Wahlen gegen Mord und Korruption
125 Millionen Mexikaner leben mit Korruption, Gewalt und wenig Hoffnung auf Besserung. Am 1. Juli stehen Regional, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Die Mordrate ist so hoch wie nie, und Opfer kann jeder werden. Selbst Priester sind nicht sicher.
Ein Mord zur besten Sendezeit: Ein Mann erschießt einen Bürgermeisterkandidaten. Der mexikanische Fernsehmoderator beschreibt die Bilder, die eine Überwachungskamera aufgezeichnet hat.
"Er kam gerade von einer Diskussionsrunde in der Universität von Coahuila. Man sieht, wie sich der Mörder dem Kandidaten von hinten nähert. Ohne irgendetwas zu sagen, holt er die Waffe raus und schießt ihm direkt in den Kopf. Dann geht er weg. Gefasst wurde er nicht. Die Bilder sind schlimm."
Bilder, die in Mexiko alltäglich sind. Mehr als 120 Politiker wurden im Wahlkampf ermordet, mehr als 40 waren Kandidaten für politische Posten, wie Bürgermeister. 29.000 Menschen starben im vergangenen Jahr nach Behördenangaben durch Gewalt. Noch nie in der Geschichte war die Zahl so hoch. Doch die ersten Monate dieses Jahres haben alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt: Noch einmal stieg die Zahl der Morde um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
In Wahljahren nehme die Gewalt zu, sagen Experten, weil Wahlen Verunsicherung über künftige Machtkonstellationen auslösten. Und es geht um viel Macht: 3406 politische Posten werden neu besetzt. Neben dem Präsidenten sind das Parlamentsabgeordnete, Senatoren und Bürgermeister. Die organisierte Kriminalität versucht, ihren Einfluss zu sichern. Wer nicht mitspielt oder zwischen die Fronten gerät, bekommt eine Kugel – es trifft alle und im Wahlkampf besonders: Politiker, Bürgermeisterkandidaten, Journalisten und Priester.
Im katholischen Mexiko sterben die meisten Priester
"Das ist das Metallgesetz: Silber oder Blei", bringt es der Soziologe Felipe Gaytán auf den Punkt. Silber steht für Geld, Blei für Kugeln.
Vor allem in ländlichen Regionen Mexikos, in denen der Staat nicht mehr für die Sicherheit seiner Bürger sorgt, regiert die organisierte Kriminalität nach dieser einfachen Regel: Entweder du stehst auf unserer Seite, oder du stirbst. Oft gilt das auch für Geistliche. 26 starben in den vergangenen knapp sechs Jahren. Allein im April wurden drei Priester in nur einer Woche ermordet. Der frühere Bischof von Apatzingan im Bundesstaat Michoacán, Miguel Patiño Velasquez, hat in seiner Diözese fünf Priester verloren. Sie wurden ermordet aus Gründen wie diesem:
"Einer unserer Priester half einer Witwe. Er vermittelte ihr einen Bauern, der ihr Feld bestellte. Die Zeit verging. Eines Tages kam er an dem Feld vorbei und sah, dass auf ihm nur Marihuana wuchs. Er schimpfte mit dem Bauern. Drei Tage später kam die Armee und brannte das Feld nieder. Deshalb geriet der Priester in Verdacht. Er verschwand zunächst spurlos. Wir suchten ihn tagelang. Seine Mörder hatten ihn angeschossen und dann totgeprügelt. Diese Dinge passieren wegen des Drogenhandels."
In keinem Land der Welt werden so viele Priester ermordet wie im katholischen Mexiko. Einer wurde am hellichten Tag in seiner Kirche geschlagen und erstochen. Die Brutalität nimmt zu. Verbrecherbanden senden damit das Signal, dass ihnen nichts mehr heilig ist, wie Hochschullehrer Felipe Gaytán sagt. Als Experte für Religion vermutet er, dass weit mehr Seelsorger ermordet werden als die offiziellen Statistiken angeben, weil in ihnen die evangelikalen Prediger fehlen.
"Es geht nie um ihren Glauben, sondern immer um ihre Arbeit: Sie werden getötet, weil sie der Gemeinde helfen, sie beschützen wollen oder eine Vermittlerrolle einnehmen. Dann werden sie oft als Feinde angesehen. Weiterer Grund ist, dass sie sich mit Verbrecherbanden arrangieren, zum Beispiel um Geld für soziale Arbeit zu bekommen oder weil es irgendwie hilft. Wenn dann aber eine neue Verbrecherbande kommt und die Macht übernimmt, sind diese Priester Feinde, weil sie scheinbar zum Feind gehören und werden deshalb getötet."
Dass im Wahlkampf mehr Geistliche, Bürgermeisterkandidaten und Journalisten ermordet werden als sonst, habe nicht das Geringste mit politischen Programmen oder Ideologien zu tun, sondern liege allein daran, dass die Drogenbanden ihr Terrain abstecken wollten, meint Felipe Gaytan:
"Für sie ist wichtig, dass niemand gewählt wird, der ihre Machenschaften einschränkt. Sie fördern den, der ihnen nützlich ist, und die Kirche kann dabei behilflich sein. Wenn nicht – dann wird diese Person aus dem Weg geräumt. Ein Bischof im Bundesstaat Guerrero hat es geschafft, mit den Kartellen einen Deal auszuhandeln, damit sie im Wahlkampf keine Priester oder Bürgermeisterkandidaten mehr umbringen."
Bischof Salvador Rángel erntete massive Kritik, weil er mit Kriminellen verhandelt hat. Am Ende gelang ihm ein Abkommen mit den Banden:
"Wir haben uns darauf geeinigt, dass sie die Wahl nicht stören und frei ablaufen lassen und dass am Ende der gewinnt, der die meisten Stimmen bekommt und nicht ihr Kandidat. In einigen Regionen haben mir diese Herrschaften versprochen, dass sie sich nicht einmischen werden und niemanden umbringen."
Vier Präsidentschaftskandidaten ohne neue Ideen
Der Bischof hat versucht, das zu tun, was der Staat in vielen Regionen nicht schafft: die Bürger zu beschützen. Wirksame Strategien gegen die Unsicherheit fehlen. Auch die vier Präsidentschaftskandidaten präsentieren keine neuen Ideen. Als Chefin der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung analysiert Birgit Lamm die mexikanische Politik schon seit viereinhalb Jahren:
"Was die Leute wollen, ist jetzt eine Verbesserung der Situation. Die wollen wieder auf die Straßen gehen können und wissen, sie kommen abends wieder nach Hause. Ich habe von keinem Kandidaten ein vernünftiges Mittel gesehen. Andere schlagen dann die Todesstrafe für bestimmte Delikte vor. Aber wenn man eine Straflosigkeit von 98 Prozent hat – das heißt, es werden überhaupt nur zwei Prozent aller Delikte angezeigt und nur ein Bruchteil dessen kommt vor Gericht – also dann bringt das höhere Strafmaß auch nichts, weil die Leute überhaupt nicht gefasst werden, die solch ein Delikt begehen. Da muss man wirklich einen konzertierten Ansatz haben. Der muss aus der Zivilgesellschaft kommen. Das kann keine Regierung alleine machen. Ich denke, da muss auch Druck von außen kommen, von der internationalen Gemeinschaft. Druck und auch Unterstützung, damit das passiert."
Ein Grundproblem in Mexiko sind die schwachen Institutionen. Justiz und Polizei sind korrupt und ineffizient. Als der mit über 20 Prozentpunkten führende der vier Präsidentschaftskandidaten, der linke Andrés Manuel López Obrador, Spitzname "AMLO", im Wahlkampf ankündigte, er wolle eine Amnestie für Bandenchefs, zerriss ihn der politische Gegner. In einem Spot treibt es José Antonio Meade, Kandidat der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution/PRI, auf die Spitze:
"AMLO hat gesagt, dass er die Narcos rauslassen und ihnen vergeben will, und was weiß ich noch. Stell dir vor, was das werden soll. Ich habe Angst."
"Vertrau´ mir! Ich werde Dein Präsident. Mit mir bleiben Verbrecher im Gefängnis. Und Mexiko wird in Frieden leben."
Antonio Meade, der laut Umfragen chancenlose Kandidat der Regierungspartei, will das schaffen, was Präsident Enrique Peña Nieto in den sechs Jahren seiner Amtszeit nicht gelungen ist: Mexiko befrieden. Alle Kandidaten versprechen wahllos das Blaue vom Himmel, blühende Landschaften, eine florierende Wirtschaft, die Armut senken. Dabei sind sie programmatisch kaum zu unterscheiden, wie der Schriftsteller Juan Villoro kritisiert:
"Den Parteien fehlt eine klare Ideologie. Um an die Macht zu kommen, haben sie Allianzen geschlossen, die mit Prinzipien oder politischer Überzeugung nichts zu tun haben. So gibt es eine sogenannte 'linke' Partei, die mit einer sogenannten 'rechten' Partei paktiert. Die Parteien haben kein Programm und die Kandidaten keine genaue Idee, was sie tun werden. Leider hat sich die mexikanische Politik in einen Karneval verwandelt. Jeder tut, als ob er wüsste, was zu tun ist, aber letzten Endes bleibt alles beim Alten."
Stimmenkauf mit Lebensmitteln, Gas und Elektrogeräten
Diana Martínez kennt das Spiel. Die junge Mutter erhält einmal pro Woche nur 100 Liter Wasser zum Waschen, Duschen und Putzen. Ein Tankwagen bringt es, weil es in ihrem Armenviertel am Rande von Mexiko-Stadt kein Leitungswasser gibt. Diana erzählt, dass eine Partei versprochen habe, zwei Mal wöchentlich 100 Liter zu liefern – vorausgesetzt: die Bewohner stimmten für ihren Kandidaten:
"Wie immer machen sie ihre Betrügereien. Alle Parteien wollen deine Stimme. Sie verteilen Lebensmittelpakete oder Gutscheine, um den Gastank zu füllen. Erst vor kurzem haben sie bei einer Wahlveranstaltung Elektrogeräte verschenkt. Ich nehme einfach, was ich kriegen kann, denn letzten Endes sind es unsere Steuergelder. Zwar muss man jedes Mal eine Kopie seines Personalausweises abgeben, aber so funktioniert es. Von mir haben sie schon mindestens fünf Kopien."
Solange sie keinen Beweis liefern muss, kann Diana jedem versprechen, für ihn zu stimmen. Der Stimmenkauf hat eine lange Tradition in Mexiko und wird auch vor dieser Präsidenten-, Parlaments-, Gouverneurs- und Bürgermeisterwahl von allen Parteien intensiv praktiziert. Die Nichtregierungsorganisation "Bürger gegen die Armut" sammelt Beschwerden aus dem ganzen Land. Alberto Serdán schätzt, dass fünf bis zehn Prozent der Stimmen gekauft sind.
"Manche Wähler bekommen am Eingang zum Wahllokal ein Handy mit der Aufforderung, ein Foto vom Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen und das Handy danach zurückzugeben. Kinder werden als Begleitung in die Wahlkabine geschickt, um auszuspionieren, für wen gestimmt wurde. Weil Kinder rein dürfen. Manchmal werden die Leute auch so unter Druck gesetzt: 'Wenn diese Partei in diesem Wahllokal nicht mit 80% gewinnt, werden alle Sozialprogramme gestrichen und ihr verliert alles.'"
Stimmenkauf sei in Mexiko so leicht, weil es wenig Kontrolle und viel Geld gebe. 6,5 Milliarden Pesos stehen den Parteien für den Wahlkampf zu, rund 300 Millionen Euro, aber sie geben ein Vielfaches aus. Eine transparente Wahlkampffinanzierung gibt es nicht. Die Geldmenge in Mexiko erhöht sich in den Monaten vor einer Wahl immer stark. Viele sprechen deshalb von einer "Wahl-Wirtschaft".
Die Beschwerden über den Stimmenkauf landen auch auf dem Schreibtisch von Pamela San Martín vom Nationalen Wahlrat. Sie weiß, dass alle Parteien schummeln. Besonders ärgert sie, dass im Wahlkampf Sozialprogramme missbraucht werden, dass damit also nicht die Armut gesenkt, sondern die Macht erhalten werden soll:
"Fast alle Beschwerden zeigen, dass die großen sozialen Unterschiede ausgenutzt werden. Die Parteien profitieren beim Stimmenkauf von der extremen Armut. Das bedeutet nicht, dass diese Bürgerinnen und Bürger dumm und nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken, wer ihre Stimme verdient. Sie handeln aus reiner Notwendigkeit."
Kandidat der Armen: López Obrador ist der Favorit
Etwa die Hälfte der Mexikaner lebt in Armut. Die soziale Ungleichheit ist eines der größten Probleme des G-20-Mitglieds, das bisher keine Regierung lösen konnte - oder lösen wollte, denn alle Parteien nutzen sie für sich aus. Wieder erlebt Mexiko einen Wahlkampf, in dem alle Kandidaten versprechen, die große Armut zu bekämpfen. Andrés Manuel López Obrador will der Kandidat der Armen und Ausgegrenzten sein.
"Das Wort hat der Mann, der Frieden will, unser nächster Präsident!"
Schon seit bald anderthalb Jahrzehnten wird López Obrador von seinen Wahlkampfhelfern als baldiger Präsident angekündigt. Schon zum dritten Mal ist er Kandidat.
"Liebe wird mit Liebe vergolten", gibt er sich volksnah. Das kommt gut an bei den Bewohnern der Stadt Atlixco im Hochland des Bundestaates Puebla. Als Blumenstadt in ewigem Frühling ist sie bekannt, einen Blumenkranz haben sie ihrem ewigen Kandidaten Lopez Obrador, alias AMLO, auf den Kopf gesetzt. Von der Wut vieler Wähler, der Enttäuschung, der Politikerverdrossenheit und der weitverbreiteten Apathie ist in diesen Momenten des Wahlkampfes nichts zu spüren.
Der charismatische López Obrador ist für viele die letzte Hoffnung, für andere wenigstens das kleinere Übel. Nachdem es die beiden bisher regierenden Parteien nicht geschafft haben, Ungleichheit und Unsicherheit zu bekämpfen, gelingt es möglicherweise ihm. Gern übersehen seine Anhänger dabei, dass seine Partei Morena mit einer konservativ-evangelikalen Partei kooperiert. Aber allein die Möglichkeit von Veränderungen reicht vielen schon aus. Die Möglichkeit, dass er nicht korrupt ist oder zumindest weniger korrupt als der klassische Machtpolitiker im Land, gibt Hoffnung, dass er sich um die mehr als 50 Millionen armen Mexikanern kümmern wird.
"Heute unterstützen mehr Leute unsere Bewegung, wir sind besser organisiert, und es gibt mehr Interesse an einer wahren Wende, an einer Umgestaltung des Landes."
Transformation, Umgestaltung – so lauten die Schlagwörter von López Obrador. Aber wie genau er Mexiko umkrempeln will, lässt der Kandidat offen. Seine Gegner malen – wie schon in früheren Wahlkämpfen - das Schreckgespenst eines zweiten Venezuela oder Kuba an die Wand. Ein namhafter Unternehmer und einer der reichsten Männer Mexikos hat seine Arbeiter per Whatsapp sogar vor Jobverlust gewarnt, sollte der Kandidat von Morena gewinnen. Die Angstkampagne verfängt dieses Mal allerdings kaum – die Umfragen sehen López Obrador bei rund 50 Prozent.
Egal wer die Wahl gewinnt: Es wird sich wenig ändern
Für den Schriftsteller Juan Villoro ist klar: Wer López Obrador wählt, hat genug von der regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution PRI, von Gewalt und Unsicherheit.
"Egal, wer die Wahl gewinnt: Viel wird sich nicht ändern. Es ist übertrieben, sich vor López Obrador zu fürchten. Noch übertriebener ist es aber, alle Hoffnungen auf ihn zu setzen. Ohne die Mehrheit im Kongress - mit vielleicht gerade drei Bundesstaaten, die seine Partei gewinnt -, wird es schwer für ihn, ein so großes Land wie Mexiko – mit 31 Bundesstaaten - zu regieren. Das könnte er per Dekret, aber da gibt es klare Grenzen. Als López Obrador Bürgermeister von Mexiko-Stadt war, unterschied er sich nicht wesentlich von seinen Vorgängern der PRI, der Partei der Institutionalisierten Revolution. López Obrador hat Allianzen mit völlig gegensätzlichen Sektoren gebildet. Das schränkt seinen Spielraum stark ein."
López Obrador hat sich längst mit Unternehmerverbänden und Investmentbanken verständigt. Eine wirtschaftsfeindliche Politik ist von ihm nicht zu erwarten. Als Bürgermeister der Millionenmetropole Mexiko-Stadt hatte er zwischen 2000 und 2005 bewiesen, dass er ein Freund der Unternehmer ist: Er investierte in gigantische Infrastrukturprojekte – der Stadtautobahn hat er ein zweites Stockwerk aufsetzen lassen. Das marode historische Zentrum vertraute er dem reichsten Mexikaner Carlos Slim an, der es mit Milliardeninvestitionen aufpolierte.
Wenn AMLO gefragt wird, wie er das Land verändern und woher er das Geld für die Armutsbekämpfung nehmen will, antwortet er gebetsmühlenartig:
"Ich bin gegen Korruption. Ich stelle mich der Mafia der Macht entgegen, die keine moralischen Skrupel hat. Um die zu bekämpfen, muss ich konsequent sein. Ich habe keinen Besitz, auch wenn das diesen Korrupten unglaublich erscheint, ich habe keine Bank-Schecks, keine Kreditkarte. Ich bin nicht korrupt."
500 Milliarden Pesos koste die Korruption das Land jährlich, etwa 22 Milliarden Euro. Seine einfache Rechnung: Er beseitigt die Korruption, behält dadurch diese 500 Milliarden Pesos, mit denen er dann seine vielfältigen Wahlversprechen erfüllt. Und die neue Präsidenten-Boeing verkauft er wieder und verzichtet auf die Hälfte seines Gehaltes. Die Wiedergeburt Mexikos verspricht López Obrador; Populismus nennen das seine Gegner. Sie halten ihm Kungeleien mit befreundeten Unternehmern und undurchsichtige Wahlkampffinanzierung vor. Da jedoch alle im Glashaus sitzen, sind die Steinwürfe überschaubar. In einer der drei Fernsehdebatten - als sich die vier Kandidaten gegenseitig vorwerfen, korrupt zu sein - geht Ricardo Anaya von der konservativen Partei der Nationalen Aktion López Obrador frontal an und fragt ihn, ob er seine Kandidatur zurückzöge, wenn er Beweise für dessen korruptes Verhalten liefere.
"Ich bin nicht korrupt wie Du", kontert Lopez Obrador.
Der Anti-Korruptionskampf kommt aus Zivilgesellschaft
Die Stiftungschefin Birgit Lamm hält es für unwahrscheinlich, dass López Obrador wirklich gegen die "Mafia der Macht", wie er sie nennt, vorgehen wird. Er habe viel zu viele Politiker um sich geschart, die unter Korruptionsverdacht stehen:
"Ich glaube nicht, dass das realistisch ist, weil das in vielen Bereichen einfach die Art und Weise ist, wie man in Mexiko außerhalb der Familie Geschäfte macht. Es geht darum, persönliche Loyalitäten zu pflegen, es geht darum, Gefallen zu tun oder darum, persönlich zu profitieren, und das ist schon fast eine Kultur. Also, man muss nicht selber korrupt sein, aber jeder in diesem Land, auch ich, wir alle, leben in einer Kultur der Korruption. Das zu ändern – ich glaube, da reicht nicht der Präsident, sondern das muss einfach ein Mentalitätswechsel in der Bevölkerung sein. Da gibt es Ansätze, aber die kommen aus der Zivilgesellschaft. Wo wirklich Leute auf die Straße gehen und sich dafür einsetzen, Korruption nicht mehr zuzulassen, wie sie derzeit passiert."
Auch Schriftsteller Juan Villoro sieht im Moment keinen Ausweg aus der Situation:
"Korruption gehört zum Menschen. Wenn die Schweizer die Möglichkeit hätten, korrupt zu sein, dann wären sie es auch. Es hängt von der Versuchung und dem Ehrgeiz des Menschen ab. Oscar Wilde, der sich nie irrte, sagte: Allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht. Was wir brauchen sind Normen, um die Versuchungen zu verhindern. Und wir brauchen Sanktionen für diejenigen, die die Normen verletzen. Das geschieht aber nicht. Ich würde nicht sagen, dass die Korruption in Mexiko organisch ist. Sie ist strukturell, weil das Problem nicht behoben wird."
Weil diejenigen, die sie bekämpfen könnten, kein Interesse daran haben. So ist die sechsjährige Amtszeit von Präsident Enrique Peña Nieto von einem Korruptionsskandal überschattet: Ein Unternehmen, das von lukrativen Aufträgen profitiert hatte, als Peña Nieto noch Gouverneur war, schenkte dessen Frau eine Sieben-Millionen-Dollar-Villa. Angeblich hatte sie dem Unternehmen das Anwesen abgekauft. Das ist unglaubwürdig, weil die Dame ihren Lebensunterhalt vor der Ehe mit dem Präsidenten als Seifenoperndarstellerin bestritten hatte. Als dieser klare Fall eines Interessenskonfliktes aufflog, veranlasste Peña Nieto selbst eine Untersuchung – vorgenommen von handverlesenen Experten, die zu dem wenig überraschenden Ergebnis gelangten, dem Präsidenten sei nichts vorzuwerfen.
Solange solche Beispiele Schule machen, solange Straflosigkeit herrscht, kann Korruption weiter gedeihen. Der Kandidat Andrés Manuel López Obrador will deshalb auch mit den schwachen Institutionen aufräumen:
"Wir werden diese Spinnweben, die sie uns in die Köpfe gesteckt haben, herausreißen. Sie wollen, dass wir ihre Institutionen respektieren. Aber die an ihren Spitzen stehen, haben keinen Respekt vor dem Volk und der Verfassung. Deswegen sage ich, auch wenn das meinen Gegnern nicht gefällt: Zum Teufel mit euren Institutionen!".
Ist AMLO, also Andrés Manuel López Obrador, ein mexikanischer Trump, der verspricht, das Establishment vom Hof zu jagen? Oder populistisch wie seine Gegner, die von unrealistischen Benzinpreissenkungen bis zum Grundeinkommen alles versprechen, was Stimmen bringt?
López Obrador setzt auf die gläubigen Mexikaner
AMLO ist eine Überraschungstüte. Das Bündnis, für das er antritt, enthält Strömungen von progressiv-links bis konservativ-religiös: Die Partei Soziale Begegnung ist gegen Homo-Ehe und Abtreibung. AMLOs Weltanschauung sei religiös geprägt, mein Religionswissenschaftler Felipe Gaytán. Es sei klar herauszuhören, dass AMLO zu den Adventisten gehöre:
"Er hat seinen Glauben nie offen gezeigt. In der Regel sind mexikanische Politiker katholisch oder gehören den Freimaurern an. Die Adventisten bereiten sich auf die zweite Ankunft des Messias vor und sehen es deshalb als ihre moralische Aufgabe an, die Welt zu verbessern. Auch deshalb ist sein Diskurs nicht politisch, sondern basiert auf moralischen Werten. Er spricht vom "guten Volk" und sieht sich selbst als der Messias. Seit einigen Jahren wird er der "Messias der Tropen" genannt. Für ihn steht das religiöse Prinzip über dem politischen."
Andrés Manuel López Obrador setzt auf den starken Glauben der Mexikaner. Immer mehr wenden sich evangelikalen Gemeinden zu, aber noch sind mehr als 80 Prozent katholisch. Ansprechend-positiv klingt für sie der Name von AMLOs Partei: Morena – die Dunkelhäutige – das steht in Mexiko nur für eine: die Heilige Jungfrau von Guadalupe, Schutzpatronin des Landes. Eine heilbringende, liebliche Morena.
Das Gegenteil des derzeitigen PRI-Präsidenten Enrique Peña Nieto, der als korrupt und unfähig wahrgenommen wird. Seine Zustimmungswerte dümpeln nur noch im einstelligen Bereich. Die einzigen bemerkenswerten Leistungen seiner Amtszeit waren eine Bildungs- und eine Energiereform. Beide Projekte brauchen Zeit, weil sie verkrustete Strukturen aufbrechen und Kampf gegen mächtige Gewerkschaftsfunktionäre bedeuten.
Keine Rechtsstaatlichkeit, ungerechtes Bildungssystem
Dass Peña Nieto so unbeliebt ist, erklärt Birgit Lamm von der Naumann-Stiftung unter anderem mit dem Fall der seit bald vier Jahren verschwundenen 43 Lehramtsstudenten von Ayotzinapa.
"Die Regierung hat bis heute nichts zur Aufklärung beigetragen. Ganz im Gegenteil: Sogar internationale Expertenkommissionen bei der Arbeit behindert. Und sogar versucht, den UNO-Sonderbeauftragten für diesen Fall an der Veröffentlichung seiner Informationen zu hindern und ihn vorher so unter Druck zu setzen, dass sein Bericht positiver ausfällt. Das sind einfach Dinge – das Thema Rechtsstaatlichkeit oder Umgang mit Korruption und Vetternwirtschaft – die in der letzten Hälfte dieser Amtszeit die Regierung total diskreditiert haben. Aber es gibt eben, gerade im Bereich der Bildungsreform, die nicht perfekt ist und die noch angepasst werden müsste, da gibt es wichtige Fortschritte, die man einfach sehen muss."
Die Lebensbedingungen der Mexikaner haben sich nicht verbessert: Auch wegen des weiterhin ungerechten Bildungssystems, das nur Reichen auf Privatschulen Karrierechancen gibt, bestehen Ungleichheit und Armut fort. Die katastrophale Sicherheitslage, Straflosigkeit, Armut, soziale Ungleichheit und Korruption sind Mexikos größte Probleme geblieben.
Ein "weiter so" sollte es mit niemandem geben, doch trauen die Mexikaner ihren Politikern kaum noch Veränderungen zu. Vertrauensverlust und Politikerverdrossenheit haben ein verheerendes Ausmaß angenommen. Einige wählen nur, weil sie dafür bezahlt werden. Wer auch immer Präsident Mexikos wird – und das ist das Traurigste - die Erwartungen an ihn sind nicht hoch.