Folgen der Migrationsdebatte

Immer mehr Menschen denken über Auswanderung nach

Ein hellgrüner Rollkoffer wird über einen Bahnsteig gezogen, an der Wand ein schwarz-rot-goldenes Band.
Jeder vierte Mensch mit Migrationshintergrund hat angesichts des Rechtsrucks in Deutschland schon über das Auswandern nachgedacht. © picture alliance / dpa / Bernd Weißbrod
Der Rechtsruck und das Gefühl, nicht erwünscht zu sein, hat Folgen: Eine wachsende Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich in Deutschland nicht mehr willkommen und überlegt, das Land zu verlassen. Viele von ihnen sind hoch qualifiziert.
Über 30 Prozent für die AfD bei Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen, ein Geheimtreffen zum Thema "Remigration", demokratische Parteien fordern Grenzschließungen und mehr Abschiebungen: Angesichts solcher Nachrichten – allein aus den vergangenen zwölf Monaten – haben immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund das Gefühl, in Deutschland nicht erwünscht zu sein.

Warum überlegen viele Migranten, Deutschland zu verlassen?

Eine kurze Chronik der Ereignisse der letzten Monate verdeutlicht, warum sich Migranten in Deutschland immer unwohler fühlen: Mitte Januar 2024 wurde bekannt, dass es im November 2023 ein Geheimtreffen von Rechtsextremen und rechten Politikern in Potsdam gegeben hat. Wie Recherchen des Mediennetzwerks Correctiv offenlegten, ging es auf diesem Treffen um die Zwangsausweisung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Mit dabei: mehrere AfD-Politiker und einzelne Mitglieder der Werteunion aus dem Umfeld der CDU. Im Mai 2024 ging ein Video viral, in dem junge, offensichtlich wohlhabende Menschen auf Sylt „Ausländer raus“ beim Tanzen sangen.
Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg erreichte die AfD im Herbst 2024 teils über 30 Prozent der Stimmen. Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien Anfang Dezember 2024, äußerte sich der Grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck im Deutschlandfunk in der Abschiebe- und Rückführungsdebatte mit den Worten: „Diejenigen, die hier arbeiten, die können wir gut gebrauchen. Diejenigen, die hier nicht arbeiten, werden – wenn das Land sicher ist – wieder in die Sicherheit zurückkehren können oder auch müssen.“

Ich kann nicht in einer feindlichen Atmosphäre leben, deswegen habe ich Syrien verlassen und ich verlasse Deutschland aus den gleichen Gründen.

Ali, Journalist, 2015 aus Syrien gekommen

Solche Aussagen – besonders von Demokraten links der Mitte – haben direkte Auswirkungen auf Syrer, die in Deutschland leben. Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von Pro Asyl und selbst gebürtiger Syrer, berichtet von einer „großen Panik“ über die Aufteilung von Syrerinnen und Syrern in Deutschland in Arbeitende und Nichtarbeitende. Auch diejenigen mit Arbeit fühlten sich angesprochen: „Es kann immer sein, dass ich meine Arbeitsstelle verliere, dann verliere ich meinen Wert komplett und dann würde ich abgeschoben.“
Nach dem Bruch der Ampelkoalition, dem Attentat in Magdeburg, bei dem ein Arzt aus Saudi-Arabien fünf Menschen getötet und mehr als 200 verletzt hatte und dem Messeranschlag von Aschaffenburg, beim dem ein ausreisepflichtiger Asylbewerber aus Afghanistan zwei Menschen getötet hatte, sind Grenzschließungen und Abschiebungen Dauerthema in Politik und Medien. Im Hinblick auf die Bundestagswahl am 23. Februar positionierte sich jüngst die CDU mit ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich März klar für eine deutliche Verschärfung der Migrationspolitik.  
Unterteilung in "Wir" und "Die"
Migranten fühlen sich besonders von den demokratischen Parteien und der Gesamtgesellschaft im Stich gelassen. Es sei am Ende die sogenannte Mehrheitsgesellschaft – nicht die AfD – die entscheide, wohin sich Deutschland entwickele, sagt die Journalistin und Autorin Gilda Sahebi.
Die Debatten über Silvesterkrawalle, Freibadgewalt oder die Messerattacke von Aschaffenburg verstärkten das Gefühl von Menschen mit Migrationsgeschichte, pauschal abgelehnt zu werden. Sahebi beobachtet in Deutschland eine wachsende allgegenwärtige Unterteilung in „Wir“ und „Die“.

Wie hoch sind die Zahlen und wer ist hauptsächlich betroffen?

Im September 2024 veröffentlicht das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DEZIM eine Studie, in der Migranten nach Abwanderungsgedanken befragt wurden. Titel der Studie: „Ablehnung, Angst und Abwanderungspläne: Die gesellschaftlichen Folgen des Aufstiegs der AfD“. Das Ergebnis: Etwa 9 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund haben konkrete Abwanderungspläne und knapp 25 Prozent haben hypothetische Abwanderungspläne.
Unter Menschen mit Migrationshintergrund aus überwiegend arabischsprachigen Ländern sind die Zahlen besonders hoch: Hier denken bereits 30 Prozent über das Auswandern nach. In den östlichen Bundesländern sind es deutlich mehr. Das DEZIM-Institut arbeitet aktuell an einer neuen Studie zu den Auswirkungen der AfD-Wahlerfolge im vergangenen Herbst. Die Ergebnisse sollen im Frühjahr vorliegen.

Man redet über uns die ganze Zeit, man redet nicht mit uns – also wir sind da und wir existieren! Und wir sind manchmal auch ehrlich gesagt überrascht, weil über wen reden sie überhaupt? Egal wer wir sind, wir sind die Islamisten, die, die nicht integriert sind, die das soziale System ausnutzen, diejenigen, die nicht dazugehören.

Manar, Energieingenieur in Berlin

Welche Konsequenzen hätte eine Massenabwanderung für Deutschland?

Eine Abwanderung im großen Stil wäre für Deutschland ein großes Problem – auch wirtschaftlich gesehen. Denn es sind gerade die gut Ausgebildeten und die Fachkräfte, die sich eine Auswanderung und den damit verbundenen Neuanfang leisten können. Gerd Pickel, Soziologe und Politikwissenschaftler aus Leipzig, befürchtet einen Braindrain, „gerade der Ausgebildeten, der Leute, die die Werkzeuge bedienen können, (…), das trifft ja ganz verschiedene Bereiche.“
In den östlichen Bundesländern sind die Folgen des Fachkräftemangels schon jetzt deutlich zu sehen: 42,1 Prozent der ostdeutschen Unternehmen klagten nach Angaben des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo im ersten Quartal 2024 darüber, dass ihre Geschäfte dadurch beeinträchtigt seien.
Die AfD will das Problem mit inländischen Arbeitskräften lösen, doch die meisten Ökonomen widersprechen solchen Einschätzungen: Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB braucht Deutschland eine Nettozuwanderung von 400.000 Menschen pro Jahr, um sein Erwerbspersonenpotenzial stabil zu halten. Doch Menschen aus dem Ausland für ein Leben in Deutschland zu begeistern, wird zunehmend schwieriger.
Deutschland wird unattraktiver
Der Wirtschaftswissenschaftler Tommy Krieger hat am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim zahlreiche Studien dazu ausgewertet, wie sich politische Faktoren auf die Attraktivität Deutschlands bei internationalen Fachkräften auswirkt. Diese reagierten besonders sensibel darauf, „aufgrund unserer Geschichte.“ So gab es beispielsweise nach den Pegida-Demos in Dresden „einen deutlichen Rückgang der internationalen Studierenden, die nach Dresden gezogen sind.“
Auch im Pflegebereich wird es schwieriger, Menschen für einen Umzug nach Deutschland zu begeistern. Jason Heinen, der mit seiner Agentur Saisy Professionals auf den Philippinen Personal für deutsche Krankenhäuser anwirbt, berichtet von wachsenden Herausforderungen. Früher konnte er auf Vorteile Deutschlands wie das stabile Gesundheitssystem, die Möglichkeit zum Familiennachzug, vor allem aber die Freiheiten einer Demokratie verweisen. Gerade diesen Punkt hinterfragten die Fachkräfte nun zunehmend aufgrund des Rechtsrucks und der "Remigrationsdebatten".

Was kann gegen die wachsende Verunsicherung getan werden?

Wir müssen lauter werden und uns in Diskussionen einmischen, dass wir nicht akzeptieren, wie das politisch gerade läuft.

Mamad Mohamad, Vorsitzender der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen

Menschen mit Migrationshintergrund beklagen, dass sie selbst in der Debatte selten zu Wort kommen, dass sie nur noch als Problem wahrgenommen werden oder als Arbeitskräfte, dass immer weniger Geschichten gelungener Integration erzählt werden. Dabei blickt die Mehrheit der Menschen in Deutschland weiterhin positiv auf die Integration von Migranten.
Das ist das Ergebnis des sogenannten Integrationsbarometers 2024  des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Immerhin erwarten beispielsweise zwei Drittel der Befragten mit und ohne Migrationsgeschichte, dass sich Geflüchtete langfristig positiv auf die Wirtschaft und Kultur in Deutschland auswirken – trotz leicht gestiegener Skepsis.  
Eter Hachmann, selbst mit georgischem Migrationshintergrund, ist Dezernentin für Soziales, Bildung, Jugend und Senioren in Dessau-Roßlau und arbeitet aktiv gegen die Spaltung der Gesellschaft, mit niederschwelligen Formaten in Form von Begegnungsräumen und offenen Podiumsdiskussionen.

Ich nutze jede Gelegenheit dazu, um Menschen zusammenzubringen.

Eter Hachmann, Dezernentin für Soziales, Bildung, Jugend und Senioren in Dessau-Roßlau

Gegen die Spaltung kämpfen? Jetzt erst recht!
Aufgeben ist für Hachmann keine Option: „Gerade jetzt werde ich kämpfen. Wissen Sie, wie oft ich in den Schulen unterwegs bin, wo junge Mädchen zu mir kommen und sagen, wenn du das geschafft hast, dann schaffe ich das auch? Gerade für diese Kinder mache ich das. Ich mache das auch für meine Kinder. Ich möchte, dass die in einer Welt groß werden, die vielfältig ist.“ Wichtig sei es vor allem, darüber zu sprechen, „was wir gemeinsam erreicht haben.“
Doch für solch eine Arbeit wie die von Eter Hachmann ist viel Mut und Durchhaltevermögen nötig, denn sie wird immer schwieriger, vor allem durch wachsende Anfeindungen. Migrantenorganisationen, die sich proaktiv gegen die immer größer werdende Spaltung der Gesellschaft einsetzen, arbeiten unter prekären Bedingungen. Die meisten von ihnen haben kein Budget für größere Strukturen, ein Großteil der Arbeit erfolgt ehrenamtlich.

Wir brauchen Verbündete, wir brauchen Netzwerke, wir brauchen Solidarität und das hat sozusagen in einer Richtung zusammengetan, dass die Vernetzungen glaube ich, enger geworden sind in den letzten Jahren.

Mamad Mohamad, Vorsitzender der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen

Eter Hachmann, Mamad Mohamad und zahlreiche andere Kämpferinnen und Kämpfer gegen den Rechtsruck sind sich einig: Nur wenn die Mehrheit in Deutschland nicht mehr schweigt, sondern sich laut gegen die Spaltung der Gesellschaft in „Wir“ und „Die“ ausspricht, wird sich die aktuelle Entwicklung aufhalten lassen.

pj
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