Michael Hardt / Antonio Negri: "Assembly. Die neue demokratische Ordnung"
Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn.
Campus-Verlag, Frankfurt / New York 2018
411 Seiten, 34,95 Euro.
Emanzipation durch globale Vernetzung?
Von einer globalen Vernetzung sozialer Bewegungen versprechen sich Michael Hardt und Antonio Negri eine neue demokratische Ordnung. Für unseren Kritiker Jens Balzer offenbaren sie damit eine Denkschwäche aktueller linker Theorie.
Die politische Lage ist beklagenswert. Die Hoffnungen auf eine bessere Welt haben sich weitgehend zerschlagen, der neoliberale Kapitalismus wird von autoritären Herrschern immer rücksichtsloser durchgesetzt, religiöse Fanatiker und Rechtspopulisten bekämpfen die Demokratie. Zwar gibt es Widerstand dagegen: soziale Bewegungen wie "Occupy Wall Street" und "Black Lives Matter". Doch fehlt es diesen an Dauerhaftigkeit und Durchschlagskraft – und an charismatischen Führungspersönlichkeiten. Warum hat das 21. Jahrhundert noch keinen Martin Luther King hervorgebracht?
Die Vielheit der Gruppen
Das ist die Frage, die sich Antonio Negri und Michael Hardt in "Assembly" stellen, einem über 400-seitigen Essay, der die Betrachtung der aktuellen politischen Lage mit allerlei philosophischen Exkursen verbindet, zum Beispiel zu Marx und Adorno, Foucault, Deleuze und Max Weber.
Am Ende kommen die Autoren zu der Antwort: die Ausgangsfrage ist falsch gestellt. In unserer globalisierten und vernetzten Welt haben wir es nicht mehr mit einer einzelnen Klasse von Unterdrückten – dem Proletariat – zu tun, sondern mit einer "Multitude", einer Vielheit von Gruppen, die Unrecht erleiden und sich dagegen wehren. Dabei können sie nicht mehr von einzelnen "Führern" gelenkt werden; vielmehr braucht es – so die Formulierung von Negri und Hardt – "Unternehmer", die bei der taktischen Ausrichtung und bei der Vernetzung helfen.
Wofür stehen die sozialen Bewegungen?
Mit "Assembly" führen Negri und Hardt jene politische Philosophie fort, die sie erstmals in ihrem viel gelesenen Buch "Empire" (2000) entworfen haben, sowie in dessen Nachfolgewerken "Multitude" (2004) und "Common Wealth" (2010). Das Buch ist schwer und ermüdend zu lesen, weil es noch schlechter strukturiert ist, als man es von den beiden ohnehin gewohnt ist. Dennoch lohnt es die Lektüre, weil man darin eine wichtige Denkschwäche aktueller linker Theorie deutlich vorgeführt bekommt.
Denn für Negri und Hardt steht außer Frage, dass die sozialen Bewegungen der Gegenwart in einem traditionellen Sinne "links" stehen, das heißt: Sie sind antikapitalistisch, internationalistisch und streiten für die Rechte von Minderheiten. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall. Die Mehrheit der Menschen in den westlichen Industrienationen wünscht sich nicht mehr, sondern weniger Demokratie; nicht mehr, sondern weniger globale Vernetzung.
Warum ist das so? Darauf können Negri und Hardt nicht antworten, weil sie "rechte Bewegungen" ausschließlich als Ausdruck eines falschen Bewusstseins begreifen, das "die Finanzökonomie" oder "das Kapital" zur Sicherung der eigenen Herrschaft erzeugt.
Das Überwachungs-Regime der Gegenwart
Das ist umso befremdlicher, als sie zugleich die Vernetzung von allem und jedem als Motor des emanzipatorischen Fortschritts begreifen. Ihre Beschreibung der widerständigen "Multitude" orientiert sich ausdrücklich am Modell der sozialen Netzwerke im Internet. Gerade diese aber haben ja wesentlich zum Erfolg der "rechten Bewegungen" beigetragen. Und gerade die neoliberalen Magnaten von Facebook & Co. haben ein Überwachungs-Regime installiert, wie es sich Negris intellektueller Weggefährte Michel Foucault in seinen kühnsten Albträumen kaum ausgemalt hätte.
Die Herrschaft der "neoliberalen Finanzökonomie" wollen Negri und Hardt also ausgerechnet in einem Medium bekämpfen, das von dieser fast vollständig beherrscht wird – man hat nicht das Gefühl, dass sie die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangs schon im vollen Umfang verstehen.