Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben
Hanser Verlag, München 2020
417 Seiten, 26 EUR
Ausblicke und Sackgassen
06:22 Minuten
Der Philosoph und Schriftsteller Michael Hampe experimentiert in seinem neuen Buch mit der "narrativen Philosophie". Irgendwo zwischen Erzählung und Reflexion denkt er über das "wirkliche Leben" nach - und entlässt die Leser ohne Fazit.
Dass die Wildnis uns wieder zum authentischen Leben erweckt (was immer das sein mag), versprechen nicht nur Managerseminare mit Urwaldübernachtung – wir seien verstümmelt, heißt es, haben die Verbindung zur Natur gekappt, unsere Seele verkauft. Und ausgerechnet die abstrakte Philosophie soll nun die Genesung bringen?
Die Sorge um das "wirkliche Leben"
Das verspricht der Autor und Züricher Philosophie-Professor Michael Hampe mitnichten. Doch, inspiriert von "psychiatrischen Patienten, die oft darüber klagen, noch kein wirkliches Leben gehabt zu haben", spürt er den Assoziationen dieses Gefühls nach: "Wildnis, Freiheit, das Streben nach Höherem."
Schon in früheren Werken plädierte Hampe für eine erzählende, also erfahrungsnähere Philosophie, und das vorliegende Buch ist denn auch eine Mischform aus Roman, Essayistik, lyrischen Einsprengseln, der Biografie eines verblichenen Dichter-Philosophen. Hinzu kommen auch noch dessen Aufzeichungen, die Erinnerungen einer einstigen Lehrerin und Unterhaltungen zwischen dem Biografen und einer KI-Gesprächspartnerin. Leitmotiv ist die Frage und Suche nach "wirklichen Leben".
Den Hintergrund bildet die nahe Zukunft, 2039, mit einem Krieg zwischen zwei Blöcken, in die die uns bekannte Welt zerfallen ist. Eine Rolle für die Handlung – es gibt eigentlich keine – spielt dieses vage Bühnenbild nicht, außer dass es ein Gefühl vermittelt, die Welt sei aus den Fugen; atmosphärisch immerhin eine förderliche Krise, um Grundsatzfragen zu stellen.
Der Biograph unterhält sich mit seiner KI-Gefährtin, kauft auch mal Brötchen (und wir erfahren 1001 folgenlose Details seines Frühstücks) – ansonsten scheint die Welt draußen wie ein Spiegel der zerrissenen Innenwelt des verstorbenen, gleichwohl allgegenwärtigen Helden, der als genialischer, erratischer Student in Cambridge gelandet war, und dessen drei hinterlassene Essays das thematische Sprungbrett für Kommentare und Erinnerungen seiner dortigen Lehrerin und dann seines Biographen abgeben.
Fragen, die offen gelassen werden
Der Text mäandert wie ein Gespräch (auch wo er gar keins ist), in dessen Verlauf immer wieder neue Fragen auftauchen; er besteht im Grunde aus lauter Tangenten, die sich auch am Schluss nicht zu einer Gesamtschau fügen.
Das müssen sie auch nicht, wenn man eine "narrative Philosophie" ausprobiert und durchspielt. Es ist eher eine tastende Entdeckungsreise, mit vielen Ausblicken (und auch Sackgassen). Neugier und Spekulationsfreude sind die treibenden Kräfte, eine unaufhörliche Anreicherung von Deutungsmöglichkeiten über eben jenen Dichter-Philosophen, der an Krebs verstarb.
Wenn man dem Text eine Struktur unterstellen will, so wäre es die wachsender konzentrischer Kreise. Vielleicht nicht die schlechteste Art zu philosophieren – sie führt fast zwanglos zu wechselnden Positionen und Perspektiven.
Am Ende hat man nichts in der Hand, es gibt kein Fazit – vielleicht beispielhaft für jene "dritte Aufklärung", der Hampe vormals ein Buch gewidmet hatte.
Womöglich öffnet man dem "wirklichen Leben" einen größeren Spielraum, wenn man fragwürdige Orientierungssicherheiten demontiert, als wenn man immer wieder neue anstrebt, die dann ohenhin alle wieder revisionsbedürftig sind – ein sinnloser Konkurrenz- und Vernichtungskampf, sinnierte einst wütend der verstorbene "Held", als müsse es "im Kampf endlich und endgültig ausgemacht werden, wer von uns die richtige Vorstellung besitzt vom wirklichen Leben. Besteht darin die Weisheit, im Bessersein, in der Ausrottung und Überwältigung?"
Vorhang zu und alle Fragen offen – wie offenbar gewollt.