen Menschenrechtler"
Deutschlandradio Kultur: Ist Ihre Arbeit gefährlich?
Alejandra Ancheita: Ja. Der Martin Ennals-Preis ist auch deshalb wichtig. Es ist ein renommierter Preis, der an Menschen verliehen wird, die durch ihre Arbeit einem großen Risiko ausgesetzt sind. Die Arbeit von Menschenrechtlern in Mexiko gilt als hochgradig riskant, vor allem in den letzten Jahren. Nur um einmal ein Beispiel zu geben, was das bedeutet: Im Jahr 2013 gab es 242 Angriffe ausschließlich auf Frauen, die sich in der Menschenrechtsarbeit engagieren. Das hat unser nationales Netzwerk dokumentiert. 95 Prozent dieser Angriffe wurden bis heute nicht bestraft. Das nationale Menschenrechtskomitee in Mexiko-Stadt hat innerhalb von drei Jahren 809 Angriffe gegen Menschenrechtler dokumentiert. Daraufhin hat die Regierung ein Schutzprogramm aufgelegt, das Menschenrechtlern und Journalisten Sicherheit geben soll. In diesem Schutzprogramm sind 130 Personen. Die UNO hat Mexiko dazu aufgefordert, Menschenrechtler und Journalisten zu schützen und 24 Punkte benannt, die die mexikanische Regierung umsetzen soll. Diese Zahlen vermitteln eine Ahnung davon, unter welchen Umständen Journalisten und Menschenrechtsaktivisten – und besonders Aktivistinnen – in meinem Land leben.
Deutschlandradio Kultur: Und sind Sie selbst auch schon Opfer solcher Angriffe geworden?
Alejandra Ancheita: Ja, sicher, in den letzten zwei Jahren haben einige meiner Mitarbeiter und natürlich auch ich selbst Morddrohungen erhalten per Email und per Telefon. Wir brauchen auch Sicherheitspersonal, wenn wir aus dem Haus gehen oder aus dem Büro. Wir haben ja bereits darüber gesprochen, dass wir viel in indigenen Gemeinden arbeiten und der Weg dorthin ist gefährlich. Wir fahren von der Stadt in ländliches Gebiet und auf dem Weg werden wir bedroht oder verfolgt von Unbekannten. Wir haben natürlich diese Einschüchterungsversuche und Drohungen angezeigt und wir sind auch in dem Schutzprogramm der mexikanischen Regierung. Leider betrifft das nicht nur mich und meine Organisation, sondern die Mehrheit der Menschenrechtsaktivisten in Mexiko.
Deutschlandradio Kultur: Es ist für Außenstehende irgendwie unverständlich: Die mexikanische Regierung legt ein Schutzprogramm für Menschenrechtsaktivisten auf und gleichzeitig achtet sie nicht die Menschenrechte. Wie geht das zusammen?
Alejandra Ancheita: Die mexikanische Regierung fährt eine international sehr erfolgreiche Strategie. Man zeigt sich als fortschrittliches Land mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten, interessant für ausländische Investoren. Gleichzeitig verpflichtet man sich auf allen Ebenen zur Einhaltung der Menschenrechte. Mexiko gehört zu den Ländern, die fast alle internationalen Vereinbarungen zu Menschenrechtsfragen unterschrieben haben. Und Mexiko hat nicht nur unterschrieben, sondern auch ratifiziert. 2011 wurde sogar die Verfassung geändert und alle Vereinbarungen wurden dort aufgenommen.
Dieses Bild, das Mexiko nach außen abgibt, steht im Widerspruch zu der Realität, die wir täglich erleben. Deshalb ist es so wichtig, solche Fälle wie den der 43 Studenten bekannt zu machen. Denn es ist eine schwierige Herausforderung für uns, diese Verschleierungstaktik der Regierung zu entlarven. Tatsächlich gibt es eine riesige Kluft zwischen dem, was die Regierung sagt, und dem was sie tut.
Deutschlandradio Kultur: Sie verteidigen überwiegend indigene Gemeinden und andere benachteiligte Gruppen in Mexiko. Auch die entführten Studenten in Guerrero gehörten zu dieser Bevölkerungsgruppe. Sind diese Gruppen besonders gefährdet, weil sie gar keine Lobby haben?
Alejandra Ancheita: Ja, tatsächlich kommen die 43 Studenten überwiegend aus indigenen Gemeinden. Und was wir schon lange wissen, ich glaube das haben wir der Zapatisten-Bewegung aus den neunziger Jahren zu verdanken, ist, dass es dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber eine doppelte Diskriminierung gibt: Sie sind arm und sie sind Indios. Und bei den Frauen kommt noch ihr Geschlecht hinzu: Es sind Frauen, sie sind indigen und sie sind arm. Diese Bevölkerungsgruppe ist hochgradig gefährdet und die mexikanische Regierung hat bisher nichts unternommen, um ihre Situation zu verbessern. Dennoch gibt es einen Fortschritt, denn die indigene Bevölkerung weiß schon sehr lange, wie man sich zusammenschließt und sich kollektiv organisiert. Und sie fordern jetzt ihre Rechte ein. Sie nehmen sich inzwischen selbst als Personen wahr, die Rechte haben und nicht als jemand, der bei der Regierung darum betteln muss.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja jetzt genau das Interessante, dass die indigenen Gruppen einerseits aufstehen und wie Sie beschrieben haben ja auch schon gut organisiert sind. Aber jetzt hat man ja auch den Eindruck, dass die mexikanische Zivilgesellschaft aufsteht, protestiert, weil das Fass übergelaufen ist. Was kann die Zivilgesellschaft erreichen?
Alejandra Ancheita: Diese Frage wird jetzt die Zivilgesellschaft beantworten müssen. Ja, der Fall der 43 Studenten in Guerrero war, wie Sie eben gesagt haben, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich glaube, die Wahrnehmung ist richtig. Die mexikanische Gesellschaft kann diese ständige Gewalt nicht mehr ertragen. Der Fall der Studenten ist unglaublich schmerzhaft für alle. Weil es Jugendliche sind, die aus indigenen Gemeinden kommen. Dort ist es für die Familien so schwer, ihre Kinder auf eine Universität zu schicken. Sie sollten dort Lehramt studieren und später in ihre Gemeinden zurückkehren als Lehrer, um den anderen Kindern Bildungschancen zu geben. Das war ein Traum!
Deutschlandradio Kultur: Wenn die Zivilgesellschaft sich jetzt organisiert, welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke da?
Alejandra Ancheita: Die sozialen Netzwerke spielen eine dynamische Rolle. Die junge Generation beherrscht diese Vernetzung, sie geht kreativ damit um, fördert auch einen kollektiven Geist. Da wird zu Versammlungen aufgerufen, da werden die neuesten Informationen verbreitet, man organisiert sich, stellt Forderungen auf, die sich an die Regierung richten. Nicht zu vergessen: Es ist eine billige Kommunikation, sie kostet nicht viel, und man kann problemlos alle Informationen ins Ausland transferieren, wo es viel Solidarität mit den verschwundenen Studenten gibt.
Deutschlandradio Kultur: Was für eine Rolle können denn jetzt die politischen Parteien einnehmen? Ist es überhaupt vorstellbar, dass die einen wirklich demokratischen Wandel in Mexiko konstruktiv begleiten, und dass auch die Bevölkerung wieder Vertrauen in die Parteien hat?
"Die mexikanische Bevölkerung hat kein Vertrauen mehr in die Parteien"
Alejandra Ancheita: Ich glaube schon, dass es möglich ist. Aber das ist eine sehr, sehr harte Arbeit für die politischen Parteien. Die mexikanische Bevölkerung hat kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien, egal in welche, auch nicht in die Linksparteien. Schon allein deshalb, weil keine Partei ehrlich und effektiv Stellung für die Menschen in Mexiko bezieht. Die Parteien haben viele Rechnungen gegenüber den Wählern offen, die sie nicht transparent und klar begleichen. Ich glaube, die politischen Parteien in Mexiko müssten ihre derzeitige Situation schonungslos analysieren und die Richtung bestimmen, in die sie gehen wollen. Nur mit einem klaren Programm und der ehrlichen Bereitschaft zur Aufarbeitung lässt sich das Vertrauen in Mexiko wieder gewinnen.
Deutschlandradio Kultur: Und sehen Sie da irgendeinen Stern am Himmel blinken?
Alejandra Ancheita: Nein, ich sehe im Moment keine Möglichkeit bei den Parteien in Mexiko und sehe auch keine neue Partei, die sich vielleicht gründen könnte und so eine Rolle übernehmen könnte. Gerade das ist ja Teil unserer Verzweiflung, mit der wir leben: Dass wir keine Alternative sehen, der wir uns anschließen könnten, um eine wirkliche Veränderung anzustoßen. Das ist ein Defizit und das macht die Sache so kompliziert.
Deutschlandradio Kultur: Die europäischen Regierungen haben jetzt reagiert auf dieses Verschwinden von 43 Studenten. Und sie haben der mexikanischen Regierung das Vertrauen ausgesprochen und gesagt, sie glauben an den Kampf gegen die Kriminalität, den die mexikanische Regierung führt. Was sagen Sie dazu?
Alejandra Ancheita: Ich denke, das ist ein interessanter Versuch der europäischen Regierungen, die mexikanische Regierung bei der Bekämpfung der Kriminalität unterstützen zu wollen. Die internationale Politik möchte ja die Regierungen stärken, die solchen Bedrohungen ausgesetzt sind. Aber Europa muss sich natürlich fragen, ob es eine Regierung unterstützen will, die nie konkrete Antworten gibt. Hier sollte man sich fragen: Welche Unterstützung braucht die mexikanische Regierung, um endlich effektiv ermitteln zu können, Täter zu identifizieren und zu bestrafen? Und welche Unterstützung geben wir, damit ein Wandel geschieht und sich nicht ständig alles wiederholt? Und wie können wir helfen, den Schaden wieder gut zu machen? Es fehlt eine tiefgreifende Analyse der europäischen Regierungen.
Deutschlandradio Kultur: Aber wie könnte das genau aussehen? Was könnten die europäischen Regierungen für eine Haltung zeigen?
Alejandra Ancheita: Sie sollten die Lage in Mexiko analysieren und klar zeigen, dass sie nicht nur mit den Institutionen der Regierung sprechen, sondern auch mit der Zivilgesellschaft. Hier erfahren sie die Wahrheit. Die vielen nicht-staatlichen Organisationen erleben den Alltag direkt und können wertvolle Informationen liefern. Daraus muss die Diagnostik folgen, aus der dann effektive Hilfsmaßnahmen entwickelt werden, die den Prozess voranbringen. Und nicht nur internationale politische Absichtserklärungen, die zwar gut gemeint sind, aber sich in keiner Weise konkret und wirksam niederschlagen.
Deutschlandradio Kultur: Zum Schluss die Frage: Was glauben Sie, was ist mit den 43 Studenten passiert?
Alejandra Ancheita: Das ist eine schwierige Frage, denn wir warten alle noch darauf, endlich zu erfahren, wo sie sind. Wir fordern, dass sie lebend zurückkommen. Und unversehrt. Ich glaube, darauf warten wir jetzt alle, auf die Antwort auf diese Frage. Und diese Antwort muss die mexikanische Regierung geben, nicht nur den Eltern der Verschwundenen, sondern der ganzen mexikanischen Gesellschaft. Wir wollen sie lebend zurück. Und hoffentlich ist dies der erste Fall, der gut ausgeht.
Die anderen Szenarien, die wir uns vorstellen können, kann man nicht leugnen. Jeder weiß, dass das Verschwindenlassen von Personen einher geht mit der Gefahr für ihr Leben und für ihre körperliche Unversehrtheit. Das Szenario gibt es, sicher, aber wir konzentrieren uns auf unsere Forderung: Wir wollen sie lebend zurück, gesund und unversehrt und so schnell wie möglich. Damit sie wieder bei ihren Familien sind und bei uns allen.
Deutschlandradio Kultur: Das war Alejandra Ancheita, Anwältin und Menschenrechtsaktivistin aus Mexiko, mit der ich gestern gesprochen habe. Die Hoffnung darauf, dass die Studenten lebend zurückkehren, ist seit heute Morgen leider geschwunden. Der mexikanische Generalstaatsanwalt Jesús Morillo hat erklärt, dass die 43 jungen Männer vermutlich getötet und aller Voraussicht nach auf einer Müllhalde verbrannt und später in einen Fluss geworfen wurden. Keiner der 43 ist bisher identifiziert, deshalb gelten sie offiziell nach wie vor als Verschwundene. Auch deren Familien fordern dazu auf, sie nicht für tot zu erklären, solange es keine Beweise gibt. Als wir gestern das Gespräch führten, kannten wir diese Nachrichten noch nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.