Michel Houellebecq: "In Schopenhauers Gegenwart"
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner
Dumont, Köln 2017
76 Seiten, 18 Euro
Der große Philosoph und sein Fan
Houellebecq schreibt über sich und Schopenhauer - in Deutschland spitzt man da die Ohren. Doch bei der Lektüre seines aktuellen Essaybandes wird schnell klar: Houellebecq will sich mit dem Philosophen nicht messen. Vielmehr schmiegt er sich dessen Weltsicht an.
Arthur Schopenhauer hat den "Willen" als Akteur in die Philosophie gebracht. Den Willen als Trieb, als Lust, als drängende Sexualität. Genau dieser Aspekt ist auch in den Romanen Michel Houellebecqs allüberall zu finden. Seine Protagonisten sind stets Getriebene, und zwar eher nicht von hehren Gedanken oder Idealen, sondern von den gierigen Blicken auf die kurzen Röcke junger Frauen.
Arthur Schopenhauer, so stellt es Houellebecq in seinem schmalen, impressionistisch im Hauptwerk des deutschen Philosophen stochernden Bändchen dar, ist das große geistige Vorbild für den Schriftsteller, der in seiner Literatur den "Deprimismus" im 21. Jahrhundert kultiviert.
Houellebecq berichtet in dem Heft von einer Art Erweckungserlebnis beim Lesen der ersten Zeilen Arthur Schopenhauers: "Und dann brach innerhalb weniger Minuten alles zusammen." Das war, so schreibt er weiter, als er etwa 25 war, das heißt Anfang der 80er-Jahre. Nach der zufälligen Lektüre der "Aphorismen zur Lebensweisheit" sei er wie angefixt von Schopenhauers Denken durch ganz Paris gehetzt und habe die Stadt nach der "Welt als Wille und Vorstellung" abgesucht, denn das Werk war vergriffen. Erst nach längerem Stöbern in Antiquariaten konnte er das Buch entdecken. Eine hübsch erzählte Geschichte.
Dann ist da noch die gemeinsame Liebe zum Hund
Houellebecq, den mit Schopenhauer auch die leidenschaftliche Liebe zum Hund als Haustier verbindet, präsentiert in diesem literarischen Essay seine "liebsten Stellen", um zu zeigen, wie nah er dem mürrischen Philosophen der alltäglichen Dinge ist.
"Er wird von der Liebe sprechen, vom Tod, vom Mitleid, von der Tragödie und dem Leid", schreibt Houellebecq. "Er wird versuchen, die Sprache in die Welt des Gesangs hinein auszudehnen. Als einziger unter den Philosophen seiner Zeit wird er kühn ins Reich der Autoren, der Musiker und der Bildhauer vordringen. " So ähnlich macht es auch Houellebecq. Er ist als Schriftsteller weltberühmt, hat sich gerade in den letzten Jahren aber verstärkt der bildenden Kunst zugewendet – nicht zuletzt ist der Kern des Romans "Karte und Gebiet" das (Selbst-) Porträt eines Malers. Und auch als Musiker tritt Houellebecq immer wieder hervor, als klagender Sänger seiner eigenen Gedichte.
Die Überwindung des rohen Willens durch die Kunst, wie Schopenhauer sie formuliert, ist ein Aspekt, der den Autor hingegen nicht sonderlich interessiert.
Gedankensplitter durchwoben mit Schopenhauer-Zitaten
Houellebecq schält aus Schopenhauers Denken die Erkenntnis heraus, dass ein Mensch klug oder dumm geboren sei, und dass sich daran durch äußere Einflussnahme kaum etwas ändern lasse:
"Dass ein Schwachkopf weniger fähig sein mag, die Schönheit einer Symphonie oder eines subtilen Gedankengangs zu genießen, glaubt man ohne Weiteres, im Hinblick auf beispielsweise eine Fellatio hingegen überrascht es; die Erfahrung bestätigt es dennoch. Die Tiefe des Behagens und selbst der sexuellen Lust wurzelt im Verstand und wächst proportional zu seiner Kapazität; unglücklicherweise verhält es sich mit dem Leid genauso."
"Dass ein Schwachkopf weniger fähig sein mag, die Schönheit einer Symphonie oder eines subtilen Gedankengangs zu genießen, glaubt man ohne Weiteres, im Hinblick auf beispielsweise eine Fellatio hingegen überrascht es; die Erfahrung bestätigt es dennoch. Die Tiefe des Behagens und selbst der sexuellen Lust wurzelt im Verstand und wächst proportional zu seiner Kapazität; unglücklicherweise verhält es sich mit dem Leid genauso."
Dieser spöttische Fatalismus lässt sich in Houellebecqs gesamtem Werk beobachten: Sein Blick auf die Menschen ist illusionslos, ohne Hoffnung. Die Menschheit treibt unausweichlich ihrem Schicksal entgegen, gesteuert von Begierden und (sexuellen) Leidenschaften. Der Geist tut, was er kann, aber meist kann er nicht viel.
"In Schopenhauers Gegenwart" ist kein ausgearbeiteter Essay, es sind eher Gedankensplitter, die lose und unsystematisch mit Schopenhauer-Zitaten durchwoben sind. Man könnte sagen, Houellebecq adele sich selbst, indem er sich an Schopenhauers Weltsicht anschmiegt. Wer Houellebecq und sein Werk kennt, wird tatsächlich immer wieder Parallelen und Anklänge feststellen. Ein eigenes philosophisches Konzept liefert Frankreichs bekanntester lebender Schriftsteller nicht. Das hat er vermutlich auch nicht. Als Philosoph hätte er womöglich besser geschwiegen.