Michael Schindhelm über "Letzter Vorhang"

"Gewisse Sympathie" für Dercons Volksbühne-Pläne

Michael Schindhelm, deutscher Autor, Kulturberater und Theaterintendant, aufgenommen am 08.10.2014 in Frankfurt am Main
Michael Schindhelm, deutscher Autor, Kulturberater und Theaterintendant, aufgenommen am 08.10.2014 in Frankfurt am Main © picture alliance / dpa / Erwin Elsner
Moderation: Andrea Gerk |
Der neue Roman von Michael Schildhelm mit dem Titel "Letzter Vorhang" erzählt die Geschichte eines Berliner Theatermannes. Das habe auch mit den Volksbühnen-Querelen zu tun, verrät der Autor im Interview. Aber nicht nur damit.
Andrea Gerk: "Letzter Vorhang" heißt der letzte Roman von Michael Schindhelm. Darin erzählt er vom Untergang eines Theatermanns. Matthias Pollack ist Chefdramaturg am Berliner Liebknecht-Theater. Gerade hat ihn seine Freundin verlassen. Er hat die 463. und letzte Vorstellung von "Einer flog über das Kuckucksnest" vor sich, und überhaupt wird das Theater bald abgewickelt und von einem Kulturmanagertypen, genannt der Kleinschreiber, übernommen werden.
Wer ein bisschen verfolgt hat, was sich im Kulturleben der Hauptstadt abspielt, denkt sofort an das Gezänk um die Berliner Volksbühne und ihren künftigen Chef Chris Dercon. Michael Schindhelm kennt beide Seiten. Er hat Theater in Thüringen und in Basel geleitet, auch die Berliner Opernstiftung. Er ist seit vielen Jahren Kulturberater in aller Welt, von Dubai bis Moskau, und hat zahlreiche Bücher geschrieben. Jetzt ist er hier bei mir im Studio. Guten Tag, Herr Schindhelm!
Michael Schindhelm: Hallo, schönen guten Tag!
Gerk: Ihr Buch kommt ja tatsächlich zumindest terminlich genau zum Volksbühnen-Ende richtig. War das so geplant? Ist das für Sie auch so eine Volksbühnen-Satire, wie es angekündigt ist?
Schindhelm: Ja, vielleicht oberflächlich schon. Zumindest der Anlass, über das Theater in Deutschland und Berlin nachzudenken, ist schon die Tatsache gewesen, dass es diese Tumulte vor ungefähr zwei Jahren gegeben hat bei der Ankündigung, dass Chris Dercon die Volksbühne übernehmen soll. Und wenn ich das richtig beobachtet habe, dann haben die Tumulte ja nie so richtig aufgehört seitdem.
Vor der Volksbühne in Berlin sitzen und stehen am 21.05.2017 zahlreiche Besucher. An dem Theater wird Abschied von der Intendanz von Frank Castorf gefeiert.
Volksbühne in Berlin: Tumulte, die nicht aufhören© imago stock&people
Insofern ja, es gibt sicherlich schon oberflächlich diesen Zusammenhang. Aber was mich eigentlich interessiert hat, ist, irgendwie zu versuchen, mich wieder damit zu beschäftigen, wo ich eigentlich herkomme. Man müsste vielleicht darauf zu sprechen kommen, dass ich mal vor inzwischen fast 20 Jahren einen Roman geschrieben habe, "Roberts Reise", in dem es unter anderem über die Hauptfigur heißt, "Ich bin ein Keinheimischer".

Pollack ist Ur-Berliner und Theaterkind

In gewisser Weise ist ja Matthias Pollack jemand, der eine Heimat hat oder sogar vielleicht zwei Heimaten. Er ist sicherlich ein Ur-Berliner, und er ist auch ein Theaterkind – er ist mehr oder minder buchstäblich im Theater geboren, seine Eltern waren schon Theaterleute – und hat sein ganzes Leben in diesem Theater verbracht, mit Ausnahme seiner Militärzeit als Bausoldat an der Ostsee auf der Insel Rügen.
Das ist also ganz anders als bei mir. Und das interessiert mich immer wieder auch gerade an Deutschen heute, weil ich eben jemand bin, der wahrscheinlich so Heimat auch nie empfunden hat, weder in der alten DDR noch im neuen Deutschland und übrigens auch nicht im Theater. Das heißt also, jemand, der Heimat verliert, ist vielleicht das interessante Thema im Gegensatz zu dem, der keine hat, wie es sozusagen die Hauptfigur meines ersten Romans betraf.
Gerk: Kommt denn auch daher, dass das, wie Sie es am Ende nennen, Heimat, dass das Theater eben Heimat und konkreter Ort zugleich ist und Sie das ja auch in dem Buch sehr schön zeigen? Man riecht ja richtig die Gerüche der Kantine. Ist das ein Grund, warum es dann eben so was wie jetzt diese Volksbühnen-Auflösung zu solchen Eklats führen kann, dass die Leute da einfach in einer Weise verwoben sind, die wir von außen so gar nicht nachvollziehen können?
Schindhelm: Das ist auf alle Fälle so, davon bin ich fest überzeugt, und das sollte man auch nicht unterschätzen und auch nicht so ohne Weiteres wegwerfen.

Theater als stärkste Ausdrucksform von Kunst

Ich glaube, die Attitüde, zu sagen, das ist einfach von gestern oder das ist sozusagen überholt, die Leute haben immer noch nicht verstanden, in welcher Zeit wir eigentlich leben – so kann man natürlich über die Dinge auch handeln. Aber ich denke, auf der anderen Seite geht es nicht nur darum, eine Vergangenheit aufrechtzuerhalten, sondern Theater in Deutschland ist eben, wenn Sie so wollen, vielleicht die stärkste Ausdrucksform von deutscher Kunst, ebenso wie die Musik, und Ergebnis ist eben eine bestimmte Struktur, zu der auch bestimmte Formen des Zusammenlebens gehören.
Das Theater ist eine bestimmte Form des sozialen Zusammenlebens in Deutschland, wie es meiner Meinung nach nirgendwo auf der Welt das noch mal gibt, schon gar nicht hier irgendwie in der Nähe in Europa. Das heißt also, es ist eigentlich eine Lebensform in gewisser Weise, am Theater zu arbeiten, egal, ob man Musiker, ob man Inspizient, Bühnenbildner, Komponist, Schauspieler oder Pförtner ist. Und viele von diesen Figuren kommen ja auch in meinem Buch vor, und, wie sich hoffentlich auch mitteilt, mit viel Sympathie gezeichnet, weil, das waren eigentlich die Menschen, die man oft auf der Bühne nicht sieht, die aber gleichzeitig eigentlich den Rückhalt bilden und das, was man eben Heimat nennt in einem sozialen Sinn des Wortes.
Gerk: Das heißt, man könnte es eigentlich austauschen, das ist ein Biotop, das an jedem Theater so tobt. Wenn man jetzt sagt, das ist die Volksbühne, ist das eigentlich eine Projektion.
Schindhelm: Ich muss sogar sagen, ich habe die Volksbühne so gut gar nicht gekannt. Ich kannte Frank Castorf ganz gut, er hat auch bei mir in Basel seine erste Oper inszeniert vor inzwischen ziemlich genau 20 Jahren. Ansonsten hatte ich – Bert Neumann zum Beispiel war ein Freund, und natürlich Christoph Schlingensief, und andere haben bei mir früher auch in Basel gearbeitet. Ich kannte die Künstler, auch einige der Schauspieler, Herbert Fritsch und andere, die ja noch früher in Basel waren. Matthias Lilienthal, als sie nach Berlin gekommen sind ans Theater. Insofern gibt es eine lange Geschichte.

Die Volksbühne als Apparat

Und dennoch ist es so, dass ich eigentlich die Volksbühne als Apparat im Grunde genommen nie kennengelernt habe. Ich habe da nie gearbeitet. Ich habe auch sonst an einem Theater, an einem Sprechtheater in Berlin nie gearbeitet. Dennoch behaupte ich, dass ich mir das Milieu sehr gut vorstellen kann, weil es tatsächlich paradigmatisch ist für das gesamte Theatersystem, egal, ob man in die Provinz geht oder in die Hauptstadt.
Darüber hinaus würde ich sagen, ist es auch so, dass ich fest davon überzeugt bin, das wird sich auch gar nicht ohne Weiteres ändern lassen. Wir haben im Grunde genommen ja schon nach der Wende immer wieder gehört, dass das Theatersterben beginnen würde. Wenn Sie mal genau hingucken, sind so viele Theater gar nicht gestorben.
Traurigerweise hat Berlin sehr früh das Schiller-Theater geschlossen, aber ansonsten ist ja noch sehr vieles da, auch wenn heute weniger Geld da ist und vielleicht mehr gearbeitet werden muss.
Man sieht, dass diese Lebensform alles in allem erhalten geblieben ist, und das finde ich eigentlich das Wichtige daran. Und das wird auch der entscheidende Punkt sein, an dem sich sicherlich der künftige Intendant der Volksbühne wird messen lassen müssen.
Gerk: Sie sind ja in dem Buch, hatte ich den Eindruck, gar nicht so entschieden auf einer Seite. Sie beschreiben, finde ich, auch sehr liebevoll und mit Klischees eigentlich, hat man das Gefühl, aber das Theater ist tatsächlich so, denke ich auch, wenn man es ein bisschen von innen kennt, weiß man, dass da tatsächlich das Klischee oft die Wirklichkeit noch übertrifft, oder umgekehrt.
Und ich hatte den Eindruck, dass dieser Kleinschreiber, so nennen Sie ihn in dem Buch, der da auftaucht und eben ein bisschen an so einen Typus Chris Dercon erinnert, dass der auch nicht so das Böse bei Ihnen ist, genauso wenig, wie die anderen nicht die vertrottelten Bewahrer von irgendwas Altem sind. Wo stehen Sie denn in diesem Konflikt? Denn Sie sind ja eigentlich eher so ein Eventmacher, also das, was man inzwischen, das, was man dem Dercon vorwirft.

Skeptisch gegenüber dem Event

Schindhelm: Ich bin kein Eventmacher. Das würde ich nicht behaupten. Ich habe nie ein Festival geleitet oder auch sonst nicht andere Leute dazu animiert, Events zu machen, sondern ich mache heute meine Filme und Sachen im öffentlichen Raum, und würde mich auch eigentlich nicht mehr als Kulturberater bezeichnen. Das bin ich mal kurze Zeit gewesen. Da ging es darum, eine Regierungsbehörde aufzubauen in Dubai, und das fand ich eine sehr spannende und ganz neue Aufgabe.
Ich bin schon auch nicht unskeptisch gegenüber dem Event, aber das will ich jetzt gar nicht hier zum Thema machen, weil das die Sache verkürzen würde. Ich habe zumindest natürlich eine gewisse Sympathie auch für das, was Chris Dercon vorhat, weil wir kennen uns auch gut seit vielen Jahren. Wir haben sehr viele gemeinsame Bekannte auch hier in der Stadt, von Ai Wei-Wei angefangen.
Ich muss einfach sagen, dass ich natürlich nirgendwo anders stehen kann als außerhalb davon, weil ich nicht mehr dazugehöre. Ich möchte mich auch nicht darüber stellen und sagen, ich wüsste es besser. Ich möchte auch nicht in der Haut von einem regierenden Bürgermeister oder einem Kultursenator stecken, der in dieser Situation handeln muss.

Berlin ist nicht Paris und nicht London

Denn ich denke, dass Berlin irgendwie auch immer einer Zerreißprobe ausgesetzt ist, wenn solche Fragen anstehen, denn die Stadt ist eben nicht wie Paris, ist eben nicht wie London, und man sollte auch nicht dorthin schielen, um zu versuchen, so zu werden wie Paris und London. Man kann weder das 19. Jahrhundert nachholen noch das 20. vergessen machen.
Berlin hat seine eigene Geschichte mit seinen eigenen Katastrophen und Wiedererfindungen, und das macht diese Stadt wirklich extrem faszinierend in vielerlei Hinsicht. Und dazu gehört diese spezielle Lebensform. Und ich glaube, wenn der Chris Dercon das versteht, dann wird davon auch viel erhalten bleiben.
Chris Dercon, neuer Intendant der Berliner Volksbühne, auf dem Flughafen Tempelhof in Berlin
Chris Dercon, neuer Intendant der Berliner Volksbühne© dpa / Jörg Carstensen
Worum es mir eigentlich ging, war, noch mal zu beschreiben, wie Entfremdung auch über einen längeren Zeitraum passieren kann, am Beispiel dieser Figur. Der Mensch, der da im Vordergrund steht dieses Buches, ist ja vor allen Dingen jemand, der auch im Theater sich geschützt hat vor einer neuen Realität. Auch das muss man natürlich dazu sagen: Theater sind oftmals auch Schutzorte gewesen gegenüber einer sich verändernden Realität. Und wenn das zu weit führt, dann ist das Theater natürlich auch in der Gefahr, irgendwie sich auszuspielen und nicht mehr relevant zu sein.
Gerk: Da kommt ja auch wahrscheinlich dieses große Beharrungsvermögen vieler großer Intendanten her, dass auch irgendeine gewisse Form von Bewegungslosigkeit eintritt. Und wenn einer von außen kommt, der nicht in dieses Intendantenkarussell gehört wie jetzt Chris Dercon, das natürlich zu großen Irritationen führt.

Projektionen gibt es nicht nur am Theater

Schindhelm: Ja, ich kenne das sehr gut. Als ich angefangen habe, war ich ja schon 30, und ich bin da zwar auch gleich Intendant geworden, aber im Grunde genommen war ich jemand, der völlig von außen kam, Naturwissenschaftler. Ich kenne also diese Projektionen, und ich habe ja inzwischen ich glaube zehn verschiedene Berufe ausgeübt und immer wieder diese Projektionen erlebt. Das ist also auch nichts Spezifisches nur im Theater.
Ich glaube, dass das immer eine besondere Reserve an Großzügigkeit und auch Leidenschaft bei demjenigen voraussetzt, der diese Art von Wagnis eingeht und sozusagen den Umstieg oder den Neueinstieg wagt. Je älter man ist, desto schwieriger wird das. Ich kann mir vorstellen, dass Chris auch mit viel mehr Gegenwind leben muss, als er erwartet hat. Aber das gehört möglicherweise auch dazu, und das kann auch gerade stimulierend sein für den Anfang.
Gerk: Ihr Protagonist steigt ja am Ende aus und zieht dann nach Göhren und fängt quasi ein neues Leben außerhalb des Theaters an. Er macht noch ein bisschen Lesungen – findet er da eine neue Heimat? Ist das so ein bisschen ihr Alter Ego? Sie haben ja auch einen Ausstieg aus diesem Theaterzirkus probiert oder geschafft.
Schindhelm: Im Gegensatz zu ihm habe ich im Grunde genommen aber keine Heimat gesucht und auch nicht wirklich gefunden. Ich lebe heute zwar seit elf Jahren in Lugano unter anderem, aber gerade die Hälfte meiner Zeit in Südostasien und habe früher viel in China gearbeitet. Sie haben schon Dubai oder Russland erwähnt.
Hier geht es eigentlich um was anderes. Wie gesagt, der Mann hat eine Heimat verloren und ist aber offensichtlich jemand, der sein Leben mit Heimat verbracht hat. Und kurioserweise zieht er an einen Ort zurück, wo er seine Kindheit im Pionierferienlager verbracht hat.
Das Pionierferienlager ist aufgelöst, aber die Bungalows bestehen noch, und er bezieht also einen, also in gewisser Weise könnten Sie sogar von einer Gentrifizierung sprechen von einem Berliner Künstler. Davon gibt es ja einige dieser Art an der Ostsee heute.

Offene Beziehung zur Welt

Er spielt zwar das letzte Band von Beckett im Theater Putbus, aber was eigentlich wichtiger ist, ist, dass er vor allen Dingen wieder eine offene Beziehung zur Welt hat, übrigens auch zu einer Frau, die er aus dem Theater kennt. Und das heißt also, er hat irgendwie vor, ein neues Kapitel zu beginnen, das wahrscheinlich ganz anders ablaufen wird als das soziale Umfeld des Theaters.
Aber er hat sich sozusagen nicht zurückgezogen und aufgegeben, sondern er ist nach wie vor das, was er ist. Er ist ein Schauspieler und ein Theatermensch.
Gerk: Also, wenn der letzte Vorhang gefallen ist, geht das Theaterstück erst so richtig los.
Schindhelm: Möglicherweise.
Gerk: Michael Schindhelm, vielen Dank für dieses Gespräch!
Schindhelm: Danke Ihnen!
Gerk: Der Roman "Letzter Vorhang" ist beim Verlag Theater der Zeit erschienen und kostet 19,50 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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