Michael Winterhoff: "Deutschland verdummt"

Der Sound der Apokalypse

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Ein Schwamm liegt in einer Grundschule in der Ablage einer Kreidetafel, aufgenommen 2019 in Möckern in Sachsen-Anhalt.
Der Psychiater Michael Winterhoff hat sich in seinem aktuellen Buch die Erzieher und Lehrer vorgeknöpft, sein Fazit: Alle machen alles falsch. © picture alliance/Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/ZB
Von Martin Mair |
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Auf Platz zwei der "Spiegel"-Bestsellerliste steht der Psychiater Michael Winterhoff mit dem Buch "Deutschland verdummt". Seine harsche Abrechnung mit Lehrern und Erziehern sei wenig fundiert, urteilt unser Kritiker – und sogar "Zeitverschwendung".
Michael Winterhoff hat sich mit einem neuen provokanten Titel zurückgemeldet. Nachdem er in seinem Erstling "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" hart mit den Eltern abgerechnet hat, sind in seinem neuen Werk Lehrer und Erzieher an der Reihe. Der Befund ist heute derselbe wie vor elf Jahren: Nach Meinung des Autors läuft so ziemlich alles falsch in Bezug auf den Nachwuchs in Deutschland.
Das Kernproblem formuliert der Kinder- und Jugendpsychiater in seiner These: Kinder werden zu sehr als Partner von Erwachsenen behandelt und bekommen nicht genug Grenzen aufgezeigt. Was er bereits bei der Erziehung durch die Eltern bemängelt hat, überträgt er jetzt auf Schule und Lehrer.
Das Bild zeigt den "Deutschland verdummt"-Autor Michael Winterhoff.
"Deutschland verdummt"-Autor Winterhoff: Schrille Thesen mit wenig Belegen.© dpa / picture alliance / Frank May
Den modernen Unterricht, der Spaß und Freude am Lernen in den Mittelpunkt stellt, hält Winterhoff für eine einzige Katastrophe. Er funktioniere nicht. Mehr noch: Er könne gar nicht funktionieren, weil Kinder stets klare Anweisungen bräuchten. Das "autonome Arbeiten" des offenen Unterrichts überfordere den Nachwuchs, der so nicht nur nichts lerne, sondern gleich gänzlich verkümmere.

Winterhoff sieht Wohlstand in Gefahr

Am Ende muss kommen, was der ebenso marktschreierische wie verkaufsfördernde Titel des Buchs verspricht: "Deutschland verdummt". Hoffnung ist bei Winterhoff übrigens nie in Sicht, wie er gleich auf den ersten Seiten klarstellt: "Der Kampf ist so gut wie verloren", ist da zu lesen. Deutschland laufe deshalb Gefahr, seinen Wohlstand zu verspielen. Und weil das offenbar noch nicht düster genug ist, ruft der "Thilo Sarrazin der Erziehung", wie ihn "Die Zeit" jüngst nannte, zusätzlich gleich die Katastrophe für die Gesellschaft insgesamt aus.
Lesen muss man all das nicht. Wer je ein Buch von Winterhoff in der Hand hatte, wird die bekannten Botschaften erkennen, verpackt in den gleichen Satzbausteinen. Die sind holprig und voller schiefer Bilder. Seine Schlussfolgerungen krude und dabei ermüdend redundant. All das macht die Lektüre der 224 Seiten zu einer mühsamen, ja qualvollen Erfahrung.

Subjektives Erleben statt wissenschaftlicher Forschung

Zugleich belegt Winterhoff seine bisweilen abenteuerlichen Thesen allein mit Einzelfällen aus seinem Arbeitsalltag als Kinderpsychiater. Doch es reicht natürlich nicht, subjektives Erleben zu verallgemeinern, um ein fundiertes Urteil über den Zustand der deutschen Bildungslandschaft fällen zu können.
Dabei helfen Winterhoff auch seine allesamt anonymisierten Interviews nicht weiter, die er in loser Folge in sein Buch einstreut. Doch auch Hausmeister S. oder Lehrerin CB bieten dem Leser keine neue Perspektive, sondern wiederholen lediglich in gleichen Worten das, was der Autor schon festgestellt hat: Es läuft alles falsch.
Damit diesen düsteren Sound nichts und niemand stört, verzichtet Winterhoff kurzerhand auf alles, was es an pädagogischer, psychologischer oder medizinischer Forschung rund um das Thema Lernen gibt. Am Ende der Lektüre bleibt so nur eine wirkliche Erkenntnis: Dass man als Leser gerade wertvolle Lebenszeit mit einem schlechten Buch verschwendet hat.

Psychiater bedient die Lust am Gruseln

Bleibt die Frage, wie sich auch dieses Werk in die Bestseller-Listen katapultieren konnte. Vermutlich deshalb, weil Winterhoff es erneut schafft, ein Gefühl zu bedienen, das dieser Tage viele Menschen abzuholen scheint: Das Gefühl, früher wäre alles besser gewesen. Früher waren die Kinder nicht nur besser erzogen, sondern auch schlauer.
Zugleich bedient er mit seinem apokalyptischen Ton die Lust am Gruseln. Bequem kann der Leser sich im gemütlichen Sessel rückversichern, dass es in der eigenen Familie so schlimm denn doch nicht ist, wie im Winterhoffschen Universum der Bildungskatastrophe.
Psychologen nennen dieses Phänomen "Angstlust". Sie hat eine reinigende und beruhigende Wirkung. Die ist, anders als alles, was Winterhoff in seinem Buch zum Besten gibt, übrigens wissenschaftlich nachgewiesen.

Michael Winterhoff: "Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut"
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2019
224 Seiten, 20 Euro

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