Michael Ondaatje: Kriegslicht. Roman
Aus dem Englischen von Anna Leube
Hanser Verlag, München 2018
320 Seiten, 24 Euro
Ein Doppelleben im Kalten Krieg
In "Kriegslicht" von Michael Ondaatje werden Nathaniel und seine Schwester von ihrer Mutter 1945 in London zurückgelassen. Jahre später forscht der Sohn ihr nach – der Agentin im Kalten Krieg. Ein packender Roman von der ersten bis zur letzten Seite.
"Kriegslicht" ist der achte Roman von Michael Ondaatje, dem kanadischen Autor mit familiären Wurzeln in Sri Lanka, England und Holland, der 1993 mit dem verfilmten Bestseller "Der englische Patient" zu Weltruhm kam. Der Roman ist eine verstörende, finstere Geschichte voller Ungewissheiten und Zweifel, voller Rätsel, Trug, Täuschung und Verrat.
Der Erzähler ist Nathaniel, ein junger Mann Ende 20, der im Jahr 1959 auf das Weltkriegsende 1945 zurückblickt, das er als Vierzehnjähriger in London erlebte, ohne zu begreifen, was damals rings um ihn geschah. "Kriegslicht" ist ein Coming-of-Age-Roman im Gewande eines Agenten-Thrillers, aber auch eine Initiationsgeschichte. Der junge Held wird gleichermaßen in die Sexualität eingeführt wie auch in die Schattenwelt der Geheimdienste.
Die Eltern verschwanden
Bereits Ondaatjes erster Satz packt den Leser und wird ihn 300 Seiten lang nicht mehr loslassen: "Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren." Die Eltern haben ihre Kinder im Stich gelassen und sind sonstwohin verschwunden. Damit stürzt das Grundvertrauen der Kinder in die Erwachsenen-Welt ein. Fortan gibt es für sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen. Auf nichts, was ihnen erzählt wird, ist Verlass. Sie fühlen sich permanent beschwindelt.
Der Roman ist sehr passend in eine dämmrige Düsternis getaucht durch das titelgebende Kriegslicht, die Verdunkelung Londons während des "Blitz" zum Schutz gegen deutsche Bombenangriffe. Nathaniel und seine Schwester bewegen sich nicht bloß durch das nächtige London, sie tappen als Kinder auch ganz buchstäblich im Dunkeln.
Wächter und Beschützer
Im ersten Teil des Romans, 1945, herrschen nur Anarchie, Improvisation und Verwirrung. Das Leben der Geschwister erscheint dirigiert von zwei zwielichtigen Männern mit obskuren Decknamen: "Der Falter" und "Der Boxer". Ihr elternloses Elternhaus füllt sich mit zweifelhaften Fremden. Erst Jahre später wird Nathaniel entdecken, dass der Falter als sein informeller Vormund eingesetzt war und dieses Amt mit seinem Leben bezahlte, und dass alle diese unerklärt auftauchenden Fremden in Wahrheit Mentoren-Figuren waren – als Wächter und Beschützer bestellt von ihrer fernen Mutter Rose.
Der Boxer wird zu einer Art Vaterfigur für den Jungen. Er zieht ihn in die aufregende nächtliche Abenteuerwelt seiner lichtscheuen Geschäfte hinein, darunter Sprengstoff-Transport und Schmuggel von Windhunden für illegale Hunderennen. Die vielen Fingerzeige, die auf die Schattenwelt der britischen Geheimdienste deuten, erschließen sich dem erwachsenen und systematisch nachforschenden Nathaniel erst in der Retrospektive.
Roses Doppelleben
Erst zehn Jahre nach dem Tod der Mutter gelingt es ihm, aus vagen Anhaltspunkten, beiläufig aufgeschnappten Andeutungen und viel nachträglicher Archivarbeit das Lebensrätsel der Mutter zu entschlüsseln und sich ein Bild zu machen von Roses Doppelleben als britische Geheimagentin im Kampf erst gegen Hitler-Deutschland und dann gegen versprengte Faschisten-Gruppen auf dem Balkan.
Halb erträumt sich Nathaniel das Leben seiner Mutter, halb muss er sich ihr Puzzle-Bild aus den fragmentarischen Auskünften von unzuverlässigen Leuten zusammensetzen, die alle nicht sind, was sie scheinen. Erst nach ihrem Tod kann er der Mutter den Treubruch an ihren Kindern verzeihen, begangen im Dienste einer übergeordneten politischen Loyalität – zumal ihm auch die Augen geöffnet werden für einen Treubruch, den er selbst unwissentlich begangen hat.
Raffinierte Erzähltechnik
Ondaatjes Erzählstil entspricht perfekt dem moralischen Zwielicht seiner Geschichte. Er setzt auf eine raffinierte Technik von zerstreuten und scheinbar disparaten Erzählsplittern, von halben und verzögerten Enthüllungen. Ganz beiläufig und nebenher werden Dinge erwähnt, die erst viel später erzählt werden. Dinge, die absehbar sind, erledigt Ondaatje in einem Satz oder setzt sie im folgenden Kapitel bereits als geschehen voraus. All dies erfordert die ganze Aufmerksamkeit des mitdenkenden und eigene Schlüsse ziehenden Lesers. Doch seine Aufmerksamkeit wird durch diesen meisterlichen Text mehr als belohnt.