Michael Kleeberg: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts"

"Dem anonymen Horror ein Gesicht geben"

Moderation: Joachim Scholl |
Michael Kleeberg hat den Nahen Osten bereist. In Anlehnung an Goethes "West-östlichen Divan" sei sein Roman "Der Idiot des 21. Jahrhunderts" ein Kaleidoskop von Geschichten über Krieg, Vertreibung, Migration und die Liebe zwischen Orient und Okzident, sagt er.
Joachim Scholl: Wir begrüßen jetzt Michael Kleeberg. Die Kritik hat ihn einmal den vielleicht beeindruckendsten deutschen Schriftsteller genannt, weil er über eine solch große ästhetische Bandbreite verfügt. Man hat ihn mit Thomas Mann, Robert Musil, ja sogar mit Marcel Proust verglichen, den Michael Kleeberg übersetzt hat. Es ist in jedem Fall ein beeindruckendes Renommee, was sich der Mann in 30 Jahren Autorschaft erschrieben hat mit vielen preisgekrönten Romanen, und jetzt kommt ein neues Buch hinzu: Am kommenden Montag erscheint "Der Idiot des 21. Jahrhunderts". Willkommen, guten Morgen, Michael Kleeberg!
Michael Kleeberg: Guten Morgen!
Scholl: "Ein Divan" ist Ihr Buch unterschrieben, "versammelt von Michael Kleeberg". Seit Goethes "West-östlichem Divan" wissen wir von diesem orientalischen Genre. Es kommt aus dem Persischen. Beschreiben Sie uns mal Ihren Divan, Herr Kleeberg.
Kleeberg: Dass das Ganze "Ein Divan" heißt, hat natürlich tatsächlich sehr viel mit Goethes "West-östlichem Divan" zu tun, der vor 200 Jahren erschienen ist und eine erste große Annäherung an die orientalische Literatur gewesen ist und an die orientalische Lebensart, Religion, Philosophie, überhaupt alles, und Goethe hat sein Eigenes damit in Verbindung gebracht. Nun sind 200 Jahre vergangen, und die Verbindung zwischen Orient und Okzident hat sich vollkommen verwandelt, und im Lichte dieser Beziehung zu Beginn des 21. Jahrhunderts habe ich jetzt diesen Roman geschrieben, auch wieder als einen Divan, das heißt einer Versammlung, ein Kaleidoskop unterschiedlichster Geschichten und Erfahrungen in Form eines Romans.
Cover des Buches: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts" von Michael Kleeberg
Michael Kleeberg: Der Idiot, der unverfügbar ist für Hass und Kämpfe, ist die zentrale Leitfigur dieses Buches. © Galiani Verlag / imago
Scholl: Man hat Sie bislang ja eher als so dezidiert westlich-europäischen Autor wahrgenommen seit Ihrem Roman "Der Garten des Nordens", Sie haben längere Zeit auch in Frankreich gelebt. Jetzt zeugt Ihr Buch von enormer Kennerschaft des Nahen Ostens auch. Sie sind im Libanon unterwegs gewesen, mehrfach im Iran, in diesem Frühjahr auch. Nach dieser Reise haben Sie in unserem Programm hier bei den Kollegen von "Studio 9" erzählt. Wie wurden Sie zum Orientalen, Herr Kleeberg?
Kleeberg: Ja, das war eigentlich ein großes Lebensgeschenk, das, wie alle diese Lebensgeschenke, dem Zufall zu verdanken ist. Ich wurde im Jahr 2002 ausgewählt, an einem Schriftsteller-Austauschprogramm teilzunehmen, das damals in der Folge des 11. September gestartet wurde, um nahöstliche und deutsche Autoren etwas intensiver ins Gespräch zu bringen mit gegenseitigen längeren Besuchen in der jeweiligen Heimat. So bin ich dann dank dem großen libanesischen Lyriker Abbas Beydoun zum ersten Mal in den Libanon gekommen, und das war tatsächlich wie so die großen Reisen, die man im 19. Jahrhundert gemacht hat, und damals waren das die einzigen Reisen, die man gemacht hat, eine lebensverändernde Erfahrung in jeglicher Hinsicht. Aus dieser ersten Reise haben sich dann viele, viele dutzende andere entwickelt. Ich war oft im Libanon, ich bin durch Syrien gereist, bevor dort der Bürgerkrieg ausgebrochen ist. Ich war in Ägypten, und ich war schließlich, was noch mal eine vollkommen andere Geschichte ist, weil es eben sich nicht um ein arabisches Land handelt, jetzt zweimal in Iran, ebenso eine grundstürzende Lebenserfahrung, und aus diesen 15 Jahren Beschäftigung mit der Region, und natürlich auch Beschäftigung mit mir selbst im Spiegel dieser Erfahrungen, ist dieses Buch entstanden.
Der Autor Michael Kleeberg auf Lesereise im Iran
Der Autor Michael Kleeberg auf Lesereise im Iran.© Copyright: privat

Panorama brennender Probleme unserer Zeit

Scholl: Goethes "West-östlicher Divan" bestand aus Lyrik, eingeteilt in zwölf Bücher. Auch Ihr Divan, Herr Kleeberg, hat zwölf Kapitel, zwölf Geschichten, sind es ganz unterschiedlicher Natur, aber wir hören von Schicksalen aus dem Libanon, wir lesen über Flüchtlinge, aktuelle wie historische, es gibt einen Monolog eines deutschen Salafisten, es gibt Erinnerungen an Terroropfer. Zusammengehalten werden diese Erzählungen durch eine Art deutsches Personal, angesiedelt in Hessen. Zusammen ergibt das ein Panorama von allen, ich würde mal sagen, derzeit im Wortsinn brennenden Problemen unserer Zeit: Krieg, Vertreibung, Flüchtlingsströme, Migration, Integration, Kultur, Versöhnung der Kulturen. War das Ihr Gedanke, so auch so eine Art Zusammenschau zu bilden?
Kleeberg: Ja, ich wollte tatsächlich eine Summe all dieser Eindrücke und Erfahrungen geben, und da hat sich natürlich die Frage gestellt, in welcher Form mache ich das, und die Klammer, die ich gefunden habe, ist, wenn man so will, eine deutsch-orientalische Liebesgeschichte, die wiederum auch auf einem alten großen persischen Urtext basiert, nämlich Nizamis Epos von "Leila und Madschnun", man kann sagen, das orientalische "Romeo und Julia" oder das orientalische "Tristan und Isolde", und ich erwecke diese Figuren sozusagen mit einem deutschen und einer iranischen Protagonistin wieder zum Leben. Und die Geschichte dieses Paares, ihrer Trennung und ihres Wiederfindens ist, wenn man so will, das Rückgrat dieser Geschichte, um das sich alle anderen Geschichten herum gruppieren.
Scholl: Der Titel Ihres Buches fällt einen natürlich sofort an gewissermaßen: "Der Idiot des 21. Jahrhunderts". Da klingelt die Weltliteratur an Sartres "Idiot der Familie" habe ich zuerst gedacht, seine Flaubert-Biografie. Sie sind ja auch ein großer Frankophiler, aber natürlich denkt man auch an Fjodor Dostojewskis großen Roman und seinen unsterblichen Helden Fürst Myschkin. Wer ist Ihr Idiot?
Kleeberg: Ja, es hat tatsächlich ganz direkt mit Dostojewskis Myschkin zu tun, den ich nun wiederum mit diesem persischen Madschnun, was ja auch so viel wie Verrückter, Liebeskranker, in gewisser Hinsicht auch Idiot bedeutet. Ich sehe diese Person, das heißt sowohl meinen Idioten als auch den dostojewskischen, eigentlich als den großen Unverfügbaren an, als einen Menschen, der nicht zu instrumentalisieren ist für die Kämpfe, für den Hass, die über unsere Zeit regieren. Und das Ganze soll ja eigentlich auch sich die Frage stellen, wie können, wie wollen wir in dieser Zeit leben. Das Ganze ist auch eine Utopie vom Zusammenleben, was natürlich auch zu dem Divan-Thema passt, wo sich ja Leute gemeinsam zusammensetzen, um miteinander zu reden, nicht übereinander. Der Idiot, der große Unverfügbare für Hass und Kämpfe ist insofern die zentrale Leitgestalt dieses Buches.

Von der realistischen bis zur orientalisch gefärbten Erzählung

Scholl: Wie sind Sie eigentlich zu den einzelnen Geschichten, die ja sehr disparat verteilt sind, über die Weltgeschichte auch, gekommen?
Kleeberg: Am Anfang in den Jahren, in denen ich eigentlich die Dinge erlebt habe, die Geschichten gehört habe und aufgesammelt hatte, war die große Frage tatsächlich, wie bekomme ich eine Logik da rein. Und die Logik und den Zusammenhang habe ich eigentlich über den Gedanken reinbekommen, ich schaffe einen Ort, an dem sich Menschen treffen, einen geschützten Ort, einen Freundschaftsort, an dem die Protagonisten und Erzähler der einzelnen Episoden gemeinsam sitzen und sich, wie man das so abends tut, wenn man unter Freunden zusammensitzt, gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Da es unterschiedliche Erzähler sind und unterschiedliche Erfahrungen, war es natürlich eine Freude für mich, auch ganz unterschiedliche Stillagen auszuprobieren, also die klassische realistische Erzählung, die orientalisch gefärbte Erzählung, das eher Dialogische, das eher sehr Modern-harte, das ausschweifend Erzählende. Dass das Ganze eben nicht auseinanderstrebt, liegt immer daran, dass wir uns permanent darüber bewusst sind, dass hier eine Gruppe von Freunden zusammensitzt. Einer fängt an zu erzählen, der nächste übernimmt, der Dritte stellt Fragen, und so wird dann eine runde Geschichte draus.

Die Aufgabe des Schriftstellers

Scholl: Lassen Sie uns mal auf ein, zwei Geschichten kommen, Herr Kleeberg. Man ist auch immer nach einer Weile gespannt, was als Nächstes kommt, weil es so überraschend ist und immer wieder was ganz Neues. Im sechsten Buch, das Buch "Daddschal", da gibt es fünf Grabsteine, fünf Miniepisoden sind das von Menschen, die bei Attentaten getötet wurden. Es sind Geschichten, die einem wirklich die Kehle zuschnüren, fünf Schicksale, und ich muss seither immer an Ihr Buch denken, wenn in den Nachrichten mal wieder so nebenbei von 30 Toten bei einem Bombenattentat in Pakistan oder sonst wo berichtet wird. Kommen da die Grabsteine her?
Kleeberg: Die Grabsteine kommen eigentlich daher, dass genau das die Aufgabe des Schriftstellers ist, dem anonymen Horror, den wir aus den Medien heraushören, ohne ihn eigentlich wahrzunehmen, ein individuelles Gesicht zu geben. Darum geht es ja im Endeffekt in der Literatur: Geschichten über Menschen zu erzählen, über Individuen, und wenn man eben irgendwo hört, Attentat, Autobombe, 30 Tote, dann ist man mit der Zeit schon so abgestumpft, dass man darüber hinweggeht. Aber wenn man hört, da gab es ein sechsjähriges Mädchen namens Soundso mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren, die gerade über die Straße gegangen ist, um einen Kanarienvogel im Käfig für ihre kleine Schwester zu holen, dann macht es Bamm! Dann ist das was anderes. Das heißt, es geht darum, die Würde dieser Menschen zu bewahren, indem man eben ihre eigenen Geschichten erzählt.
Scholl: In anderen Geschichten wird es direkt politisch. Zum Beispiel wird ein deutscher Unternehmer ruiniert, der im Iran Geschäfte macht, weil er auf eine schwarze Liste der US-Regierung kommt. Ich meine, diese Episode haben Sie noch lange vor dieser Eskalation durch Donald Trump und der Aufkündigung des Atomabkommens geschrieben, Herr Kleeberg. Jetzt liest sich es wie der Kommentar zu unserer Tagespolitik.
Kleeberg: Ja, bitter genug, aber das basiert tatsächlich auf einer wahren Geschichte, die vor einigen Jahren geschehen ist. Es gab also auch schon diese US-schwarzen Listen vor Donald Trump. Der hat sie nicht erfunden, der reaktiviert sie jetzt noch, und das Irrsinnige, das Empörende daran ist ja, dass hier in diesem Fall und in dieser wahren Geschichte ein deutscher Staatsbürger in Deutschland quasi zu Tode gehetzt wurde, ohne dass irgendein Gesetz, irgendeine Behörde, irgendein Organ ihn vor der Verfolgung dieser ausländischen Macht schützen hätte können oder wollen.
Scholl: Lassen Sie uns noch kurz auf die vielen literarischen Bezüge Ihres Buches kommen. Sie gelten ja als ausgesprochener Poeta doctus, Herr Kleeberg, so als gelehrter Autor, und haben schon die verschiedenen Stillagen dieser verschiedenen Kapitel angesprochen. Es weht auch noch ein anderer Ton oder noch andere Töne durch diesen Roman, zum Beispiel ein Thomas-Mannscher biblischer Ton von seinen Josephs-Romanen getragen. Ich meine auch, ich hätte den anderen großen Klassiker Hermann Hesse und seine pädagogische Provinz des "Glasperlenspiels" herausgehört, diese Zone jetzt nach Hessen verlegt. Wer Sie kennt, Herr Kleeberg, weiß, dass Sie gerade mit diesen beiden Autoren sich viel beschäftigen und sie auch schätzen. Sind das Bezüge, die Sie mit Absicht eingearbeitet haben?
Kleeberg: Alle literarischen Bezüge, die man als kleines Schmankerl lesen kann, aber nicht kennen muss, sind natürlich ganz bewusst da drin. Die beiden, die Sie angesprochen haben, gehören irgendwie ganz direkt in diesen Rahmen rein, weil gerade die Josephs-Romane von Thomas Mann als großes Menschheitsepos darüber, wie man, wie es bei Thomas Mann selbst heißt, eine schöne Geschichte schön erzählen kann, in der Gott und Mensch einander zum Besseren erheben. Die hessische Seite kommt einmal ganz besonders hervor, weil es einen Text von Hesse gibt, der mich immer beeindruckt hat – da sind wir wieder bei Myschkin und der Unverfügbarkeit. Er hat gesagt: Ich werde mich – es war zur Zeit des Ersten Weltkriegs –, ich werde mich niemals instrumentieren lassen und anfangen, in den Hasschören mitzuschreien und zugeben, dass etwa die Poesie weniger wichtig sei als die Waffen.
Scholl: Thomas Mann hat seine Josephs-Tetralogie in der Zeit des Faschismus geschrieben, auch mit dem Ziel, den Dunkelmännern den Mythos aus der Hand zu nehmen und ihn wieder zu humanisieren, wie er es genannt hat. Hermann Hesses "Glasperlenspiel" ist '43 erschienen, war ebenfalls ein Werk so zur kulturellen Versöhnung. Soll man Ihr Buch auch so lesen, Herr Kleeberg?
Kleeberg: Das ist jetzt eine große Frage, und da stellen Sie mich jetzt in eine Tradition hinein, bei der ich erstmal zögern würde, mich einzuordnen, weil es ja so aussieht, als wäre die Lage zumindest in Deutschland nicht so dramatisch, wie sie damals war. Aber selbstverständlich versucht man als Autor, der sich so ein Lebensthema vornimmt, natürlich schon auch, die Gegenden zu erkunden, wo es darum geht, wo bleibt das Humane, wie können wir menschlich miteinander umgehen, wie können wir in diesen schwierigen Zeiten nicht verlernen, uns wie menschliche Wesen zu benehmen, und was gehört dazu. Darum dreht sich der Roman natürlich in jeder Faser. Klar.
Scholl: Danke, dass Sie bei uns waren! Alles Gute Ihnen, Michael Kleeberg!
Kleeberg: Besten Dank!
Scholl: Und das neue Buch "Der Idiot des 21. Jahrhunderts: Ein Divan" von Michael Kleeberg erscheint im Galiani-Verlag, am kommenden Montag ist es in den Buchläden mit 464 Seiten Umfang zu 24 Euro.
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