Michail Ryklin: Leben ins Feuer geworfen. Die Generation des Großen Oktobers
Aus dem Russischen von Sabine Grebing und Volker Weichsel
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
336 Seiten, 25 Euro
Freiwillig gleichgeschaltet
06:30 Minuten
Der russische Philosoph Michail Ryklin hat eine Familienbiografie vorgelegt, die von der Generation der Oktoberrevolution handelt. Um die Gewalt hinzunehmen, gaben viele ihr kritisches Denken auf, so auch sein Großvater.
Sie haben nach den Sternen gegriffen, kein Ziel schien zu groß. "Himmelsstürmer" wurden deswegen die jungen Parteisoldaten genannt, die sich 1917 vorbehaltlos der Oktoberrevolution und dem radikalen Umbau der Gesellschaft verschrieben. Der russische Philosoph Michail Ryklin hat eine Familienbiografie verfasst, in deren Mittelpunkt sein Großvater und dessen Bruder stehen. Beide sind Idealisten, deren Begeisterung keine Grenzen kannte, nicht einmal die der Selbstverleugnung. Sie rechtfertigten die Ermordung der angeblichen Ausbeuter mit den Interessen der Weltrevolution, verstanden ihre Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei als freiwilligen Verzicht auf das Recht zu selbständigem Denken.
Großvater Sergej gehörte dem Auslandsgeheimdienst an, Großonkel Nikolai gründete die kommunistische Jugendorganisation, die streng auf Parteilinie agierte: den Komsomol. Ryklins Verwandte beteiligten sich zwar nicht an Gewaltakten, aber sie kritisierten sie auch nicht. Sie akzeptierten die Gleichschaltung ihres Denkens – es war ihre Form von Hingabe – und wurden so zu Wegbereitern der Sowjet-Diktatur. Ein Dilemma für den Familienbiografen Ryklin, das er offen benennt: "Auf der einen Seite ist ihnen, die ihr Leben dem Sieg der Weltrevolution gewidmet haben, die persönliche Integrität nicht abzusprechen. Auf der anderen Seite handelt es sich um Menschen, die im Namen dieses Ziels zu allem bereit waren."
Michail Ryklins Großvater und Großonkel agierten im Auge des Orkans – Oktoberrevolution, Bürgerkrieg und Großer Terror, der von parteiinternen Säuberungswellen unter dem Diktator Stalin geprägt war. Eine finstere Zeit. Dass sie schon früh zur sowjetischen Elite gehörten, machte sie verwundbar. Sie erinnern Michail Ryklin an Ikarus, der der Sonne zu nah kam. Nikolai Tschaplin, der Komsomol-Gründer, wurde 1938 in der Lubjanka erschossen, Bruder Sergej 1941 oder 1942 im Straflager an der Kolyma. Ihre "Schuld" bestand in ihrer vorbehaltlosen Verehrung Lenins, was sie für Stalin zu Widersachern machte.
Ehre für den Chef-Exekutor
Michail Ryklin wälzte Archivordner, suchte Zeitzeugen, doch selbst seine Mutter konnte kaum Auskunft über ihren Vater geben. Wer etwas wusste, behielt sein Wissen für sich, gab sich ahnungslos und distanzierte sich besser von den verschwundenen Angehörigen, um das eigene Leben nicht zu gefährden. Das Stillschweigen endete erst mit dem Tod Stalins.
Der in Leningrad geborene Ryklin bleibt nicht in der Vergangenheit stehen, sondern schildert die Auswirkungen des Roten Terrors bis in die Gegenwart. Während seine Verwandten, wie viele Repressionsopfer, kein Grab bekamen, wurde die Ruhestätte des Chef-Exekutors in der Lubjanka, Wassili Blochin, im Lauf der Zeit immer pompöser ausgeschmückt. Stalins Nachfolger Nikita Chruschtschow hatte ihm noch ein offizielles Grab verweigert, doch KGB-Chef Andropow und später Russlands Präsident Putin sorgten für die sichtbare Würdigung des Tscheka-Offiziers Wassili Blochin, der zwischen 1924 und 1953 persönlich 10.000 bis 15.000 Menschen tötete. Derartige Exkurse führen immer wieder über die Familiengeschichte hinaus und charakterisieren Ryklins Heimatland aufschlussreich.
Der 72-jährige in Berlin lebende Autor ist ein sensibler Schreiber von Familientragödien. Die KGB-Akten seines Großvaters und Großonkels durfte er während seiner Recherche nicht einsehen. Erst als er das Manuskript im Verlag eingereicht hatte, kam die Erlaubnis vom FSB-Geheimdienst, der KGB-Nachfolgeorganisation. Seine in Moskau lebende Tochter tippte rund 700 Seiten Akten ab, Fotos und Kopien waren nicht erlaubt. Das Ende des Großvaters ist nun noch genauer rekonstruierbar. Eine Fortschreibung folgt. Der vorgelegte erste Band ist lesenswert, wenn auch mitunter dort schwer zugänglich, wo sich Abkürzungen und kaum geläufige Namen häufen.