Migranten als Zünglein an der Waage

Andreas Wüst im Gespräch mit Joachim Scholl |
Bei knappen Wahlentscheidungen können kleine Gruppen wie Migranten ausschlaggebend sein, sagt der Politologe Andreas Wüst. In Nordrhein-Westfalen, wo im Mai ein neuer Landtag gewählt wird, gebe es mit etwa zwölf Prozent einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Wählern mit Migrationshintergrund.
Joachim Scholl: Die Personalie Aygül Özkan als frisch gekürte niedersächsische Sozial- und Integrationsministerin hat auch diese Dimension. Ist ihre Benennung vielleicht ein geschickter Schachzug der CDU gewesen, um mehr deutsche Türken als potenzielle Wähler in Nordrhein-Westfalen zu gewinnen? Dort leben über vier Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das ist fast jeder vierte Einwohner. Und circa 1,6 Millionen dürfen am 9. Mai bei der Landtagswahl ihre Stimme abgeben. Und einen starken Anteil stellen eben auch die deutsch-türkische Wähler. Ich bin jetzt verbunden mit dem Politologen Andreas Wüst von der Universität Mannheim. Er beschäftigt sich seit den 1990er-Jahren damit, wie Migranten sich als Wähler verhalten. Guten Tag, Herr Wüst!

Andreas Wüst: Schönen guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Wie bedeutsam sind die Stimmen von Migranten? Können sie überall entscheidend werden?

Wüst: Wenn Wahlergebnisse eng ausfallen, können natürlich kleine Gruppen auch wahlentscheidend sein, und Sie haben ja in Ihrer Vorberichterstattung schon darauf hingewiesen, dass wir in Nordrhein-Westfalen einen überdurchschnittlich hohen Anteil von Wählern mit Migrationshintergrund haben. Er beträgt etwa zwölf Prozent, also deutlich weniger als sozusagen in der Gesamtbevölkerung. Das rührt daher, dass wir unter den Migranten sehr viele junge Personen haben, die noch nicht wahlberechtigt sind, und natürlich auch solche ohne Migrations- beziehungsweise ohne Staatsbürgerschaft. Das bedeutet, dass wenn wir das Ganze runterbrechen auf die Wahlberechtigten, wir zwölf Prozent haben, wobei hier die Spätaussiedler natürlich eine sehr große Gruppe stellen – Russlanddeutsche, Rumäniendeutsche und auch Personen aus Polen. Und erst dann kommen türkeistämmige Wähler, die bundesweit gerade mal ungefähr zehn Prozent ausmachen. Und selbst, wenn wir davon ausgehen, dass es in Nordrhein-Westfalen mehr sind, dann reden wir vielleicht von ein bis zwei Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung.

Scholl: Wie wird sich dieser Anteil in Zukunft entwickeln, ist das schon absehbar?

Wüst: Ja, selbstverständlich. Sie wissen, dass wir kaum noch Zuzug von Spätaussiedlern haben, allerdings sind auch die Geburtenraten unter den Russlanddeutschen vergleichsweise hoch. Das heißt, auch die Russlanddeutschen werden als Gruppe der Wahlberechtigten größer werden, aber wenn man natürlich auf die große Gruppe der türkeistämmigen Migranten schaut und die Einbürgerungsraten betrachtet und auch die zweite und dritte Generation, dann wird sicherlich diese Gruppe in absehbarer Zeit eine bedeutendere Rolle spielen.

Scholl: Gehen Migranten überhaupt zur Wahl, gibt es da Erkenntnisse?

Wüst: Wir wissen darüber relativ wenig. Was wir wissen, ist, dass bei Wahlen zum Kommunalparlament EU-Bürger eine sehr, sehr geringe Wahlbeteiligung aufweisen. Auch aus anderen Ländern, wo wir längerfristige Zeitreihen auch haben, wissen wir, dass Ausländer, wenn sie denn wahlberechtigt sind, deutlich seltener zur Wahl gehen. Die wenigen empirischen Befunde, die es gibt zur Wahlbeteiligung von Eingebürgerten, deuten darauf hin, dass die Wahlbeteiligung unter denen fast genauso hoch ist wie unter den Einheimischen beziehungsweise unter den Deutschen ohne Migrationshintergrund.

Scholl: Nun hat man früher türkischstämmige Bürger traditionell so der SPD zugerechnet, weil diese Partei sich also stärker für Migranten, die Einwanderung, das Wahlrecht eingesetzt hatte, während die Aussiedler eher der CDU zuneigten, konservativer gestimmt waren. Inwieweit stimmt dieses Bild noch, oder hat es sich verändert?

Wüst: Auch darüber wissen wir vergleichsweise wenig. Es gibt die großen Untersuchungen aus dem Jahr 2000/2001, sehr viel spätere Daten gibt es kaum. Aus dem letzten Jahr gibt es einige Indizien, die darauf hindeuten, dass die Bindungen dieser verschiedenen Gruppen – Sie haben ja angesprochen, Aussiedler und Spätaussiedler wählen die Unionsparteien, türkeistämmige Wähler eher die SPD –, dass diese Bindungen an die Parteien zurückgegangen sind, dass auch kleine Parteien – hier vor allen Dingen die FDP bei den Spätaussiedlern und aber auch die Grünen und die Linkspartei bei den türkeistämmigen Wählern – Stimmen gewonnen haben. Es geht also darum, im Wesentlichen diese Gruppen für die Parteien zu mobilisieren, zur Wahlurne zu bringen. Und es könnte durchaus auch sein, dass gerade bei den Aussiedlern und Spätaussiedlern die SPD durchaus Möglichkeiten hat, hier stärker in dieser Gruppe zu punkten und sie stärker für sich zu gewinnen als in der Vergangenheit. Bei den türkeistämmigen Wählern zeigen sich weniger Abnutzungserscheinungen der Bindung an die SPD.

Scholl: Welche Themen sind denn hier die entscheidenden, die gerade diese Wählergruppen interessieren?

Wüst: Grundsätzlich müssen wir unterscheiden zwischen den Eingebürgerten beziehungsweise den Wählern mit deutscher Staatsbürgerschaft und der türkeistämmigen Bevölkerung insgesamt. Da gibt es deutliche Themenunterschiede, will sagen, dass die türkeistämmigen Deutschen eine ganz ähnliche Problemlage, ganz ähnliche Agenda haben wie die sonstigen der deutschen Wähler ohne Migrationshintergrund. Themen, die etwas stärker vorkommen, sind Fragen der Diskriminierung, sind Fragen der doppelten Staatsbürgerschaft, und das sind dann eben auch gemeinhin Themen, die sehr viel eher von den linksorientierten Parteien angesprochen werden als von der Union.

Scholl: Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen und die Rolle der Migranten als Wähler. Im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur ist der Politologe Andreas Wüst. Nun hatten wir, Herr Wüst, die Kontroverse um Aygül Özkan. Sie ist die erste muslimische Ministerin der Bundesrepublik Deutschland, in Niedersachsen als Sozial- und Integrationsministerin. War das eigentlich, jetzt im Kontext unseres Gespräches, auch ein wahltaktischer Schachzug der CDU, lassen sich so türkische oder auch andere muslimische Wählerstimmen gewinnen?

Wüst: Es ist auf jeden Fall eine symbolische Aktion, mit der die Union versucht, hier zu zeigen, wir sind grundsätzlich auch für andere Gruppen offen. Dass es durchaus ein riskantes Manöver sein kann, haben die Äußerungen von Frau Özkan zu den Kreuzen in den Klassenzimmern gezeigt. Die CDU ist sicherlich hier thematisch nicht unbedingt die Partei, die gerade für türkeistämmige Wähler und türkeistämmige Bevölkerung der klassische Ansprechpartner ist. Nun haben aber Frau Merkel und auch Herr Schäuble in den letzten Jahren versucht, über Integrationsgipfel, Islamkonferenz hier ganz eindeutig Signale in diese Gruppe auszusenden, und damit versucht man die Partei auch von der Spitze und von einigen Landesgruppen her zu öffnen. Das ist langfristig eine gute Strategie und eigentlich auch alternativlos. Herr Wulff hatte ja selber darauf hingewiesen, dass wir höhere Anteile von Migranten in Zukunft haben werden, dass auch türkeistämmige Ministerinnen und Minister eher die Regel sein werden als die Ausnahme. Also man öffnet die Partei – symbolisch zumindest – langfristig, kurzfristig halte ich diese Aktion für wenig erfolgversprechend, weil natürlich Personalien im Gegensatz steht zu einigen programmatischen Positionen auch der CDU.

Scholl: Ich meine, Sie haben es schon angesprochen, also prompt gab es Krach um die Äußerung von Frau Özkan über die Kruzifixe in Schulen. Und ich meine, der parteiinterne Streit der CDU, der ja doch ziemlich heftig war, zeigt vielleicht auch gerade noch muslimischen Wählern, welche grundsätzlichen Konflikte oder Aversionen gar immer noch da sind. Kann dieser Streit für die CDU, also jetzt bezogen auf die NRW-Wahl, womöglich nach hinten losgehen?

Wüst: Das ist zumindest ein riskantes Manöver. Allerdings – ich sagte es bereits – ist es, glaube ich, alternativlos. Wenn man Volkspartei bleiben will – und das gilt jetzt für CDU, CSU und SPD –, dann muss man schauen, dass man auch in Wählergruppen, die bislang nicht zur Kernklientel gehört haben, die aber wachsen und eine größere Bedeutung gerade auch in den Städten haben – die CDU hat es ja versucht mit Frau von der Leyen und der Änderung in der Familienpolitik, hier berufstätige Frauen auch zu gewinnen, und das ist teilweise ja durchaus erfolgreich gewesen. Ähnliches wird man auch mit den Migranten versuchen müssen. Also es ist alternativlos. Die Frage ist, inwieweit kleinere Gruppen innerhalb der Partei dauerhaft gegen Änderungen auch von Politikpositionen rebellieren werden. Das scheint mir, gerade wenn man zur CSU schaut, ein sehr viel größeres Problem zu sein als bei der CDU in Niedersachsen oder gar in Nordrhein-Westfalen, wo ja durchaus auch schon Herr Laschet einige Akzente gesetzt hat.

Scholl: Entscheidend wird vielleicht auch dann sein, wie weit Migranten sich wirklich ins politische Leben mischen. Es gibt ja noch relativ wenig Migrantenpolitiker. Sie haben schon gesagt, das ist hier sozusagen eine Entwicklung, die jetzt aber ihren Beginn hat.

Wüst: Ja, also wenn wir jetzt mal zurückblicken, 1990 beispielsweise gab es im Bundestag, in den Länderparlamenten und im Europaparlament fünf Abgeordnete mit Migrationshintergrund, die in Deutschland gewählt wurden – im Moment sind es 66. Also der Anteil ist fast linear seit 1990 angestiegen. Wir hatten bisher stark Personen aus der ersten Generation vertreten, das verändert sich. Sukzessive kommen auch Migranten der zweiten Generation und der dritten Generation hinzu. Und auch die konservativen Parteien haben immer mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund. Fairerweise muss man aber sagen, dass das Verhältnis bei den linken Parteien sehr viel vorteilhafter ist und sich dieser Abstand zu den bürgerlichen Parteien auch trotz des allgemeinen Anstiegs gehalten hat.

Scholl: Über die Bedeutung der Migranten als Wähler. Das war Andreas Wüst, Politologe an der Universität Mannheim. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Wüst!

Wüst: Ja, bitte sehr, Herr Scholl!