Michael Köhlmeier: „Die Verdorbenen“

Postmoderner Existenzialismus

05:24 Minuten
Buchcover mit der Aufschrift: Die Verdorbenen, darauf das gemalte Bild eines Mannes.
© Hanser Verlag
Die VerdorbenenHanser, Berlin 2025

160 Seiten

23,00 Euro

Enno Stahl |
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Wie versiert Michael Köhlmeier als Erzähler ist, zeigt er erneut in seinem Roman „Die Verdorbenen“, einer existenzialistischen Studie über die Natur des Bösen, die nichtsdestotrotz einen autobiographischen Hintergrund aufweist.
Michael Köhlmeier ist ein ziemlich durchtriebener Autor. Seine Texte sind anspielungsreich, sie legen falsche Fährten und warten mit Finten auf, deren Sinn sich nicht immer gleich erschließt. Sein neuestes Werk „Die Verdorbenen“ ist eine Studie über das Böse ohne Sinn. Der Ich-Erzähler Johann ist ein junger Student in Marburg. Gleich am Beginn des Romans steht ein ebenso unvermutetes wie verstörendes Bekenntnis dieser ansonsten reichlich eigenschaftslosen Figur. Als Sechsjähriger wurde Johann nämlich von seinem Vater gefragt, was er sich im Leben wünsche:

Wie ich dreinschaute, meinte er, ich hätte ihn nicht verstanden, und präzisierte: "Etwas, was du auf alle Fälle wenigstens einmal in deinem Leben tun willst." (…) "Überleg es dir gut", sagte er. "Morgen frag ich dich noch einmal." Ich hätte es ihm gleich sagen können. Aber es war etwas, das man nicht sagen, das man nur denken darf. So viel wusste ich bereits von der Welt. Die Antwort hätte gelautet: Einmal in meinem Leben möchte ich einen Mann töten.

Die Richtung ist damit vorgegeben, auch wenn jedenfalls zu Anfang Gewalt keine Rolle spielt. Johann irrt durch ein Leben, das er nicht recht versteht, auch nicht recht haben will. Gleichzeitig ist das Buch eine versteckt ironisch aufgeladene „Coming-of-Age“-Geschichte, die von Johann im Rückblick erzählt wird, 40 Jahre nach den geschilderten Ereignissen. Sein Blick auf sich selbst ist ungerührt und lakonisch:

Mir war langweilig. Zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr war mir langweilig, und an den Vormittagen hatte ich Kopfschmerzen.

Vexierspiele und Finten

Ein weiteres Vexierspiel Köhlmeiers ist die Tatsache, dass er seiner Hauptfigur Johann einige Merkmale der eigenen Biografie mitgibt, etwa das Studium der Germanistik und Politischen Wissenschaft in Marburg, verbunden mit intimer Ortskenntnis. So wirkt die zutiefst amoralische Geschichte wie ein sarkastischer Kommentar zum autofiktionalen Trend in der Literatur. Die Handlung ist schnell erzählt: Johann kommt mit Kommilitonin Christiane zusammen, die seit ihrer Kindheit mit Tommi liiert war. Es entwickelt sich eine Dreiecksbeziehung: Johann zieht bei Tommi und Christiane ein. Zu Dritt schlafen sie in einem Bett, wo Tommi Zeuge ihrer Liebesspiele wird. In Wahrheit empfindet Johann aber gar nichts für Christiane, und sie womöglich auch nicht für ihn.

Mir fiel nichts ein, was ich gern zusammen mit Christiane tun würde, außer mit ihr ins Bett zu gehen, und selbst darüber war ich mir nicht mehr sicher: Ob ich auch das nicht schon durchhätte. Nach dem Sex schlafen, nach dem Schlaf Sex, dann wieder Schlaf, dann wieder Sex, dazwischen lesen, sonst nichts – eine andere Rettung schien es für uns nicht zu geben.

Totschlag in Oostende

Johann bricht aus dieser Situation mehrfach aus, kehrt immer wieder zurück. Irgendwann hebt er all sein Geld ab, bestiehlt seine Eltern und bricht mit seinen Reichtümern auf nach Oostende. Dort wird er im Schlaf überfallen, er wehrt sich und erschlägt den Angreifer, den er an sich bereits überwältigt hatte. Sein heimlicher Kindheitswunsch hat sich damit erfüllt. Nach einigen Tagen des Leerlaufs kehrt er nach Marburg zurück, findet Tommi in einer Blutlache, ermordet von Christiane. Johann nimmt die Schuld auf sich. In Untersuchungshaft fällt er in ein heftiges Fieber. Als er daraus erwacht, gibt ein eigenartiger Polizist oder Staatsanwalt ihm zu verstehen, dass er Johanns Geständnis als Lüge durchschaut. Aber nicht nur das, er blickt Johann auf den Grund der Seele:

Verdorben und zugleich unschuldig, so einer bist du. Und das wird immer so bleiben durch dein ganzes Leben. (…) Das gibt es. Aber es klingt interessanter, als es ist. Du bist kein Held der Liebe. Solche sind immer irgendwie schuldig. Du aber bist ein durch und durch und von allem Anfang bis in Ewigkeit Unschuldiger, und das ist fürwahr das Widerlichste, wozu es ein Mensch bringen kann.

Das Böse und die Langeweile

„Die Verdorbenen“ erzählt die Geschichte einer heillosen, seltsam stummen Anti-Liebe. Dass Johann die Schuld für den Mord an Tommi auf sich nimmt, erscheint schwer verständlich. Vielleicht ist es ein moralischer Reflex, um den ungesühnten Totschlag aus Oostende zu kompensieren. Der Roman atmet die flirrende Unwägbarkeit eines französischen Nouvelle-Vague-Films, in dem die Personen stets Unerwartetes tun, ohne dass man genau weiß, wieso.
Der brillant erzählte und souverän durchkomponierte Text wartet mit einem postmodernen Augenzwinkern und zahlreichen literarischen Verweisen auf. Dem exemplifizierten Bösen gebricht es bei Köhlmeier an schillernder Faszination, es ist vielmehr eine bloße Folge des Ennui. Gerade das aber macht die Qualität des Romans aus. Das Böse hier macht nicht glücklich, es bereitet noch nicht einmal Spaß. Vielleicht ist das Buch also in Wahrheit ein ethisches Statement, nur spiegelverkehrt.
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