Das Kultur-Prekariat
889 Euro brutto für einen freien Regisseur, 90 Euro für einen Konzertabend: Im Kulturbereich kennt die Selbstausbeutung keine Grenzen mehr, es herrschen Überlastung und Perspektivlosigkeit. Damit muss Schluss sein, fordert die Journalistin Anette Schneider.
Ja, das Kulturangebot ist groß. Doch Bestens ist gar nichts. Hinter den Erfolgszahlen tun sich Abgründe auf.
Viele derjenigen, die für uns Abend für Abend in Orchestergräben sitzen, auf der Bühne singen oder spielen, in Museen Ausstellungen erarbeiten, neue Kunst entwickeln oder in Archiven alte Dokumente sichern, arbeiten unter verheerenden Bedingungen. In der Öffentlichkeit ist das kaum bekannt.
Denn wo Beschäftigte anderer Bereiche längst gestreikt hätten, herrscht im Kulturbereich ein Übermaß an Selbstausbeutung: Auf den eigenen Knochen halten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Häuser am Laufen, als sei es Entlohnung genug, inhaltlich einigermaßen befriedigende Arbeit zu leisten.
Dabei kürzen Politiker ihnen seit Jahren die Etats: Seit Mitte der 90er-Jahre mussten Theater und Opern jährlich etwa 350 Millionen Euro einsparen. Seitdem wurden über 6000 feste Arbeitsplätze gestrichen. Die restlichen Beschäftigten kämpfen mit enormer Arbeitsverdichtung: Mehr Rollen, mehr Proben, mehr Auftritte - für im Schnitt 1600 Euro brutto.
Kranken- und Arbeitslosengeld gibt es nicht
Weil die Etats für Festanstellungen nicht mehr reichen, beschäftigen die Häuser Sänger, Musiker, Schauspieler und Regisseure auf Honorarbasis. Damit kennt die Ausbeutung keine Grenzen mehr: Die Künstler werden "eingekauft" für einzelne Konzerte, Vorstellungen oder Projekte. Probenzeiten werden nicht mehr bezahlt. Ein Viertel der freien Regisseure muss mit 889 Euro brutto auskommen.
Und hochqualifizierte Musiker erhalten für einen Auftritt bei den renommierten Salzburger Schlosskonzerten schon mal zwischen 20 und 90 Euro pro Abend - Reise- und Hotelkosten sind selbst zu zahlen. Und natürlich wird von allen Beteiligten erwartet, dass sie dennoch Abend für Abend ihr Bestes geben, das Publikum mitreißen, den schönen Schein wahren.
Wer unter diesen Arbeitsbedingungen krank wird, hat übrigens Pech. Wer keinen Anschlussvertrag erhält, auch: Kranken- und Arbeitslosengeld gibt es nicht.
In den Museen, die von immer mehr Menschen besucht werden, ließen die Etat-Kürzungen die Zahl fest angestellter Mitarbeiter so dramatisch schrumpfen, dass selbst wissenschaftliche Abteilungen großer Häuser oft nur noch aus den Abteilungsleitern bestehen. Die Hälfte aller Museen hat keine festen wissenschaftlichen Mitarbeiter mehr. Um den Betrieb irgendwie aufrecht zu halten, werden Praktikanten und Volontäre eingespannt.
Permanente Überlastung und Perspektivlosigkeit
Natürlich gibt es in jedem Kulturbereich die gut ausgestatteten Vorzeige-Einrichtungen, die gutbezahlten Stars und Superstars. Für viele Beschäftigte aber gehören permanente Arbeitsüberlastung und prekäre Arbeitsverhältnisse, Planungsunsicherheit, Perspektivlosigkeit mittlerweile zum Alltag.
Nach Ansicht der verantwortlichen Politiker hat das seine Ordnung: Theater und Museen müssten eben spielen und ausstellen, was die Besucher anlockt und damit die Kassen füllt. Schaffen sie das nicht, sind sie überflüssig und werden geschlossen. Kultur gilt ihnen als x-beliebige Ware.
"Art, but fair", eine Initiative, die sich für bessere Arbeitsbedingungen im Kulturbereich einsetzt, hält dagegen. Notwendig ist aber mehr. Notwendig ist eine Finanzierung, die den Institutionen ein sicheres Arbeiten ermöglicht.
Wie so vieles ist das eine Sache des politischen Wollens. Wer aber Milliarden Euro im brandenburgischen Sand verbuddelt, in Stuttgarter Erde und der Elbe versenkt, wer Großunternehmen von Steuern befreit und Großverdiener sich arm rechnen lässt, hat offenbar andere Prioritäten als die Förderung aufklärerischer Kultur.
Anette Schneider, Journalistin in Hamburg, schreibt für den Hörfunk, u.a. über Kulturthemen.