Michael Jacksons zehnter Todestag

Das schwierige Gedenken an den "King of Pop"

04:34 Minuten
Schwarzweißaufnahme von Michael Jackson bei einem Live-Auftritt in den 80ern: Der weißgekleidete Sänger steht frontal vor der Kamera, singt in ein Mikrofon und weist mit dem rechten Arm streng zur Seite.
Michael Jackson in den 80ern: Auch nach den Vorwürfen der HBO-Doku "Leaving Neverland" kann man die Verdienste des "King of Pop" würdigen, sagt Bodo Mrozek. © imago / ZUMA Press
Ein Vorschlag von Bodo Mrozek |
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Nach den aufs Neue bekräftigten Vorwürfen, Michael Jackson habe Kinder sexuell missbraucht, fragen sich viele, ob man des vor zehn Jahren überraschend gestorbenen "King of Pop" öffentlich gedenken darf. Darf man, sagt Pop-Historiker Bodo Mrozek.
Anfang dieses Jahres fiel ein neuer Schatten auf Michael Jackson. In einem Dokumentarfilm erhoben die ehemaligen Jackson-Freunde Wade Robson und James Safechuck schwere Vorwürfe: Der Weltstar habe sie als Heranwachsende über Jahre hinweg sexuell missbraucht. In quälendem Detailreichtum erzählten beide vom Missbrauch, der sich die kindliche Bewunderung der beiden zu Nutze gemacht habe.
Wie also sollen wir Michael Jackson heute gedenken?
Das Urteil über ihn schien schnell gesprochen. Radiosender in aller Welt boykottierten seine Musik, Medienkommentare formulierten in der Sprache der Verdammnis das Verdikt eines Bannfluches über den afroamerikanischen Künstler.

Es gibt keine abschließende Wahrheit

Doch so klar die Sache scheint, sie ist es nicht. Denn zu einem Schuldspruch gehört in einem Rechtsstaat erst einmal ein fairer Prozess. Der Fernsehsender HBO, der die Dokumentation erstmals ausstrahlte, mag eine Instanz im Storytelling sein. Er ist aber kein Ort der Wahrheitsfindung.
So schwer die Vorwürfe gegen das Popidol wiegen: Um sie endgültig zu bewerten, hätte es einer ordnungsgemäßen Beweisaufnahme bedurft – und der Möglichkeit der Verteidigung des Angeklagten. All dies war nicht möglich, denn der Beschuldigte war zum Zeitpunkt der neuerlichen Vorwürfe bereits tot. Es gehört zur Perfidie des Kindesmissbrauchs, dass Opfer erst Jahrzehnte danach Worte für das einst erfahrene Leid finden. Die Straftaten sind dann oftmals schon verjährt oder die Täter gestorben.
Wir werden also mit der unbefriedigenden Erkenntnis leben müssen, dass es auch im Fall Michael Jackson keine Wahrheit mehr geben KANN.

Das Authentizitäsversprechen des Pop

Bleibt die Frage nach seinem Werk. Ist es statthaft, heute nicht eines herausragenden Musikers zu gedenken, des Schöpfers von Jahrhundertstücken wie "Billy Jean", des Erfinders des "Moonwalk" und Akteurs herausragender Pop-Videos wie "Thriller", - sondern nur eines mutmaßlichen Triebtäters? Und was hat das Werk eines Menschen mit seiner Sexualität zu tun?
Würde ein Elektriker des Missbrauchs überführt, es käme wohl niemand auf die Idee, seine Arbeit als kontaminiert abzuwerten und die von ihm verlegten Leitungen wieder aus der Wand zu reißen. Bei Künstlern scheint das anders. Hier wird die Einheit von Werk und Person vorausgesetzt. Gerade im Pop gilt die Authentizitätsvermutung: Die Musik gilt als echt und wahr, weil sie als Ausdruck der biografischen Erfahrung ihres Interpreten gehört wird.

Privatmensch und öffentliche Person

Tatsächlich aber muss man trennen zwischen der privaten Person des Menschen Michael Jackson und der mit ihm gleichnamigen Kunstfigur, die er auf der Bühne verkörperte.
Diese persona, an deren Kreation Sound-Ingenieure, Visagistinnen, Choreographinnen und Studiomusiker beteiligt waren, wird nicht schlechter durch die Vorwürfe an den Privatmenschen. Denn ein jedes Werk steht erst einmal für sich selbst. Wenn es darin unzulässige Sexualisierungen kindlicher Körper gab, dann sind diese auch ohne die mutmaßlichen privaten Verfehlungen ihres Schöpfers kritikwürdig.

Der "virtuelle Lynchmob"

Das heißt nicht, dass wir nicht über bekannt gewordene Verfehlungen diskutieren sollten. Wir brauchen diese Debatten, um auszuhandeln, was an Popmusik schon immer ausgehandelt wurde: die Grenzen des ästhetisch Möglichen ebenso wie des moralisch Legitimen.
Aber: Wir müssen darauf achten, dass wir gerade in Zeiten sozialer Netzwerke bei diesen Diskussionen jene Grenze wahren, die eine konstruktive Debatte vom virtuellen Lynchmob trennt, der gerade im Falle eines Afroamerikaners in einer unguten Tradition stünde.

Wachsames Gedenken - kein Widerspruch

Was also tun?
Wir dürfen am heutigen Jubiläumstag des großen, von Tragik umwitterten Popkünstlers gedenken und uns unbeschwert an seiner Musik erfreuen. Und wir sollten mehr denn je wachsam sein gegen sexuellen Missbrauch – nicht nur heute, sondern an jedem Tag.

Bodo Mrozek ist Kulturhistoriker und Autor des Buches "Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte" (Suhrkamp 2019), das von der Kriminalisierung und Etablierung der Popkultur im 20. Jahrhundert handelt. Er vertrat zuletzt den Lehrstuhl für Theorie und Geschichte der populären Musik der Humboldt-Universität zu Berlin und ist derzeit Fellow am Berliner Kolleg Kalter Krieg.

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