Michael Wildenhain: "Das Singen der Sirenen"
Klett Cotta, Stuttgart 2017
320 Seiten, 22 Euro
Leben zwischen allen Stühlen
Dr. Jörg Krippen pendelt zwischen zwei Städten, zwei Frauen – und zwischen zwei Leben. Es ist die Geschichte eines Unschlüssigen, die Michael Wildenhain in "Das Singen der Sirenen" erzählt. Ein Roman, der trotz aller Ambitionen und literarischer Mühen, eher gemischte Gefühle hinterlässt.
Dr. Jörg Krippen ist ein Held zwischen vielen Stühlen. Ein Mann, dessen Identität viele offene Enden hat und der, obwohl längst nicht mehr jung, immer noch auf der Suche nach dem für ihn richtigen Leben ist. Die Krippen-Existenz pendelt zwischen Berlin und London, zwischen politischem Aktivismus und feinsinniger Literaturwissenschaft, zwischen schriftstellerischer Ambition und naturwissenschaftlicher Faszination, zwischen prinzipienfestem linken Leben und kapitalistischen Verlockungen, vor allem aber zwischen zwei Frauen und zwei pubertären Söhnen.
Auf der einen Seite ist Sabrina aus Berlin-Hellersdorf, eine durchtrainierte, verbal sehr direkte Frau, mit der Krippen einen Sohn (Leon) hat und mit der er die kämpferische Antifa-Vergangenheit teilt. Ihre einst leidenschaftliche Beziehung ist in Alltag und Verrohung stagniert. Auf der anderen Seite ist Mae, eine sehr attraktive junge Frau indischer Abstammung, die sich geradezu in Krippens Existenz drängt, als er für eine Gastdozentur nach London geht. Erst im Verlauf der Lektüre, die zwischen Krippens Gegenwart und Schlüsselszenen der Vergangenheit wechselt, offenbaren sich die Hintergründe. Bei einem früheren London-Aufenthalt hatte Krippen eine Affäre mit der Schwester Maes. Der geheimnisvolle elfjährige Raji, ein kleines Schach- und Rugby-Genie: Er soll sein Sohn sein, wird Krippen versichert.
Der zentrale Faden geht verloren
Krippen lässt sich in viele Betten ziehen und in eine Intrige verstricken, die nur zu seinem Besten dienen soll und der er sich am Ende doch entwindet. Man liest die Geschichte eines Unschlüssigen und weiß dabei selbst nicht immer, ob und warum man sich für das verfahrene oder vielfältige Leben des Jörg Krippen interessieren soll. Während frühere Romane Michael Wildenhains bisweilen thematisch überdeterminiert waren, also der Handlung zu viel historischen und politischen Stoff aufbürdeten, wirkt "Das Singen der Sirenen" über weite Strecken sehr privat, vor allem in den etwas zu ausführlich geratenen Beschreibungen von Krippens Liebensleben.
Dabei ist auch die Krippen-Biografie mit vielen bedeutsamen Motiven angereichert. Es gibt Reflexionen über Vaterschaft, über Unholde und künstliche Menschen (Krippen arbeitet an einer Studie über Frankenstein); man liest eindringliche Beschreibungen Londons oder der amerikanischen Provinz im Vorgefühl Trumps. Trotzdem vermisst man auf Dauer einen zentralen thematisch-erzählerischen Faden. Dass der Roman am Ende aller Exkurse wieder aufs plakative politische Gleis (Pegida, Rechtspopulismus!) gesetzt wird, kann nicht überzeugen: Krippen und Sabrina fertigen, bei einem Fußballspiel Leons, in alt-neuer Gemeinsamkeit einen Nazi aus Brandenburg ab, dessen Sohn zu allem Übel einen Namen trägt, der in der deutschen Vornamensstatistik seit längerem keine Rolle mehr spielt: Adolf. So simpel sollten (über)komplex konstruierte Romane nicht enden.
Ambitioniert und überkomplex
Ambitioniert ist auch Wildenhains Stil, der über viele Tonlagen verfügt. Es ist die genaue Beschreibungskunst, die zum Reiz der Lektüre beiträgt. Der Autor wechselt zwischen knappen, elliptischen Formulierungen und weitverzweigten Schachtelsätzen, einer Manier, die gelegentlich forciert und verstolpert wirkt und den Leser auf die Suche nach dem grammatischen Zusammenhang schickt. So bleiben von diesem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman, in den offenkundig viel literarische Mühe und viel Autoren-Herzblut geflossen ist, eher gemischte Eindrücke.