Das ist deshalb so wichtig, weil wir alle, also unsere Vorfahren, Jahrhunderttausende als Jäger und Sammler gelebt haben.
Kai Michel, Harald Meller: "Das Rätsel der Schamanin"
Detailarbeit: Die Museumsmitarbeiter Thomas Puttkammer und Paul Globig untersuchen das Skelett der Schamanin von Bad Dürrenberg. © IMAGO / Steffen Schellhorn / IMAGO / steffen schellhorn
"Alles an dem Grab schreit Gemeinschaft"
17:32 Minuten
Bereits 1934 entdeckten Nazis das Grab der Schamanin von Bad Dürrenberg – und nutzen es für ihre Ideologie. Neueste Forschungen geben nun Aufschluss darüber, wie die Schamanin gelebt hat. Kai Michel und Harald Meller über eine beeindruckende Frau.
Die Schamanin von Dürrenberg hat vor 9000 Jahren im heutigen Sachsen-Anhalt gelebt. Ihre Knochen beschäftigen die Forschung bis heute. Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, haben ein Buch über das Rätsel der Schamanin geschrieben.
"Das absolut reichste Grab seiner Zeit"
Es sei ein "ganz besonderer Fund aus einer ganz besonderen Zeit“, schreiben sie in ihrem Vorwort. „Die Schamanin von Bad Dürrenberg ist eine der letzten Zeuginnen des ursprünglichen Lebens der Jäger und Sammler in Europa", sagt Kai Michel.
Sie sei eine Zeugin dieser Zeit, die uns alle in der Psychologie geprägt habe, so Michel. Zudem sei es „das absolut reichste Grab seiner Zeit in Europa“.
Die Nazis, die das 1934 Grab fanden, hätten daraus geschlossen, dass es sich nur um das Grab eines Mannes handeln könnte, da es so reich sei. Die sterblichen Überreste gehörten aber einer Frau.
Neufunde belegen den Schamanismus
Harald Meller war selbst an den Forschungen beteiligt. „Ja, selbstverständlich“, sagt er lachend. „Ich bin ja Archäologe. Wir graben die Dinge selbst aus und analysieren die Dinge selbst – allerdings mit riesigen Gruppen der verschiedensten Disziplinen.“
Meller koordiniert die Forschung, beteiligt sind aber unter anderem Mediziner, Botaniker, Palynologen und Anthropologen. „Das Spannende und Aufregende ist, dass die Schamanin schon 1934 gefunden worden ist“, findet er.
Denn die Bergung habe seinerzeit unter „ganz ungünstigen Umständen“ stattfinden müssen, erst jetzt sei der Rest dieses Grabes gefunden worden, erzählt der Archäologe. Der Rest des Grabes gebe ganz viele Auskünfte über die Schamanin.
Durch Neufunde könne man nun auch den Schamanismus belegen. „Dieser Schamanismus ist ja der Heilige Gral, das ist ja etwas unglaublich Wichtiges.“
Ekstase, Drogen, Trommeln
Heutzutage werde der Begriff „Schamanismus“ ganz ubiquitär benutzt, sagt Harald Meller. „Ursprünglich sind Schamanen auf den nordasiatischen Raum beschränkt.“ Es handele sich dabei um Menschen, die „in rituelle Ekstase“ gerieten, aus ihrem Körper hinaustreten und Hilfsgeister bemühten, so Archäologe Meller.
Harald Meller, Kai Michel: "Das Rätsel der Schamanin"
Rowohlt Buchverlag, Hamburg 2022
368 Seiten, 28 Euro
Neben einer speziellen Kosmologie verfügten Schamanen über eine spezielle Ausrüstung wie eine spezielle Tracht mit Trommeln. Dieser Begriff werde auf ähnliche Phänomene weltweit angewandt.
Heutzutage werde er aber nur noch schlecht verstanden. Heute werde unter dem Begriff vor allem Ekstase, Drogen, Trommeln verstanden – „aber nicht mehr im eigentlichen Sinne“.
Teile von Tieren repräsentieren die Hilfsgeister
Zwar sei es generell schwierig, anhand von Knochenfunden auf Schamanismus zu schließen. „Aber in diesem einen Fall können wir das meiste feststellen.“
Die Schamanin habe einen Defekt am Hinterhaupt und einen Defekt an den zwei ersten Wirbeln. Der führe zu einer sehr seltenen Fehlbildung: Wenn sie den Kopf nach hinten legte, flatterten und ratterten die Augen in einer Weise, die man selbst nicht erzeugen kann.
Sie kriegt ein Sauerstoffversorgungsproblem im Gehirn – wahrscheinlich Halluzinationen.
Das sei schon ein sehr starker Hinweis. Zudem habe sie „einen Zoo“ dabei, Teile von Tieren, die den Wald repräsentierten, wie Harald Meller sagt. Die stellten wohl die Hilfsgeister dar.
Außerdem habe sie wahrscheinlich eine Maske aufgehabt, wie sie ganz typisch sei. „Aus einem Rehgeweih oder vom Rehbock, der wahrscheinlich ihr Schamanentier ist.“
Meistverehrte Person ihrer Zeit
An den Beinmuskeln sei erkennbar, dass die Schamanin nicht viel herumgelaufen ist, sondern überwiegend gesessen habe. „Leicht nach vorne gebeugt“, wie Meller meint, „das sehen wir an der Wirbelsäule.“
Sie sei Medizinerin gewesen, eine Expertin, eine Heilerin. „Und natürlich hat sie ihre Gemeinschaft geheilt“, sagt Archäologe Meller. Wir hätten es mit einer ganz, ganz speziellen, charismatischen Frau zu tun, die „ganz weit über die Gemeinschaft hinaus gestrahlt“ habe. Sie sei sicherlich die mächtigste Frau ihrer Zeit gewesen – und auch die reichste.
„Alles an dem Grab schreit Gemeinschaft“, sagt Kai Michel. Die immense Vielfalt der Grabbeigaben zeige, wie sehr sie verehrt wurde, sagt der Historiker.
Person of Colour statt arischer Urmensch
Die Nazis hatten den Fund 1934 in den Dienst ihrer "Blut und Boden"-Ideologie gestellt. Sie deklarierten die Schamanin zum Mann und als „Urahnen der Arier“, erzählt Kai Michel. Doch der "alte weiße Mann" entpuppt sich als Frau. Sie war 30 bis 35 Jahre alt und hatte schwarze Haare.
„Wir wissen auch durch die Genetik, dass ihre Haut nicht weiß war, sondern dunkel.“ Würde sie heute leben, würde man sie als "Person of Colour" bezeichnen.
„Die Aufklärung ist eine großartige Epoche, der wir viel verdanken“, sagt Harald Meller. Aber wir verdankten ihr auch die strikte Teilung in „wir“ als höhere Menschen und „die Natur“.
(ros)