Mick Herron: "London Rules"
© Diogenes
Eine Bombe im Pinguingehege
03:11 Minuten
Mick Herron
Übersetzt von Stefanie Schäfer
London RulesDiogenes, Zürich 2022485 Seiten
18,00 Euro
Wenn eine Nation sich selbst unter Beschuss nimmt: Mick Herron setzt mit „London Rules“ seine Reihe um die unfähigsten Geheimagenten Londons fort. Zugleich wirft er einen satirischen Blick auf das anhaltende politische Chaos in Großbritannien.
Ein Anschlag erschüttert Merry England: In der beschaulichen Grafschaft Derbyshire schießt eine wie aus dem Nichts kommende Söldnertruppe in einem Dorf alles nieder, was sich bewegt. Kurz darauf explodiert eine Bombe im Pinguingehege des Londoner Zoos und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die Unbekannten das nächste Mal zuschlagen.
Als wäre das allein nicht schon alarmierend genug, scheinen die Terroristen nach einem alten Plan aus den Reihen des MI5 selbst vorzugehen – ersonnen noch zu imperialen Hochzeiten, um Entwicklungsländer zu destabilisieren.
Diese Information, in reißerischen Schlagzeilen auf den Titelseiten der Boulevardblätter gedruckt, stünde der Behörde nicht sonderlich gut zu Gesicht…
Sammelbecken für in Ungnade gefallene Agenten
„London Rules“ ist der fünfte Eintrag in Mick Herrons Slow-Horses-Reihe über die titelgebenden lahmen Gäule des britischen Inlandsgeheimdienstes. Einmal mehr herrscht darin ein erbitterter Krieg – mit der Terrorbedrohung von außen ebenso wie im Inneren des Security Service.
"Rette deinen Arsch" – das ist die erste der "London rules", der Londoner Dienstvorschriften, die nicht erst irgendwo schriftlich festgehalten sein müssen, damit alle beim MI5 sich daran halten.
Aber mit Regeln verhält es sich ja folgendermaßen: Wer ohnehin schon mit einem Bein im Aus steht, scheut sich unter Umständen weniger, sie nach eigenem Ermessen zu dehnen. Slough House gilt nicht umsonst als Sammelbecken für in Ungnade gefallene Agenten und ihr flatulenter Leiter Jackson Lamb als veritable Antithese zu John le Carrés George Smiley.
Klassenfahrt-Atmosphäre beim MI5
Sein Team besteht aus trockenen Alkoholikern und Koksnasen, aus Geeks und mehr oder minder offensichtlichen Psychopathen, die in versifften Büros aufeinander hocken.
Mit ihren manchmal schlagfertigen, immer knatschigen Sprüchen lassen sie so etwas wie Klassenfahrt-Atmosphäre aufkommen lassen, nur dass dabei die stakes ungleich höher sind – und genau dieser Kontrast reibt einem die Absurdität der Situation so mitleidlos unter die Nase: Die Nation ist unter Beschuss und die Leute, die es in der Hand haben, sind nichts als ein inkompetenter Haufen.
Apropos inkompetenter Haufen: In den letzten Wochen dürfte sich Mick Herron angesichts der Nachrichtenlage wieder fleißig Notizen gemacht haben. „London Rules“ erschien im Original bereits 2018, aber schon da rechnet er mit ständig wechselnden Premierministern ab, mit rechten Populisten und natürlich dem allgegenwärtigen Brexit-Chaos.
Katastrophe mit poetischen Momenten
Seine Kritik an dieser Management-Katastrophe ist saftig, die Lektüre nicht selten ein Fest der Genugtuung. Aber wenn man es am wenigsten erwartet, überraschen die sanften Zwischentöne in der Satire.
Geradezu poetische Momente gibt es, wenn Herron etwa das Morgengrauen, das Tageslicht und die Dämmerung personifiziert und diese dann wie eigenständige Figuren die staubigen Winkel der Büros im Slough House ausleuchten lässt; wenn er beschreibt, wie sich Londons Antlitz unentwegt wandelt und es im Kern doch stets dieselbe Stadt bleibt.
Für einen Augenblick klingen dann ohne auch nur ein Fünkchen unangebrachten Pathos' die Werte an, die es an diesen Schreibtischen zu verteidigen gilt.