Michael Stavarič: "Fremdes Licht"

An Gott wird kein Gedanke verschwendet

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Buchcover "Fremdes Licht" von Michael Stavarič. Zu sehen ist eine grafische Darstellung eines alten Holzschiffes, das zwischen Eisschollen eingeklemmt ist.
Der Autor fabuliert von abgeschmolzenen Eisgebieten und interstellaren Raumschiffen. Bodenhaftung garantiert der Rekurs auf das kulturelle Erbe der Inuit. © Luchterhand Literaturverlag
Von Sigrid Brinkmann |
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Michael Stavarič hat mit "Fremdes Licht" ein phantasmagorisches Leseabenteuer geschrieben. Der Roman erzählt von Polarexpeditionen, von der Wiederbelebung einer klinisch toten Frau und er verrät, wie seelisches Überleben gelingt.
Hatte Michael Stavarič 2017 in seinem Roman "Gotland" die schwedische Insel zum idealen Raum für das Geschichtenerzählen "über Gott und den Erdkreis" stilisiert, so katapultiert er die Protagonistin seines jüngsten Werkes – eine Genforscherin mit Interesse an Methoden der Kältekonservierung verstorbener Menschen – einfach hinaus aus der Welt. Im 24. Jahrhundert auf einem eisigen Himmelskörper gelandet, verschwendet sie keinen Gedanken an Gott, wohl aber an die Überlebenspraktiken der Grönland-Inuit.
Um deren Lebensweise und Wissen geht es im zweiten Teil dieses grandiosen Epos. Stavarič beschwört darin eine Expedition des Polarforschers, Zoologen und Friedensnobelpreisträgers Fridtjof Nansen und eine Schiffspassage über den Nordatlantik. Mit an Bord ging eine junge Inuit, die 1893 die Weltausstellung in Chicago besuchte und in die Fänge eines Hotelbesitzers und Serienmörders geriet. Auch die Existenz des Killers Henry Howard Holmes ist geschichtlich verbrieft.

Sprachbilder der Inuit

"Fremdes Licht" ist ein phantasmagorisches Erzähl- und Leseabenteuer. Stavarič fabuliert von "Lichtkriegen" und abgeschmolzenen Eisgebieten, interstellaren Raumschiffen und Exoplanetenmissionen. Bodenhaftung garantiert der Rekurs auf das kulturelle Erbe der Inuit. Stavarič, selbst ein wortmächtiger Erzähler, liebt ihre Ausdruckswelt ganz offenkundig.
Auch bewundert er die Ehrfurcht der Eisbewohner vor den Tieren und Elementen. Ist jemand "eine ausgemachte Kaltfront", so gilt er als verrückt. Wird ein Jäger von einem Eisbären gefressen, so ehrt man ihn, indem man sagt: "Oh ja, ich sehe wohl, wie du stirbst, wie gut, das zu hören". Die Sprachbilder und Spruchweisheiten der Inuit sind in Originalschrift abgebildet. Kursiv neben die Dreiecke, Striche und Halbkreise gesetzt liest man die phonetische Transkription. Beides zusammen, ein poetischer Blickfang.
Geschickt unterfüttert Michael Stavarič seine Fantasie von der Landung auf einem "durchgefrorenen Weltraumklumpen" mit Notizen zu tatsächlich durchgeführten wissenschaftlichen Experimenten. Und leichthändig flicht er in seine Betrachtungen über das Leben in extremer Kälte aufsehenerregende Ereignisse wie die Wiederbelebung der 1999 im Eis verunglückten Schwedin Anna Bågenholm ein. Die Kerntemperatur ihres Körpers war auf 13,7° Celsius gesunken und doch gelang es Ärzten, die klinisch tote Frau zu erwärmen und ohne gravierende Schäden ins Leben zurückzuholen. Man entdeckt immer wieder fein eingesponnene Nebengeschichten und entscheidet selber, ob man den ganzen Kontext entdecken will.

Eine bizarre, beklemmende Welt

Existenziellen Fragen räumt der Autor in jedem seiner Romane Raum ein. In "Fremdes Licht" schlägt sein ironischer Sinn voll durch. So hatten die privilegierten "Erdflüchtlinge" vor der Kryokonservierung die Frage zu beantworten, wer sie wirklich seien. Ein 69-jähriger, österreichischer Pilzzüchter antwortete: "Gestern war ich Wasser, heute Sprache", eine niederländische Matrosin "Ich bin eine Frau, deren Füße schmerzen".
Zieht einen Teil Eins dieses endzeitlichen Romans tief hinein in eine bizarre, beklemmende Welt, so beglückt die zweite Hälfte mit Aufbruchsgeschichten einer historischen Forschungsreise und den Aufzeichnungen einer grönländischen Inuit. Die Fülle an Detailwissen, das Michael Stavarič beim Schreiben dieses Romans akkumuliert hat, ist bestechend. Dieses hyperkomplexe Textgebilde mit der wahren Erkenntnis zu krönen, dass es zum seelischen Überleben Liebe und Erinnerungen braucht, wirkt auf den ersten Blick schlicht. Mit Abstand betrachtet aber genau richtig.

Michael Stavarič: "Fremdes Licht"
Luchterhand Literaturverlag, München 2020
512 Seiten, 22 Euro

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