Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger
Suhrkamp, Berlin 2019
556 Seiten, 36 Euro
Wie sich die Sexualmoral seit der Antike veränderte
06:12 Minuten
34 Jahre lang lag dieses Buch unter Verschluss, nun erscheint Foucaults vierter Band von "Sexualität und Wahrheit" postum. Darin untersucht er, wie aus den antiken Lehren zur Lebensführung, eine christliche Sexualmoral werden konnte.
"Keine postumen Veröffentlichungen" hatte Michel Foucault vor seinem frühen Tod 1984 verfügt. Zwar sind seither doch etliche Schriften aus dem Nachlass, seine Vorlesungen am Collège de France und Interviews erschienen, fast mehr Bücher als zu Lebzeiten. Aber dass die "Geständnisses des Fleisches", ein Buch, dessen Manuskript schon fertiggestellt war, nach 34 Jahren im Original und ein Jahr später in deutscher Übersetzung publiziert werden konnte, ist schon eine Sensation. Vor allem, weil es das "missing link" in Foucaults berühmten historischen Studien über die Geschichte der abendländischen Sexualität darstellt.
Sexualität als Teil des göttlichen Heilsgeschehens
In "Die Geständnisse des Fleisches" untersucht Foucault, wie aus den antiken Lehren zur Lebensführung, aus einer "Ökonomie der Lüste", eine christliche Sexualmoral werden konnte. Akribisch macht er sich an die Lektüre der Kirchenväter, deren Auffassungen zu Ehe, Ausschweifung, Keuschheit und Nachkommenschaft anfangs sehr denen der griechisch-römischen Autoren gleichen. Die sexuellen Verbote beziehen sich allesamt auf Ehebruch, Unzucht und Kinderschändung.
Zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert, zwischen Clemens von Alexandrien und Augustinus, wandelt sich das grundlegend. Die Transformation hin zu einer genuin christlichen Sexualmoral bestehe aber nicht – wie man meinen könnte – in einer Verschärfung der Regeln und Verbote, meint Foucault, sondern in einer gänzlich "neuen Erfahrung". Der gesamte Zugang zur Lust wird ein anderer, weil nun die Sexualität als Teil eines göttlichen Heilsgeschehens erscheint. Zugleich wird Sex auch zum Gegenstand der Askese, Bußpraxis und Gewissenserforschung eines beginnenden Mönchtums.
Zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert, zwischen Clemens von Alexandrien und Augustinus, wandelt sich das grundlegend. Die Transformation hin zu einer genuin christlichen Sexualmoral bestehe aber nicht – wie man meinen könnte – in einer Verschärfung der Regeln und Verbote, meint Foucault, sondern in einer gänzlich "neuen Erfahrung". Der gesamte Zugang zur Lust wird ein anderer, weil nun die Sexualität als Teil eines göttlichen Heilsgeschehens erscheint. Zugleich wird Sex auch zum Gegenstand der Askese, Bußpraxis und Gewissenserforschung eines beginnenden Mönchtums.
Foucault bewertet nicht, seine Methode besteht im Beschreiben, in Nachvollzug der Texte der Kirchenväter, die die Leserin auf diese Weise mit all ihren Erstaunlichkeiten kennenlernt. So geht es etwa um die Kunst der Jungfräulichkeit oder um die Frage, ob es die Zweigeschlechtlichkeit vor dem Sündenfall schon gegeben habe. Man erfährt auch einiges über die Laszivität der Hyäne und die Ausschweifungen des Hasen.
Michel Foucault lässt seine Leser allein
Beeindruckend sind die Kapitel über die Entstehung der Buße und über die Gewissensprüfung der Mönche, die sich zu einem "Mikrokosmos der Einsamkeit" verfeinert. An diesen Stellen wird deutlich, was Foucault zeigen will, nämlich wie Sexualität mit "Wahrheit", dem "Wahr-Sprechen" zusammengebracht wurde.
Der Text liest sich flüssig und vollständig, und dennoch lässt uns Foucault, – wie auch in den zu Lebzeiten publizierten Bänden zwei und drei von "Sexualität und Wahrheit" – über weite Strecken allein. Wie ein Wattwurm schiebt er sich durch abertausende Seiten historischer Texte, auf der Suche nach Hinweisen, und türmt seine Lesefrüchte als durchsiebte Sandhaufen vor uns auf. So sehr versteckt er sich in der Lektüre, dass wir ihn selbst darin kaum wiederfinden.
Der Text liest sich flüssig und vollständig, und dennoch lässt uns Foucault, – wie auch in den zu Lebzeiten publizierten Bänden zwei und drei von "Sexualität und Wahrheit" – über weite Strecken allein. Wie ein Wattwurm schiebt er sich durch abertausende Seiten historischer Texte, auf der Suche nach Hinweisen, und türmt seine Lesefrüchte als durchsiebte Sandhaufen vor uns auf. So sehr versteckt er sich in der Lektüre, dass wir ihn selbst darin kaum wiederfinden.